|
Historia interculturalis |
|
« Fenêtre » Takashi
Naraha Clermont-Ferrand |
Thema: Fremde Nachbarn...? |
|
|
Last update: 16.10.2005 |
|
Frankreich |
|
|
Polen |
|
|
Übersicht |
|
|
|
|
|
|
Das Frankreichbild im Dritten Reich von
Wolfgang Geiger Vortrag
an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main 18.5.2000. Zusammenfassung
wesentlicher Thesen der französischen Dissertation von 1996. |
|
Zwischen Gott und Teufel. Das Frankreichbild deutscher Schriftsteller
im französischen Exil von
Thomas Lange Vortrag an der Universität Heidelberg 1992,
veröffentlicht 1994. |
|
|
Erlebte Geschichte. Ein Entwicklungsbericht über (fast) 20
Jahre deutsch-polnische Jugendbegegnungen Wiesława
Kicińska, unter Mitarbeit von Thomas Lange |
|
|
|
|
|
© 2000 by the
author. Der Vortrag kann auch als Word-Datei geöffnet und
gespeichert werden ÖDownload [1] An der systematischen Aufarbeitung der Fachgeschichte der Romanistik im Dritten Reich ist v.a. Frank-Rutger Hausmann federführend beteiligt, siehe bibliographischen Anhang. |
Wolfgang Geiger |
|
Die Beschäftigung mit
deutsch-französischen Stereotypen ist schon sehr alt, sie ist eigentlich so
alt wie die Stereotypen selbst oder jedenfalls so alt wie jene, die von
gebildeten und sogar gelehrten Köpfen beiderseits des Rheins geschaffen oder
gepflegt wurden. Das Bild vom jeweiligen Nachbarn und von sich selbst im
System einer antinomischen Gegenüberstellung, wie
es Hans Manfred Bock benennt, wurde wesentlich mit geprägt durch das
scheinbar verzerrte Bild, das der Nachbar von einem selbst hatte, und so ist
die deutsch-französische Stereotypenbildung natürlich ein wechselseitiger
dialektischer Prozess, der die jeweilige Identität in der Abgrenzung vom
anderen suchte und das »Positive« in dem, was der Gegner als »negativ« ansah.
Die
wissenschaftlich-kritische Aufarbeitung jener Stereotypenbildung, die der Komparatist
Hugo Dyserinck seit mehr als 20 Jahren unter dem
Begriff Imagologie zu einer
interdisziplinären Forschungsrichtung ausgebaut hat, setzt also erst mit der
Kritik am eigenen Bild vom anderen ein und begann wohl in Frankreich, v.a. in
der französischen Germanistik, mit dem Ziel, die Perpetuierung des
Feindbildes in der Siegerpose nach 1945 aufzubrechen, die entstehende
deutsch-französische Freundschaft kulturwissenschaftlich zu begleiten und
eben auch Selbstkritik an der politischen Rolle der französischen
Germanistik in der Vergangenheit zu üben. In diesem deutsch-französischen
Klärungsprozess haben auch deutsche Romanisten und Historiker seit langem an
der Aufarbeitung der Deutschland/Frankreich-Bilder mitgewirkt, jedoch lange
auch unter weitgehender Aussparung des düstersten Kapitels der eigenen
Fachgeschichte. [1] |
Vortrag an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am
Main, Institut für Romanische Sprachen und Literaturen, 18.5.2000. Es handelt sich um eine Zusammenfassung
meiner französischen Dissertation von 1996, die digital bei Humanities Online erschienen ist, mehr dazu Öhier. Eine gekürzte Fassuzng erschien als Buch bei Presses Universitaires de Rennes, Öhier. |
|
|
Die
deutsch-französischen Kolloquien und wissenschaftlichen Begegnungen aller Art
zum Thema deutsch-französische Beziehungen sind schon beinahe zu einem
zwanghaften Ritual geworden, die Liste der erschienenen Titel ist stattlich,
doch thematisch seltsam ungleichgewichtig verteilt: Die Epoche des Dritten
Reiches und v.a. die Kriegszeit ist weitgehend eine terra
incognita der imagologischen Forschung
geblieben, jedenfalls von deutscher Seite, wo sonst fast alle Epochen und
allen voran die der Weimarer Republik, wenn auch noch lange nicht
erschöpfend, so doch gut erforscht sind. Dies ist in doppelter Hinsicht
paradox: Denn zum einen gab es weder vorher noch nachher ein Jahrzehnt, in
dem auch nur annähernd so viele Bücher über Frankreich erschienen sind wie
nach 1933 – weit über 200 Titel, selbst wenn man die Kriegsberichte beiseite lässt –, und zum anderen ist von französischer
Seite und aus französischer Perspektive her keine Epoche der
deutsch-französischen »Begegnung« – wenn man das so nennen kann – besser
erforscht als die Zeit der Okkupation und Kollaboration, aber eben nur von
der französischen Seite her. Die deutsche Forschung hat sich erst seit
einigen Jahren und insgesamt noch recht zögerlich der Aufarbeitung der
kulturellen Dimension der deutschen Besatzung Frankreichs angenommen. |
Siehe auch bibliographischen
Anhang. Der vorliegende Text ist auch
als pdf-Download
verfügbar. |
|
Als ich
meine eigene Arbeit zu diesem Thema in Angriff nahm, vor etwa zehn Jahren,
gab es, soweit ich dies eruieren konnte, keine einzige über isolierte Detailfragen
hinausgehende Untersuchung über das Frankreichbild im Dritten Reich und schon
gar nichts diesbezüglich über Krieg, Besatzung und Kollaboration. Es gab wohl
Publikationen zum politischen Aspekt im strengen Sinne und in diesem Rahmen
auch Untersuchungen über führende Akteure wie den deutschen Botschafter Otto Abetz und seinen Kulturbeauftragten Karl Epting, doch waren diese Analysen quasi funktionalistisch
auf das Wirken dieser Persönlichkeiten reduziert, niemand schien sich bislang
zu fragen, was sie, und mit ihnen Hunderte, wenn nicht Tausende von weiteren
Akteuren und Autoren, Deutschlektoren an französischen Universitäten,
Journalisten, Romanisten, Historikern und anderen Akademikern, ja und auch
Soldaten, eigentlich über Frankreich dachten und schrieben. |
|
|
Hans
Manfred Bock überspringt faktisch die Epoche des Drittens Reiches in seinem
Überblick über »Tradition und Topik des populären Frankreich-Klischees in
Deutschland von 1925 bis 1955«, und vielleicht liegt ja in der von ihm
getroffenen Feststellung, dass sich bisher niemand dieser »qualvollen
Aufgabe« einer Analyse der »nationalsozialistischen Frankreichliteratur«
stellte, auch die Erklärung für seine eigene diesbezügliche Zurückhaltung. Zu
Unrecht geht er wohl von einer Gleichschaltung der Literatur aus, die deren
Analyse uninteressant mache – mit einer Ausnahme, nämlich einem Autor namens
Paul Distelbarth, der aus dem Rahmen fiel, und dem sich Bock deswegen seit
Jahren in mehreren Publikationen besonders angenommen hat. |
|
|
In
Wirklichkeit konnten jedoch innerhalb relativ weit gezogener Grenzen durchaus
unterschiedliche, ja sogar konträre Einschätzungen über Frankreich und die
Franzosen erscheinen, und dabei sogar konträr gerade in politischer Hinsicht:
für die Vorkriegszeit Verurteilungen oder Belobigungen der Volksfront zum
Beispiel oder später diametral entgegengesetzte Auffassungen vom Anteil
Frankreichs an der »Kriegsschuld« 1939 – wobei die meisten Autoren der Formel
des »englischen Krieges« anhingen, in den sich Frankreich habe hineinziehen
lassen. Der von Hans Manfred Bock eingehend biographisch untersuchte Fall des
Außenseiters Paul Distelbarth, nach Friedrich Sieburg
der wichtigste »Frankreichexperte« jener Zeit (nach dem Kriterium der Auflage
seiner Bücher), zeigt gerade, dass die Zensur nicht bei dem von ihm
vermittelten Frankreichbild intervenierte, sondern nur bei dem, was im
seinem Buch über Deutschland ausgesagt wurde. Natürlich gab es auch
eine »nationalsozialistische Frankreichliteratur« im engeren Sinne, hier sind
v.a. die sogenannten »rassenkundlichen
Untersuchungen« zu nennen, von denen ich hier nur die beiden im
bibliographischen Anhang genannten Werke von Bernhard Pier und Ewald Mangold
erwähnen möchte. Wer jedoch meint, in diesen Publikationen ginge es vorwiegend
um die »Judenfrage« oder um die Präsenz von Afrikanern in der französischen
Armee – ein in der Tat beliebtes Thema seit dem 1. Weltkrieg –, der täuscht
sich, diese Themen sind in jenen Abhandlungen fast schon nebensächlich
gegenüber dem schon seit dem 19. Jahrhundert von französischen und deutschen
Rassentheoretikern als viel gravierender gewerteten Vorgang der »Wandlung des
französischen Volkes zur Rundköpfigkeit« (Mangold)
...! |
|
[2] Die politische
Argumentation legitimiert den Krieg im Wesentlichen im politischen Kontext
der damaligen Zeit als Revanche für den 1. Weltkrieg und Revision von
Versailles; die historische Argumentation reiht den neuen Konflikt in
die Geschichte des deutsch-französischen Gegensatzes (»Erbfeindschaft«) seit
dem 17. Jahrhundert oder sogar seit der Teilung des Frankenreiches ein; die ideologische
Argumentation sieht den erneuten Krieg als weltanschaulichen Konflikt
zwischen Faschismus und Demokratie mit dem Ziel der weltgeschichtlichen
Revision der Revolution von 1789 und ihrer Werte. |
Solche
»rassenkundlichen« Werke oder auch rein
ideologisch-propagandistische Schriften stellen jedoch eine Minderheit im
Corpus der erschienenen Publikationen dar, nicht nur für die Phase bis
1938/39, als die offizielle Außenpolitik bewusst einen Kurs des Arrangements
mit Frankreich suchte oder dies zumindest vorgab, sondern selbst noch für die
Kriegszeit 1939/40: teilt man die Lawine der als Kriegspropaganda erschienenen
Schriften nach dem jeweiligen Paradigma der Argumentation in drei Gruppen
ein: primär politisch, historisch oder ideologisch
argumentierende Titel, so sind auch hier die letztgenannten zwar zahlenmäßig
stark vertreten, aber keineswegs die Mehrheit aller Publikationen. [2] Freilich
diente auch der »nur« politisch oder historisch argumentierende Nationalismus
der Politik Hitlers, dem Krieg und im Weiteren auch den offenen oder geheimen
Zielen der nationalsozialistischen Politik, auch im Hinblick auf eine
zukünftige Revision der Grenze mit Frankreich, wie Karen Schönwälder
dargelegt hat. Doch auch nach dem Waffenstillstand 1940 standen noch konträre
Bewertungen des besiegten Frankreichs bzw. des Vichy-Regimes neben- und
gegeneinander, sowie höchst unterschiedliche Auffassungen von Sinn und
Möglichkeit der Kollaboration vor dem gemeinsamen Hintergrund der Genugtuung
darüber, dass Deutschland nun den Ton in Europa angab. Also:
natürlich kein Pluralismus im Sinne eines freien Meinungsaustausches, aber
auch keine monolithisch gleichgeschaltete Literatur über Frankreich. |
|
|
Der
Sonderfall des Vermittlers Paul Distelbarth, der nach eigenen Angaben 1933
ins Exil nach Frankreich ging, dort bei den Kriegsveteranenverbänden für
Frieden und Aussöhnung warb, in Deutschland anfänglich nicht ohne
Schwierigkeiten, aber dann in mehreren Auflagen sein Buch Lebendiges
Frankreich veröffentlichen konnte, verdiente hier eine ausführlichere
Erörterung, als im vorliegenden Rahmen möglich ist. Ähnlich wie Sieburgs Buch, auf das ich gleich eingehen werde, weist
auch die französische Ausgabe von Distelbarths Werk – France vivante – einschneidende Veränderungen gegenüber dem
deutschen Original auf: an die Adresse des französischen Lesers wirbt
Distelbarth mehrfach und eindeutig für das »neue Deutschland«, die »nationale
Revolution« von 1933 und das nationalsozialistische Regime, dessen
»Schreckensherrschaft« er durch einen geschickten Vergleich mit der französischen
Revolution rechtfertigt, indem er von den Franzosen, denen er begegnet ist,
erzählt: »Ils disent: Nous aussi,
nous avons connu la Terreur.« |
|
|
Wer
sich mit dem Frankreichbild im Dritten Reich befasst, muss freilich mit Friedrich
Sieburg beginnen. Als einzigem galten ihm und
seiner Frankreichdarstellung bislang fundiertere
Untersuchungen. Obwohl bereits 1929 erschienen, prägte kein anderes Buch so
sehr das Frankreichbild der Deutschen auch nach 1933 wie Gott in
Frankreich? Kurz vor dem zweibändigen Werk von Ernst Robert Curtius und
Arnold Bergsträsser erschienen, das als letztes
großes Werk der universitären Frankreichkunde gelten kann, brach Sieburg einer popularisierenden, politisch
intentionierten und journalistisch geschriebenen Frankreichdarstellung
die Bahn, auf die unzählige weitere Bücher dieser Art folgen sollten, die
jedoch, soweit ich dies überprüfen konnte, allesamt schlechter sind als Sieburgs Buch, das man übrigens durch ein zweites von
ihm, weit weniger bekannt aber politisch weit kompromittierender für ihn,
ergänzen muss, nämlich Es werde Deutschland . |
|
|
Gott in
Frankreich? ist auch heute noch für jeden, der
sich mit Frankreich und dem deutschen Frankreichbild befasst, ein unhintergehbares Paradigma journalistischer Präsentation
des Nachbarlandes. Fast möchte man sagen: Ohne Friedrich Sieburg
kein Ulrich Wickert... In Deutschland etablierte sich eine bis heute
anhaltende Hegemonie des Journalismus in der Frankreichdarstellung, ganz im
Gegensatz zu Frankreich, wo nahezu alle Bücher über Deutschland – und seit
1989 gab es davon wieder eine regelrechte Lawine – von Akademikern
geschrieben werden: Germanisten, Historikern, Politologen. |
|
|
Während
die universitäre Frankreichkunde bis zuletzt, d.h. bis zu Curtius, sich
vorwiegend auf schriftliche Quellen stützte, und darunter meist auf
literarische, um Züge des vermeintlichen französischen Nationalcharakters
aufzuspüren und zu erklären und dabei zwar nicht ideologiefrei, aber doch den
Grundsätzen der Philologie verhaftet blieb, konnte Sieburg
als Auslandskorrespondent der Frankfurter Zeitung in Paris Aktualität und
Alltag der Franzosen präsentieren und dabei fatalerweise – dies gilt freilich
für den Journalismus generell – von einer Authenzität
der Beobachtung profitierten, die per se keinerlei Garantie für
Wahrheit verbürgt, aber gleichwohl mit dieser gleichgesetzt wurde – und wird!
Während die Interpretation des Philologen immer der Kritik ausgesetzt bleibt,
ist die vermeintliche Zeugenschaft des Journalisten vor Ort unantastbar. Wie
könnte man seine Darstellung, sein Urteil widerlegen? Die beinahe »magische«
Kraft, die Sieburgs Buch ausstrahlte, entsprang der
Verbindung zwischen seiner in der Tat bemerkenswerten Beobachtungsgabe und
seinem unübertroffenen literarisch-journalistischen Stil. So bleiben denn dem
Leser auch v.a. die literarischen, mit feiner Ironie gewürzten Skizzen über
den französischen Alltag im Gedächtnis, während Sieburgs
Anliegen doch im Grunde ein politisches war. Beides ist freilich subtil
miteinander verwoben. Ein Auszug aus dem Abschnitt »Ein Volk in Waffen« mag
dies illustrieren: |
|
|
»Am
letzten Sonntag wurde in Frankreich die Jagd eröffnet, was zu einer
Massenerhebung des Volkes führte. Die kleineren Beamten der Ministerien, die
Inhaber von Tabakbüros, die Nutznießer bescheidener Jahresrenten, sie alle
rüsteten sich mit Ledergamaschen aus, hingen sich netzartige Jagdtaschen mit
langen Fransen um, schnallten braune Patronengurte an, drückten sich einen
verwegenen Filz auf den Kopf und griffen zur Büchse. Was ein Jäger ist, hat
man bei uns schon lange vergessen, in Frankreich weiß man es noch, denn jeder
ist ein Jäger oder besser ein Jägersmann mit einem Schießgewehr das Piffpaff macht und mit Pulver und Blei geladen wird. Von Beauvais bis Mantes, von Etampes bis Meaux ging heißa
das fröhliche Jagen, und die Ränder der großen asphaltierten Landstraßen, die
zum Entzücken der Autofahrer kreuz und quer das Land durchschneiden, waren
eingesäumt von einem Volk in Waffen, in Schrotwaffen allerdings. [...] |
|
|
Die
Bewaffnung des Pariser Volkes zur Eröffnung der Jagd war eine Friedenskundgebung ersten Ranges. Man sah Vater und
Mutter durch den nassen Acker schreiten, sie mit der Jagdtasche, aus der eine
halbvolle Rotweinflasche hervorlugte, er mit dem
Schießgewehr, das seinen kleinen, wie zum Flöten gespitzten Mund abwärts
streckte. [...]Dieses Volk in Waffen hat etwas Liebenswertes, wenn es den
Jägersmann spielt mit Piffpaff und Pulver und Blei.
Dieser gänzliche Mangel an Strammheit, dies neidlose Verweilen vor dem
Kaninchen des anderen, dieses beschauliche Schlendern durch herbstliche
Gefilde ist so friedlich und nur von dem Wunsche beseelt, in Ruhe gelassen zu
werden. Mit
ihnen ist es wie mit den Anglern an Marne und Seine. Da stehen sie nun in
langen Reihen und halten ihre Schnur ins Wasser [...], und sie stehen Mann
neben Mann mit friedlich hängenden Hosenböden, mit ihren Blecheimerchen, mit
ihren Rotweinflaschen und nehmen alle drei Stunden einen fingerlangen Fisch
behutsam vom Haken. O rühre, rühre nicht daran. Ein
Volk in Waffen? Ja, Sonntags!« |
|
[3] Dank an Prof. Raimund Rütten, in der Diskussion daran
erinnert zu haben. |
Die hier
anklingende politische Anspielung – nämlich die Ironisierung des »Geistes von
Valmy«, der revolutionären Volksarmee [3] – führt uns unmittelbar zum
eigentlichen, politischen Kern des Buches und im weiteren Sinne des
Frankreichbildes der ausgehenden Weimarer Republik, das auch für das Dritte
Reich bestimmend blieb. Sieburg macht sich über das
von deutscher Seite als Wahn empfundene Sicherheitsbedürfnis Frankreichs
lustig, sich mit allen Mitteln gegen eine deutsche Revanche und eine Revision
der internationalen status quo zu schützen, hinter
seiner Maginotlinie und mittels eines Systems
internationaler Bündnisse und Deutschland aufgezwungener Fesseln – Stichwort:
»Versailler Diktat« –, die Hitler schließlich eine nach der anderen sprengen
sollte. Sieburg und alle Autoren nach ihm sahen
darin eine Camouflage eigentlicher Schwäche, der Schwäche einer überalterten
Zivilisation gegenüber einem vitalen, erstarkenden, jungen Deutschland. Sieburg prägte die Formel vom »statischen Frankreich« und
»dynamischen Deutschland«, philosophisch zur Gegenüberstellung zwischen
»Sein« und »Werden« überhöht, auch wenn er dies nicht wirklich erfand,
sondern dabei wohl weit zurückgriff, nämlich auf Fichtes Darstellung des
Gegensatzes zwischen romanisch-französischem und germanisch-deutschem Wesen
in seinen Reden an die deutsche Nation 1808 an der Berliner
Universität. |
|
|
Das
statische Frankreich versperrte sich laut Sieburg
jeder Entwicklung Europas, es war überhaupt antieuropäisch weil egoistisch
und nationalistisch, es wehrte sich gegen jede Veränderung, wollte Ruhe, also
den status quo, um jeden Preis und war deswegen
bereit, gegen jede Ruhestörung auch militärisch vorzugehen – oder vielmehr
drohte es damit, denn in Wirklichkeit war die Mentalität des
Durchschnittsfranzosen eigentlich gar nicht mehr bereit, selbst bei Gefahr
zur Waffe zu greifen. Dies von Sieburg erstmals
kohärent dargelegte politische Bild war oder wurde Konsens in Deutschland. In
seinen spätereren Büchern verstärkte dies Sieburg nur noch, unter zunehmender Entfremdung von der
sich verändernden politischen Realität in Frankreich, als er 1935 im Vorwort
zur Neuausgabe – der sog. »Volksausgabe« – von Gott in Frankreich noch
meinte, im kleinbürgerlichen Frankreich könne niemals die Linke an die Macht
kommen, oder als er 1938 in Blick durchs Fenster Frankreich als ein
von der politischen Bühne abgetretenes Land präsentierte. |
|
|
Deutschland
jedoch gehörte die Zukunft und mithin die Führerrolle in einem Europa der
erwachenden Völker. Dies führte Sieburg dann v.a.
in Es werde Deutschland aus, ein Buch, das die Redaktionskollegen der
liberalen Frankfurter Zeitung schockierte (cf. v. Buddenbrock),
doch ist dies bereits im letzten Kapitel von Gott in Frankreich?
angelegt, das bezeichnenderweise mit »Frankreich als Widerstand«
überschrieben ist. Widerstand gegen eine Frankreich zuwiderlaufende, außer
Kontrolle geratene Entwicklung sei die letzte, verzweifelte Form des
französischen Nationalismus, der sich zuvor offensiv seit Jeanne d’Arc in immer wieder wandelnder Form Europa und der Welt
zuerst religiös, dann in humanistischer Verkleidung, als Menschenrechte, als
Zivilisation aufgedrängt und aufgezwungen habe. »Begreifen, daß die Marseillaise die Gebete Johannas fortsetzt, heißt
Frankreich begreifen« – einer von vielen Mark- und Merksätzen in Sieburgs Buch. Doch Johanna hatte ja ihrerseits an die
Kreuzzugsmentalität angeknüpft, die den Franzosen innezuwohnen scheint:
»Jeder Franzose ist der geborene Kreuzfahrer, und diese Eigenschaft macht ihn
heute manchmal zu einem ziemlich unbequemen Mitbürger Europas« – eine weitere
jener apodiktischen Konklusionen Sieburgs, die oft
nicht am Ende, sondern am Anfang eines Kapitels stehen und das Buch zum
politischen Manifest machen, als das Sieburg es
verstand, und dem sich alle anekdotischen und impressionistischen und
ansonsten auch historisch oft zutreffenden Darstellungen einfügen.
Frankreichs Nationalismus ist ein religiöser Nationalismus, so die zentrale
These des Buches, der sich von den Gesta Dei per Francos des Mönches Guibert
de Nogent als Rechtfertigung der Kreuzzüge über
Jeanne d’Arc, den Absolutismus und das Jakobinertum
bis ins 20. Jahrhundert zieht, wobei die Menschenrechtsidee von 1789 nur als
die säkulare Variante des religiösen Missionsgedankens erscheint. Diese
Kritik erschien übrigens in der französischen Ausgabe Dieu
est-il français? nur
stark gekürzt, wodurch die eigentlich politische Intention des Autors kaum
zur Geltung kam. |
|
|
Woher
kam aber nun die Erschlaffung Frankreichs? Für Sieburg,
der auch hier ein Paradigma setzte, aus der Unfähigkeit, mit der
wirtschaftlichen und damit auch der allgemein gesellschaftlichen Entwicklung
Schritt zu halten. 1938 resümierte dies ein anderer Autor, Johannes Stoye, so: »Französischer Geist und kapitalistische
Wirtschaft sind unversöhnliche Gegensätze« und ergänzte dies durch die Formel
von Bernhard Laum: »Der Franzose ist ein wägender, niemals aber ein wagender
Kapitalist.« Es fehle den Franzosen, mit Max Weber gesprochen, an der
protestantischen Ethik, die sich, mit Sieburg
gesprochen, in Deutschland zum Soldatischen hin verdichtet habe. »Arbeit
adelt nicht« in Frankreich, so eine Kapitelüberschrift bei Sieburg, der Franzose sieht in der Arbeit keine Seinserfüllung, ebensowenig wie
in der Pflicht für die Gemeinschaft, er ist Individualist und strebt nach
Muße. Ein anderer Autor, Valentin Schuster, formulierte es 1936 so: »Für den
Franzosen ist das Leben Genuß, für den Deutschen
Kampf. Sinn des Lebens auf der einen Seite: sorgloses Genießen; Opfer bringen
auf der anderen.« Deswegen widersprächen sich auch offizielles Säbelrasseln
der französischen Regierung und der tief verwurzelte Pazifismus des
Durchschnittsfranzosen. Im Begriff der Opferbereitschaft, der Selbstaufgabe
zugunsten der Gemeinschaft, kommen auch bei Sieburg
Arbeit und Militarismus zusammen: |
|
|
»Der
unauslöschliche Haß, den der Franzose dem
sogenannten deutschen Militarismus entgegenbringt, muß
von diesem Punkte aus erklärt werden. Er deutet die Disziplin, die er am
Deutschen beobachtet, als Sklavengesinnung, und nur in trüben Stunden, wenn
er seiner holden Schlamperei überdrüssig ist, versteht er sie als eine
positive Eigenschaft, die einem Lande, dessen einzigen Reichtum die
Arbeitskraft, die Energie bildet, notwendig ist. [...] Militarismus ist für
ihn eine Lust, sich unterzuordnen, sich des eigenen Wesens zu entäußern, den
eigenen Rhythmus zugunsten des Marschtaktes preiszugeben und sich in eine
möglichst exakte Maschine als namensloser Bestandteil einzufügen. Niemals
kann er fassen, daß ein freier Mann Lust hat, sich
mit Millionen in eine Einheitsfrisur zu teilen, deren saubere Geschorenheit, deren vernunftwidriger Scheitel [...]
beschämende Erinnerung an Freigelassene hervorruft. [...]. |
|
|
Der
Sinn des französischen Lebens ist um so leichter
erkennbar, als er auf allen seinen Gebieten an die Oberfläche tritt. Keine
Uniform, kein Abendkleid, sei es die Bluse des Arbeiters, sei es der Talar
des Advokaten, vermag diesen Sinn zu überdecken. Aus allen Löchern und Falten
schaut die Persönlichkeit hervor. Ein Pariser Briefträger an einem Sommertage
bietet einen wahren Anschauungsunterricht. Die Art, wie er die Uniform
aufgeknöpft, die Mütze in den Nacken geschoben hat und die Hose über das
höchst eigenwillige Schuhzeug hängen läßt, verrät
den Stolz eines Menschen, der sich keinen Augenblick als einen von
zehntausend Beamten fühlt, sondern sich immer seines unangreifbaren
Privatlebens bewußt bleibt. Die Uniform hat es in
Frankreich nicht weiter gebracht, als daß sie, wenn
sie freiwillig getragen wird, zur Spielerei dient und eine Art von
sonntäglicher Verkleidung hergibt, wie z.B. bei den Feuerwehrleuten der
kleinen Städte und Dörfer, wo Männchen mit blinkenden Helmen auf ausgezogener
Leiter in den rosa Abendhimmel steigen.« |
|
|
Unser
Dilemma ist, dass wir solche Klischees nicht im Hinblick auf eine Wahrheit
hin auflösen können, die einfach verfälscht worden wäre. Die Kunst der
Stereotypen ist es ja, durch Übersteigerung, Generalisierung und schematische
Gegenüberstellung ein Stück Wirklichkeit so zu verformen, dass daraus etwas
anderes wird, ohne dass man eine genaue Grenze zwischen wahr und unwahr
ziehen könnte. An dem letztgenannten Beispiel, das Sieburg
in Es werde Deutschland noch bis zur Groteske weiterführt, wird
deutlich, wie sich Fremd- und Eigenstereotypen und damit auch in der
Konsequenz beide Nationalismen wechselseitig bestätigten: Beide Seiten sind
sich ja darüber einig, dass die Deutschen militaristisch seien und die
Franzosen nicht, lediglich die Bewertung des Militarismus – positiv oder
negativ – differiert zunächst und damit verbunden auch seine Erklärung. Am
einfachsten läßt sich die Frage nach der Wahrheit
am Beispiel des Klischees von Frankreich als einem »Land von Bauern,
Handwerkern und Kleinbürgern«, wie es Johannes Stoye
formulierte, beantworten. Wir haben hier den seltenen Fall, dass es dabei
auch um verifizierbare sozioökonomische Fakten geht. Der Industrialisierungsvorsprung,
den Deutschland ohne Zweifel hatte, sowie die daraus folgende Umwälzung der
Mentalitäten, eine größere Proletarisierung in Deutschland, hat die
Entstehung des Mythos vom bäuerlich-kleinbürgerlichen Frankreich unterstützt,
das allenfalls in Teilbereichen der Wirtschaft, v.a. im Rüstungsbereich,
industrialisiert sei. Die Frage nun, ob diese angeblich halbindustrielle
Wirtschaftsstruktur die kleinbürgerliche Mentalität der Franzosen zementiere
oder umgekehrt sich diese Mentalität einer Industrialisierung verweigere,
sich also auf der einen Seite gegen eine Proletarisierung und auf der einen
Seite gegen eine kapitalistische Unternehmerethik sperre, wird von den
Autoren meistens im Sinne des völkischen Ideologie beantwortet – die
Wirtschaftsstruktur wird also aus der Mentalität abgeleitet –, einige aber
ringen sich immerhin zur Analyse einer dialektischen Wechselwirkung durch.
Als einziger unter allen von mir untersuchten Autoren liefert Paul
Distelbarth eine wahre Hymne auf das bäuerliche Frankreich: Es ist ein
bäuerliches Idyll, in dem es sich aufgrund des agrarischen Überflusses und
des milden Klimas nicht nur gut leben lässt (hier wird expressis verbis der
alte Mythos der douce France aktualisiert),
sondern das v.a. auch aufgrund dieser Dispositionen keinerlei militärische
Bedrohung für Deutschland darstelle. Distelbarths Frankophilie, die man ihm
bei aller Kritik zusprechen muss, hat ihn dennoch nicht davon abgehalten,
gelegentlich auch Kritik an dieser Zurückgebliebenheit auszudrücken, z.B.
wenn er auf die Frage der Arbeitslosigkeit zu sprechen kommt: |
|
|
»Sie
könnte gelöst werden, wenn die Franzosen sich entschlössen, anstatt immer
weiter mit eiserner Konsequenz Ersparnisse zu machen, im Gegenteil das Geld
aus den Strümpfen hervorzuholen und auszugeben. Es würde sogar genügen, nach
und nach alle ausländischen Arbeiter abzuschieben, die zahlreicher sind als
die Arbeitslosen.« In ganz
besonderem Maße hebt Distelbarth hervor, dass es eigentlich gar keine französische
Arbeiterklasse gebe, da alle Arbeiter Immigranten seien. Natürlich ist dies
blanker Unsinn. Unbeschadet der nicht unbeträchtlichen italienischen und
polnischen Arbeitsimmigration konnte damals ein Drittel der französischen
Bevölkerung zum Industrieproletariat gerechnet werden, das war zwar weniger
als in Deutschland, aber weit mehr als das, was all jene deutschen
Frankreichexperten der damaligen Zeit auch nur annähernd zuzugeben bereit
waren. In der Darstellung des ländlichen Frankreichs wurde im Übrigen auch
ein Gutteil französischer Mythen übernommen, schon bei Arnold Bergsträsser in seinem bereits angesprochenen
Gemeinschaftswerk mit Ernst Robert Curtius 1930: Wie in den meisten
Gesamtdarstellungen dieser Art wurde darin die Macht der Tradition in
Frankreich einerseits kritisiert, andererseits bewundert, der französische
Zentralismus gegeißelt, dessen Sicht aber im Blick auf die französische
Provinz übernommen, die halb mitleidig als zurückgeblieben, halb begeistert
als romantische Idylle dargestellt wird: |
|
|
»Im
Leben der Provinz wird die Macht der Tradition am deutlichsten sichtbar. Nur
wenig von dem modernen Betrieb des Fremdenverkehrs belebt, ist sie noch
ebenso langweilig, anmutig und still, wie sie am Ende des 18. Jahrhunderts
Thümmel auf seinen Reisen gesehen hat [...]. Kein vorwärtsstürmender, gläubig
an den wirtschaftlichen Fortschritt sich hingebender Wahn hat hier Menschen
und Landschaft umgeprägt, wie es in den Ländern geschehen ist, die die
eigentlichen Träger der hochkapitalistischen Entwicklung sind.« |
|
|
Eine
Sicht der Dinge, die eben nur bedingt der Realität, aber sowohl gewissen
französischen wie auch deutschen Klischees entsprach und worin sich einmal
mehr die dialektische Bestätigung von Eigen- und Fremdstereotypen unter dem
Paradigma der antinomischen Gegenüberstellung
zeigt. Die Kritik an der Zurückgebliebenheit der französischen Provinz
steigerte der Journalist Karl Korn, der Anfang der 30er Jahre Deutschlektor
in Toulouse gewesen war, 1940 in Goebbels’ »Renommierzeitung« Das Reich
zur regelrechten Hasstirade: in dieser zurückgebliebenen Provinz erkannte er
das eigentliche politische Herz des sich aller Entwicklung – und v.a. einer
bestimmten Entwicklung – verweigernden Frankreich: |
|
|
»Dawider spricht nicht die Tatsache, daß
Paris die Hochburg des sogenannten Antifaschismus war und als solche gelten
wollte. Was in Paris bewußte Ablehnung war, ist in
der französischen Provinz glattes Unvermögen des Verstehens. Das konservative
Frankreich hat nicht bloß die Revolutionen der jüngsten Zeit nicht
verstanden, sondern auch das ganze Jahrhundert noch nicht erlebt.
Französische Provinz ist im weitesten Maße neunzehntes Jahrhundert. [...] Die
Provinz insgesamt ist alt und greisenhaft wie ihre starre Weisheit. Sie hemmt
das Neue und Junge. [...] War es nicht einer der ungeheuerlichsten
Widersprüche, daß das zu asiatischer Starre und
Unbeweglichkeit erstarrte Frankreich Europa unter das Strukturgesetz seiner
erstarrten Provinz zwingen wollte?« |
|
|
In derselben
Zeitung hatte Werner Stephan im Juni 1940 kurz und bündig folgende Bilanz des
deutschen Sieges gezogen: »Das
französische Volk – das ist die einfache Erklärung für das erstaunliche
Phänomen dieses ›Debacles‹ – war physisch,
psychisch und moralisch nicht imstande, mit dem deutschen Volk die Waffen zu
kreuzen.« |
|
|
Auch
Paul Distelbarth, in dem Hans Manfred Bock und Michael Nerlich nur einen
aufrichtig um Frieden und Verständigung bemühten Vermittler sehen wollen, schloss
sich diesem Tenor an und schrieb in der textlich vollkommen umgearbeiteten
Neuausgabe von 1942 seines französischen Buches (La Personne
France), also an die Franzosen gewandt: « Les Français, somme toute, vivaient heureux dans
leur enclos. Ils étaient tout naïvement persuadés que Paris était le nombril
de la planète; ce qui se passait au delà des murs du clos ne les intéressait
guère. Tout cela était ‘là-bas’: dans cette désignation un peu dédaigneuse
ils confondaient tous les peuples européens sans égard au rang qu’ils
occupaient dans la hiérarchie des peuples; car il y a une hiérarchie, et
quiconque ne veut pas la voir se trompe. » |
|
|
Es gibt
also eine »Hierarchie der Völker«... an den Franzosen war es nun, aus dieser
bitteren Erkenntnis das Beste zu machen – durch die Kollaboration mit
Deutschland, die, so nicht nur Distelbarth, den Krieg hätte verhindern
können, wäre sie rechtzeitig realisiert worden. Ein
seltsamer Widerspruch durchzieht jedoch die Kriegsberichte der allermeisten
Autoren: ihre Darstellungen des Krieges wollen so gar nicht zu dessen
ideologischer Überhöhung passen. Anders als im 1. Weltkrieg bedeutete dieser
Frankreichfeldzug kein »Stahlgewitter« für Ernst Jünger, diesmal galt auch
für ihn, was eigentlich, wie er schrieb, für jeden »Feldzug in Frankreich zur
Überlieferung« gehöre, aber offenbar ganz besonders diesmal zur Geltung kam.
Am 25. Mai 1940 notierte er in seinem Tagebuch die berühmt gewordene Passage:
|
|
|
Ȇberhaupt
ist die Vormarschstraße von Sekt-, Bordeaux- und Burgunderflaschen gesäumt.
Ich zählte wenigstens eine auf den Schritt, abgesehen von den Lagerplätzen,
die aussahen, als ob es Flaschen geregnet hätte.« Einen
Tag später hielt Jünger eine Szene fest, die damals, für die Erstausgabe von Gärten
und Straßen 1942 offenbar zensiert werden musste: »Noch
in den Morgenstunden rückten wir in Sedan ein. Die
Stadt war stark zertrümmert: große Häuser waren durch Bombentreffer
niedergestampft, andere ihrer Fassade beraubt, so daß
man wie auf architektonischen Querschnitten das Innere von Zimmern und
prunkvollen Sälen sah, auch Wendeltreppen, die in der Luft schwebten. In
einer Nebengasse, die wir durchquerten, schien es lustig zuzugehen. Man sah
Soldaten die Köpfe durch die blanken Sparren der Dächer stecken, andere
hingen halb aus den Fenstern heraus. Sie ließen an roten Gardinenschnüren
Burgunderflaschen herunterhängen, von denen ich, wie ein Fisch, der mit dem
Köder abgeht, eine im Vorbeireiten ergriff: 1937er Châteauneuf-du-Pape.« |
|
|
Die
Kommandostäbe, denen die Propagandaoffiziere angehörten, denen wir die
meisten Kriegsberichte aus Frankreich verdanken, wurden stets »standesgemäß«
in französischen Schlössern einquartiert, wo es sich gut aushalten ließ. Die
am Gegner ach so kritisierte Dekadenz war nun das willkommene Ambiente, im
dem sich der Sieger wie zu Hause fühlte. So findet man typisch für viele
andere Autoren auch bei dem Nazi-Schriftsteller Edwin Erich Dwinger wiederholt Passagen wie die folgende: »Wir tranken
gemeinsam noch ein Glas Sekt, stießen dabei in merklicher Erregung auf den
morgigen Tag an. [...] ›Einen Pommery heute!‹
sagte der General schließlich. Als er gebracht war, hob er sein Glas, trank
uns allen zu. ›Auf Paris – meine Herren!‹ « Dieses »Auf
Paris!« kann man in diesem Kontext durchaus zweideutig verstehen...
Jedenfalls sah nicht nur für Dwinger dieser Feldzug
»eigentlich viel eher nach einem fröhlichen Manöver aus [...].« |
|
|
Doch
was den Offizieren vergönnt war, sollte auch den einfachen Soldaten nicht
gänzlich vorenthalten bleiben, v.a. nach dem Waffenstillstand, wo es doch
einen enormen Nachholbedarf in Sachen französischer Lebensart gab, wie Hans
Joachim Kitzing schildert: »Wir
haben vor allem die glücklichen, stolzen und erhebenden Seiten des Kampfes
kennengelernt, dessen Abschluß die sechs Wochen
Besatzungszeit in Paris bildeten. Viele tausend deutsche Soldaten haben Paris
kennengelernt, Paris, die Zauberin unter den Städten, die sonst nur ganz
wenigen von ihnen sich erschlossen hätte. War es auch nicht das Paris der
Vorkriegszeit, es war Paris, dessen Zauber auch auf den fremden Sieger
wirkte. [...] Die
deutschen Soldaten ließen sich natürlich die Gelegenheit, die gute
französische Küche an der Quelle kennenzulernen, nicht entgehen, und [...] am
Ende der Mahlzeit war man doch durchweg sehr zufrieden und besonders von den
Preisen angenehm überrascht. In einem Einheitspreis-Restaurant am Boulevard
de la Madeleine, das schon in Friedenszeit sehr gut besucht war [...],
herrschte stets eine beängstigende Fülle, denn man aß dort sehr gut zu 17
Francs, also 85 Pfennig. Die bedrohte Ernährungslage hatte zu der für die
Franzosen fühlbaren Beschränkung der Mahlzeiten auf drei Gänge (Hors d’oeuvres, Fleischgericht,
Dessert) geführt, aber drei Gänge mit Brot und Wein für 85 Pfennig, das war
für deutsche Begriffe immer noch sehr billig.« |
|
|
Das war
für die deutschen Soldaten sehr billig, weil die Besatzungsmacht einen Umtauschkurs
von 1:20 oktroyiert hatte, der die französische Wirtschaft der deutschen
auslieferte und aus jedem kleinen Landser in Paris fast einen wandelnden
Geldsack machte. Aus den Schilderungen der französischen Esskultur tritt in
diesen Berichten gleichermaßen die Genugtuung des Siegers zu Tage, nun den
Spieß umdrehen zu können, die Franzosen zu imitieren, während deren
Genusssucht jetzt rationiert wurde, wie auch die Kritik des Anti-Hedonisten
an eben dieser französischen Kultur, die sich trotz allem, wie bei Stackelberg erzählt, nicht einmal am Tag des
Waffenstillstandes, also der größten Schmach Frankreichs, aus dem Konzept
bringen ließ: |
|
|
»Es gab
alles, was man sich denken konnte. Mein Fahrer, ein waschechter Berliner,
machte große Augen, was so alles zu einem französischen Mittagessen gehörte
und was man alles bekommen konnte. Da kamen viele kleine Schüsseln mit
Vorspeisen auf den Tisch, mit Fischchen, Schinken, Eiern, Salaten und weiß
der Himmel noch was allem. Dann aß man Fisch, dann ein Fleischgericht, eine
Nachspeise hinterher, und das alles war keineswegs besonders viel für
französische Verhältnisse. [...] Wie ich
die großen Augen meines Berliner Jungen sah, mußte
ich daran denken, wie sparsam wir in Deutschland doch in den letzten Jahren
zu leben gewohnt waren. Aber ich hatte dabei keine Trauer, sondern im
Gegenteil Stolz, denn dank dieser Sparsamkeit hatten wir ja die Kanonen und
die Waffen bauen können, mit deren Hilfe wir jetzt hier saßen. [...] In
einem Restaurant in Lyon saßen neben mir beim Mittagessen Franzosen, eine
bürgerliche Familie, die sich ungefähr eine halbe Stunde, über die
Speisekarte gebeugt, über das Essen unterhielten und dann breit und gewichtig
über Stadtklatsch sprachen. Mir schien es merkwürdig, daß
ihre Gedanken an diesem Tag nicht andere Bahnen nahmen, aber das Essen war
wohl für sie etwas sehr Wichtiges.« |
|
|
Was zu
Beginn diese massenhaften »Begegnung« von Deutschen und Franzosen noch so
süffisant festgestellt wurde, geriet im Laufe der Occupation
geradezu zur Obsession der deutschen Autoren, die über Frankreich schrieben.
Jenseits politischer Erörterungen über die Vichy-Regierung, die übrigens
durchaus unterschiedlich waren, stand im Mittelpunkt der Publikationen über
das »besiegte« Frankreich die Frage, ob die Franzosen aus ihrer Niederlage
lernen würden, ob sich etwas veränderte und wenn ja, was. So geißelte etwa
der Nazi-Journalist Hans Schwarz van Berk im Dezember 1940 in Das Reich ,
dass die Franzosen nur eines im Kopf hätten, nämlich dass das Leben so weitergehe
wie zuvor: »Die Phantasie des Franzosen ist, trotz Descartes, unklar und in
der Gegend des Magens zu Hause«, doch müsse nun gleichwohl »Seine Majestät
der Franzose sich an den allgemeinen, zur Zeit bescheidenen, europäischen
Mittagstisch setzen«. Sein Fazit: »Sie
kennen, so sonderbar es klingt, bis heute den Krieg noch nicht, den totalen
Zustand einer Auseinandersetzung, den Krieg, wie er in unserer Zeit geführt
und bezahlt werden muß. Sie kennen den Sieger und
das Geheimnis seines Sieges noch nicht. [...] Die Franzosen haben noch nicht
begriffen, daß sie geschlagen worden sind,
geschlagen im Felde und ebenso gründlich in ihrer ganzen Lebensform. [...]« |
|
|
Demgegenüber
konnte man in der gleichen Zeitung, der Goebbels anfangs noch einen gewissen
Spielraum ließ, auch folgendes lesen, von Ilse Urbach im April 1941: »Die
köstliche Ruhe, die ein französisches Mittagessen gewährt, wird auch uns
zuteil. Wenn auch die Gänge nicht mehr die Qualität früherer Jahre aufweisen,
so sind es doch der Folge nach die gleichen geblieben. Das Warten von einem
zum anderen ist schon Genuß, winken auch nur
Muscheln oder weiße Bohnen.« Verurteilung
ist dabei in vielen Darstellungen gar nicht von Bewunderung zu trennen, so
bei Hubert Neun im Mai 1941, ebenfalls in Das Reich: »Den Umständlichkeiten der Rationierung läßt
sich auf mannigfaltige Weise begegnen, wenn man Geld hat. [...] Ob es wichtig
ist, davon zu berichten? Man mag die Frage verneinen, man lag sie bejahen –
in jedem Falle wäre eine Schilderung des gegenwärtigen Bildes dieser Stadt
unvollkommen, wollte man den ungeheuren Spielraum, in dem sich der Alltag
ihrer dreiundeinhalb Millionen Bürger begibt [sic], wie
selbstverständlich übergehen. [...] [Sie] überbrücken die fleischlosen Tage,
drei pro Woche, indem sie dann je drei Portionen Froschschenkel vertilgen;
statt der Hemden aus Popeline, die nicht frei verkäuflich sind, können sie
nur reinseidene tragen... Nein, es gab keine Probleme.« |
|
|
Die im
Text geäußerte Frage, ob man darüber berichten solle, war keine rein
rhetorische Frage. Die Schilderungen, wie sich die Franzosen dank des
Schwarzmarktes über Wasser hielten, waren nicht ohne – um im Bild zu bleiben
– Delikatesse für den deutschen Leser. Im September 1940 hatte Goebbels, dem
die Frankreichberichterstattung in der Presse und im Radio oft aus dem Ruder
lief und der seine Leute unaufhaltsam gegen Fraternisierung, Sentimentalität
und Frankophilie aufrief, in einer seiner Besprechungen mit den führenden
Propagandafunktionären hervorgehoben: »Die
deutsche Presse soll über die Lebensmittelrationierungen im besetzten
Frankreich berichten, damit in der deutschen Bevölkerung der Eindruck
verschwindet, als sei dort nach wie vor alles in Hülle und Fülle zu haben,
was das deutsche Volk entbehren muß. Es soll aber
bei der Veröffentlichung darauf geachtet werden, daß
tatsächlich nur im Verhältnis zu Deutschland geringere Mengen bekanntgegeben
werden. (23/9/1940, cf. Boelcke).« |
|
|
Ja, es konnte
in der Tat der Eindruck entstehen, dass man in Paris, der Hauptstadt des
Besiegten, besser lebte als in Berlin, der Hauptstadt des Siegers... Die
ganzen Besatzungsjahre über haben viele der Autoren, die über Frankreich
schrieben, eine Form des Hassliebe zu Frankreich bewahrt, wie sie Sieburg unter ganz anderen Umständen 1929 in seinem Buch
zum Ausdruck gebracht hatte. Noch im Mai 1944 schrieb ein anonym gebliebener
Autor in Goebbels’ Zeitung Das Reich folgende bittersüße Reminiszenz
auf ein anscheinend schon aufgegebenes Paris, obwohl die alliierte Landung
erst noch bevorstand: »Paris
hat den Hochmut, zu dem Schönheit verführt. Es weiß sich bewundert, und es
bewundert sich selbst, und Erfahrungen der Vergangenheit haben die Stadt in
ihrem Primadonnen-Gefühl bekräftigt. Moltke zögerte, sie zu beschießen,
Hitler hat sie geschont – wie sollte man sich nicht gefeit wähnen, wenn sogar
diejenigen, die man als Barbaren zu bezeichnen gewöhnt war, derartige
Rücksicht walten ließen? Aus dieser Arroganz hatte man das jaulende Getön der
Sirenen stets nur als theoretische Warnung gewertet, man bestellte einen
zweiten Apéritif, wenn es tagsüber erklang, und man
drehte sich auf die andere Seite, wenn man schon zu Bett gegangen war.« |
|
|
Karl Epting, den ich hinter dem Anonymat
dieses Artikels vermute, Leiter des Pariser Büros des Deutschen Akademischen
Austauschdiensts von 1933 bis 1939 und dann Direktor des Deutschen Instituts
in Frankreich während der Besatzungszeit, war neben dem Botschafter Otto Abetz und dem für Kulturfragen zuständigen Wehrmachtsoffizier
Gerhard Heller die herausragende Figur der politisch-kulturellen
Kollaboration auf der deutschen Seite. Er verstand es meisterhaft, alle
Register zu ziehen, je nach Opportunität für die Verständigung, wenn nicht
sogar Verbrüderung zwischen Frankreich und Deutschland (aber natürlich unter
deutscher Führung!) einzutreten, oder aber die schlimmste antisemitische
Hetze über Frankreich zu publizieren, die je verfasst wurde. Doch wie Sieburg und die meisten deutschen Intellektuellen jener
Zeit – auch wenn der Begriff Intellektueller verpönt war – war Karl Epting dem Faszinosum der französischen Kultur, ihrer
Ausstrahlungskraft und v.a. der Rolle der Intellektuellen in Frankreich
erlegen, die dort nämlich, anders als ihre Kollegen in Deutschland, etwas zu
sagen hatten. Etliche Passagen seiner unter dem Pseudonym Matthias Schwabe
veröffentlichten Propagrandaschrift über »die
französische Auslandspropaganda« stehen daher gerade in krassem Gegensatz zu
ihrer politisch-ideologischen Intention und enthalten mitunter durchaus
subtile Analysen der französischen Kultur, wie z.B. folgende: |
|
|
»Der
französische Lebensstil ist das Ergebnis einer andauernden Überlegung. Er ist
nicht instinktiv, sondern bewußt, nicht
unmittelbar, sondern zubereitet. Er verwandelt die Natur nach den Regeln
eines Geschmacks, der noch heute unbewußt das
Schöne mit dem Vernünftigen gleichsetzt, zu seinem Schaden aber das
Vernünftige mit dem Verstandesmäßigen verwechselt. Der französische
Lebensstil ist die andauernde Zubereitung und Verwandlung der Natur, von der
Speise über das Frauengesicht bis zum erotischen Spiel oder zum Laster. Das
heißt aber: der französische Lebensstil ist übertragbar. Er wird überall dort
aufgenommen werden können, wo eine städtische Gesellschaft sich losgelöst hat
von den nationalen Gegebenheiten des Volkes und der Landschaft. Er wird
empfunden werden als Läuterung, weil er das Unmittelbare bricht. [...] Die
französische Denkweise hätte sich in der Welt nicht durchgesetzt ohne die
Hilfe des französischen Lebensstiles. Denn weil er das Elementare und
Instinktive brach zugunsten eines Bildes, das vom Verstande entworfen wurde,
erschien er der Welt als die Bestätigung der französischen Philosophie.« |
|
|
Dieses
Faszinosum war auch noch nach 1940 lebendig und es zog sogar diejenigen in
seinen Bann, die es besiegt zu haben glaubten. Unter den zahlreichen
Archivbeständen zur Besatzungszeit, die ich für meine Untersuchung sichten konnte,
waren die interessantesten diejenigen, die deutlich machten, wie sehr viele
Deutsche, die zur Kulturpropaganda nach Frankreich geschickt wurden, der
Versuchung ausgesetzt waren, dem französischen Lebensstil zu erliegen.
Eindrucksvoll z.B. die Akte der Ortsgruppe Paris-Boulogne
der NSDAP/AO, die von Wilhelm Grotkopp, einem
Journalisten und Autor eines Buches über Frankreich geleitet wurde. Bei der
ersten Sitzung nach ihrer Gründung als eigenständige Ortsgruppe verzeichnete Grotkopp in seinem Bericht unter dem Titel »Abend in der
Zelle 2« eine nüchterne Bilanz der mangelnden Disziplin der Parteigenossen,
die überwiegend nicht erschienen waren und sogar unentschuldigt fehlten, wie
um seine auf eben dieser Sitzung an die Anwesenden ausgesprochene Mahnung zu
bestätigen, »daß leider zu viele Deutsche sich den
französischen Gewohnheiten willig anpassen und sogar durch Übernahme
französischer Ausdrücke das deutsche Sprachgefühl verletzen.« Im Februar 1944
kam die Deutsche Akademie, Vorläuferin des Goethe-Instituts, hinsichtlich der
Deutschlektoren in Frankreich zur gleichfalls ernüchternden Bilanz, dass
viele Deutsche immer noch dem »Zauber« Frankreichs verfielen: »Wir
stellen diese Erscheinung nach vier Jahren Besatzungszeit oft mit Bedauern unter
den Deutschen des Landes fest. Auch heute noch wirkt die französische
Volkssubstanz mit ihrer eigenartigen Strahlungskraft.« (cf. E. Michels). |
|
|
Diese
»eigenartige Strahlungskraft« erfasste selbst die Besatzungssoldaten bis hin
zum Kommandanten von Groß-Paris, unter dessen Ägide drei Bände, zwei mit
Bildern und Texten über Frankreich aus dem Blick des deutschen Soldaten sowie
eine drittes als reiner Bildband über französische Kathedralen herausgegeben
wurden, in denen der Mythos der douce
France, aber diesmal aus der Sicht des deutschen Besatzungssoldaten, fröhe Urständ’ feierte, man
kann es kaum anders nennen, denn die deutsche Botschaft in Paris, deren Chef
sowie deren Kulturbeauftragter – Abetz und Epting – zuvor zeitweilig selbst wegen Frankophilie von
Hitler suspendiert worden waren, verurteilten im November 1943 diese
offiziell von den Besatzungsbehörden herausgegebenen Bücher als »französische
Kulturpropaganda.« Ein weiteres Buch mit Kommentar hätte dort auch noch
genannt werden können, nämlich der Bild- und Textband über Paris von Hans
Banger, publiziert von der Auslandsorganisation der Deutschen Arbeitsfront: »Unser
Buch ist ein Versuch, mit diesen Aufnahmen nicht nur ein Album zu schaffen,
sondern auch etwas von dem zu vermitteln, das eben unnennbar von jedem
empfunden wird, der auch nur wenige Stunden in dieser schönen Stadt weilt,
dem Gefühl, daß hier Generationen gebaut haben, so
gebaut, daß uns das Erhabene und Großartige doch
immer noch mit einem lebenswarmen Atem nahe ist.« |
|
|
Selbst
hundertprozentige Nationalsozialisten wie der Leiter des Deutschen Instituts
in Bordeaux sahen nur eine Chance, ihr Gedankengut in Frankreich an den Mann
zu bringen, nämlich es in eine französische Form zu kleiden, so schrieb er im
März 1941 in seinem Monatsbericht: »Ich
möchte Ende April, Anfang Mai hier in Bordeaux eine Konferenz der führenden
Männer des Schulwesens und der Geistigkeit von Südwestfrankreich einberufen
[...], die vielleicht im französischen Stil mit einem Festessen zu verbinden
wäre oder zum mindestens mit einem Empfang im Stile der Salons littéraires [...]« Im
allgemeinen herrschte jedoch in den Monatsberichten der deutschen Lektoren an
französischen Hochschulen eher gedrückte Stimmung hinsichtlich ihrer kulturpolitischen
Arbeit, die sie freilich in geschickten Formulierungen ins Positive wenden
mussten, um den Sinn ihrer Tätigkeit deutlich zu machen. Manchmal
unfreiwillig vielleicht kamen dabei dennoch verräterische Offenbarungen zu
Wort, wie z.B. folgende vom Juni 1942 – der erwartete Endsieg an der Ostfront
lies bereits erheblich auf sich warten – eines Lektors
aus Tours: |
|
|
»Wie
brächte der Durchschnittsfranzose Herz und Vernunft genug auf, um sich vor
der Verstocktheit seiner Gefühle zu retten? Der träge Mensch liebt es, auf
ein Wunder zu hoffen. Der Franzose ist stumpf und träge geworden. Wir rütteln
mit unserer Arbeit zwar gewisse Geister auf, der große Teil aber wird erst
von uns erfaßt werden, wenn die militärischen
Entscheidungen gefallen sind.« Für den
Rückgang der Teilnehmer an den Deutschkursen mussten Erklärungen gefunden
werden, was war da naheliegender, als auf die französische Mentalität zu
rekurrieren, besonders im Süden Frankreichs? So berichtete das Lektorat in
Marseille in regelmäßigen Abständen »[...]daß das Arbeitstempo in Marseille um ein vieles langsamer
ist, als beispielsweise in Paris. [...] Je wärmer es hier wird, umso geringer
wird die Arbeitslust der Mediterranen, eine Beobachtung, die hier niemandem
neu ist. [...] Ein leichter Rückgang der Schülerzahl [...], der aber im
Hinblick auf das Temperament der Meridionalen nichts Außergewöhnliches
darstellt.« |
|
|
Abgesehen
von dem Faszinosum Paris hatte es ohnehin die unklare Situation in der
unbesetzten Zone den Berichterstattern angetan, denn hier wurde, nicht ganz
zu Unrecht, der Kern des französischen Widerstandes vermutet, nicht der
Résistance wohlgemerkt, von der erst nach dem Débarquement
in der Normandie offiziell gesprochen werden durfte, nein, vom Widerstand des
Durchschnittsfranzosen, des Meridionalen, wie er von Hubert Neun im August
1941 in Goebbels Zeitung Das Reich dargestellt wurde: »Fremdes
Leid ist nicht eigenes Leid. [...] Nein, der Garten Gottes, die Provence, war
draußen gelieben, sie hatte nichts erlebt und
erfahren; sie kennt die harten Konturen nicht, die das Bild des europäischen
Waffenganges trägt. [...] Man konnte aus der Kriegszone bleiben, als
geschossen wurde. Man möchte es auch jetzt, und man sagt höflich, daß die politische Auseinandersetzung mit der Niederlage
eine Angelegenheit der Regierung sei. Es ist der einfachste, der bequemste
Ausweg: im Süden liebt man die Mühen nicht. [...] Sie
glauben an ihre persönliche, private Überlegenheit, sie meinen, daß der Olivenhain die Politik besiegt, und stützen sich
auf ihre Erfahrung. Fast triumphierend verweisen sie darauf, daß sie abwarten können, das Öl und das Vieh und die
Früchte im Hinterhalt.« |
|
|
Kann
man dies alles analytisch auf einen Nenner bringen? Auf, wie ich meine,
geniale Weise, damals wie heute umstritten, hat dies Vercors
1942 in seiner im Untergrund publizierten Besatzungsgeschichte Le silence de la mer zum
Ausdruck gebracht, wo ein deutscher Offizier, in dem viele Ernst Jünger
erkannten – aber es gab viele Jüngers in Frankreich –, seinen schweigsamen
französischen Zwangsgastgebern die Kollaboration im wahrsten Sinne des Wortes
mit seinem Lob auf die französische Kultur aufschwätzen will. Ihm geht es dabei um folgendes: « [Mon père] me dit: »Tu ne devras jamais aller
France avant d’y pouvoir entrer botté et casqué.« [...] Je ne regrette pas
cette guerre. Non, je crois que de ceci il sortira de grandes choses... [...]
Je le pense avec un très bon coeur: je le pense par
amour pour la France. [...] Maintenant j’ai besoin de la France. Mais je
demande beaucoup: je demande qu’elle m’accueille. [...] Il faut qu’elle
accepte de [...] s’unir à nous. [...] Il faudra que je vive ici, longtemps.
Dans une maison pareille à celle-ci. [...] Les obstacles seront surmontés.
[...] Je veux vous dire que je me réjouis pour la France, dont les blessures
de cette façon cicatriseront très vite, mais je me réjouis bien plus encore
pour l’Allemagne et pour moi-même ! » * |
|
|
Abschließend
möchte ich hervorheben, dass die wissenschaftliche Aufarbeitung des
Frankreichbildes im Dritten Reich, aufgrund dessen Komplexität mein eigener
Beitrag dazu eigentlich nur eine erste analytische Sichtung darstellen kann,
nicht nur von »historischem« Interesse im engeren Sinne des Wortes (d.h. auf
die Epoche bezogen) ist. Ich hoffe, es wurde in meinem Vortrag deutlich, dass
viele jener im Dritten Reich verbreiteten Stereotypen über Frankreich nicht
erst unter dem Nationalsozialismus entstanden und 1945 auch nicht automatisch
verschwunden sind. Schon die Kontinuität des Sieburgschen
Wirkens macht dies offensichtlich. Der deutsch-französische Gegensatz, der
sich in jener Epoche politisch zuspitzte wie nie zuvor und entsprechend ideologisch
überhöht wurde, reduzierte das Frankreichbild in Deutschland nicht zum
ausschließlichen Feindbild. Auch wenn es einen nationalistischen Grundkonsens
unter allen Autoren gab, so brachten dennoch viele von ihnen eine Art Haßliebe zu Frankreich zum Ausdruck, die noch in der
Verurteilung der »französischen Lebensform« und der französischen
Zivilisationsidee Neid darauf durchscheinen ließ, und sei es nur auf deren
Geschlossenheit und Kraft. So ist die kritische Analyse selbst der
ideologisch radikaleren unter den Frankreichdarstellungen des Dritten Reiches
für uns heute noch von Gewinn. |
|
|
|
|
Bibliographie GEIGER, Wolfgang: L’image de la France dans
l’Allemagne nazie (1933-1945), Presses Universitaires de Rennes, 1999;
412p., ISBN BOCK,
Hans Manfred: »Tradition und Topik des populären Frankreich-Klischees in
Deutschland von 1925 bis 1955«, in: Francia
t.14, 1986, pp.475-508. – Zu H.M. BOCK siehe auch DISTELBARTH BOELCKE,
Willi A. (Hg.): Kriegspropaganda 1939-1941.
Geheime Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart:
DVA, 1966. BUDDENBROCK, Cecilia von: Friedrich
Sieburg 1893-1964 – un journaliste à l’épreuve du
siècle, Eds. de Paris, Paris 1999. DYSERINCK,
Hugo / SYNDRAM, Karl (Hg.), Europa und das
nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme
in Literatur, Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, Bonn:
Bouvier, 1988. HAUSMANN,
Frank-Rutger, »Vertriebene und Hinterbliebene. Ein
Forschungsbericht zur Lage der deutschsprachigen Romanistik von 1933-1945«,
in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 15, 1991,
164-180; Ders., »Aus dem Reich der seelischen
Hungersnot.« Briefe und Dolumente zur
Fachgeschichte der Romanistik im Dritten Reich, Würzburg: Königshausen
& Neumann, 1993. MICHELS,
Eckart: Das Deutsche Institut in Paris 1940-1944. Ein Beitrag zu den
deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des
Dritten Reiches, Stuttgart: Steiner, 1993. NERLICH,
Michael: »Aufklärung und Republik – Zum deutsch-französischen Verhältnis, zu
Frankreichforschung und zu Werner Krauss«, in: lendemains
n°69/70, 1993, Sonderheft Zum deutsch-französischen Verhältnis: Werner
Krauss. TAURECK,
Margot: Friedrich Sieburg in Frankreich. Seine
literarisch-publizistischen Stellungnahmen zwischen den Weltkriegen in
Vergleich mit Positionen Ernst Jüngers, Heidelberg: Winter, 1987. * BANGER, Hans (Hg.): Paris – Wanderungen durch eine Stadt, Aufnahmen
von Emmanuel Boudot-Lamotte, Verlag der Deutschen
Arbeitsfront Paris, s.d. [1942]. CURTIUS, Ernst
Robert / BERGSTRÄSSER, Arnold: Frankreich, Stuttgart/Berlin: DVA, 1930
– t.1: E. R. CURTIUS: Die Französische Kultur. Eine Einführung, t.2:
A. BERGSTRÄSSER: Staat und Wirtschaft Frankreichs . DISTELBARTH, Paul: France
vivante, Paris/Colmar (Alsatia)
1937, 2 tomes: t.1: La personne
France, t.2: Images de la France . – Überarbeitete Neuaufl. in einem Band: La personne
France, Paris: Alsatia, 1942. DISTELBARTH, Paul: Lebendiges
Frankreich, Berlin: Rowohlt, 1936, 21936, 31937, 41938,
51939, 61948; Berlin (DDR): Union-Verl., 1956. DISTELBARTH, Paul
H., Das andere Frankreich. Aufsätze zur Gesellschaft, Kultur und Politik
Frankreichs und zu den deutsch-französischen Beziehungen 1932-1953, mit einer
Einleitung herausgegeben und kommentiert von Hans Manfred BOCK, Bern /
Berlin: Lang, 1997. DWINGER, Edwin
Erich: Panzerführer. Tagebuchblätter vom Frankreichfeldzug, Jena:
Diederichs, ²1941, s.d. JÜNGER, Ernst: Gärten
und Straßen. Aus den Tagebüchern von 1939 und 1940, Berlin: Mittler &
Sohn, 1942, vgl. in: Werke Bd. 2, Tagebücher II: Strahlungen 1. Teil,
Stuttgart: Klett, s.d. [1960]. KITZING, Hans
Joachim: Wir liegen in Paris, Berlin: Mittler & Sohn, 1941. KORN, Karl: »Doulce France – Studie über die französische Provinz«,
in: Das Reich n°5/1940, p.17. LAUM, Bernhard: Die
geschlossene Wirtschaft – soziologische Grundlegung des Autarkieproblems, Tübingen
1933. [Zitiert bei STOYE]. MANGOLD, Ewald
K.B.: Frankreich und der Rassengedanke, München/Berlin: Lehmanns, 1937.
NEUN, Hubert: »Die
Boulevards sind wach – Maitage in Paris«, in: Das Reich n°22/1941
(1/6/1941), p.6. Ders., »Szenen im Süden – Hinter
dem Schleier des Midi«, in: Das Reich n°32/1941 (10/8/1941), p.15. PIER, Bernhard: Rassenbiologische
Betrachtungsweise der Geschichte Frankreichs, Frankfurt a.M.: Diesterweg, 1935. SCHUSTER, Valentin
J.: Der Nachbar im Westen, Berlin: Verlag für Politik und Wirtschaft,
1936. SCHWABE, Matthias
[i.e. Karl EPTING]: Die französische Auslandspropaganda – Ihr Grundlagen
und Voraussetzungen, Berlin: Stubenrauch, 1939. SCHWARZ VAN BERK,
Hans: »Was machen die Franzosen?« in: Das Reich n°32/1940
(29/12/1940), p.5. SIEBURG, Friedrich:
Gott in Frankreich? Ein Versuch, Frankfurt a.M.: Societäts-Verlag,
1929, ²1933, 31935 [»Volksausgabe«], 41940, 51954
[erweiterter Neudruck]. – Dieu est-il français? suivi d’une Lettre sur la France par
Bernard Grasset, Paris (Grasset) 1930; texte intégral traduit de l'allemand
par Maurice Betz, ²1942; préface de Laurent Dispot, Paris (Grasset) ³1991. – Es werde
Deutschland, Frankfurt a.M.: Societäts-Verl.,
1933; Ders., Blick durchs Fenster – Aus zehn
Jahren Frankreich und England, Frankfurt a.M.: Societäts-Verl.,
1939. STEPHAN, Werner:
»Bilder aus Paris«, in: Das Reich n°5/1940 (23/6/1940), p.3. STOYE, Johannes: Frankreich
zwischen Furcht und Hoffnung, Leipzig: F. Meiner, 1938. URBACH, Ilse:
»Sonntag an der Seine«, in: Das Reich n°15/1941 (13/4/1941), p.14. VERCORS: Le silence de la mer, Paris: Eds.
de Minuit, 1942, Albin Michel 1951, Livre de poche 1979. Dokumente aus dem Bundesarchiv Koblenz und dem
Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. |
|
|
|
|
|
|
Der
folgende Text entstand aus einem Vortrag, der am Germanistischen Seminar der
Universität Heidelberg am 30.1. 1992 gehalten wurde. Er erschien im Druck
in: Dietrich Harth (Hg.): Fiktion des Fremden. Erkundung kultureller Grenzen in Literatur und
Publizistik. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag 1994, S. 83-112.
Dieser Band ist nicht mehr lieferbar. |
|
© 1994/2005 Thomas Lange |
Thomas Lange Zwischen Gott und Teufel. Das
Frankreichbild deutscher Schriftsteller im französischen Exil |
|
[1] Leo Lania: The
Darkest Hour. Adventures and Escapes.
Boston 1941. - Ernst Erich Noth: La guerre pourrie. La plus petite France. New
York 1942.- Heinz Pol (=Pollak):
Suicide of a Democracy. New York 1940. - André Simone (=Otto
Katz): J'accuse! New York 1940 - Lion Feuchtwanger: Der
Teufel in Frankreich. (Zuerst: Unholdes Frankreich, Mexiko 1942) Rudolstadt 1954.
- Walter Hasenclever: Die Rechtlosen. Hamburg
1962 (posthum; Niederschrift im Januar 1940 beendet) [2] Friedrich Sieburg: Gott in
Frankreich? Frankfurt/M 1929. Sieburgs Titel mag
hier als - weitverbreitetes - Schlagwort für ein positives Frankreich-Bild
gelten. Politisch gehört er nicht in die Reihe der Emigranten, s.u. |
"Die dunkelste
Stunde" - "Der besudelte Krieg" - "Selbstmord einer
Demokratie" - "Ich klage an" - "Die Rechtlosen" -
"Der Teufel in Frankreich" - so lauteten Buchtitel deutscher Emigranten,
die unmittelbar nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 geschrieben
wurden und (bis auf eines) im Zeitraum zwischen 1940 und 1942 erschienen
sind.[1] Die Enttäuschung, die hier spürbar ist, gilt nicht nur der augenblicklichen
politischen Konstellation, dem erneuten Sieg Hitlers, der für die Verfasser
mit einer gefahrvollen Flucht aus Europa verbunden war und einen von ihnen
(Walter Hasenclever) zum Selbstmord in Verzweiflung und Panik veranlaßte. Die Enttäuschung ist grundsätzlicher, denn
sie gilt nicht nur dem realen, politischen Frankreich, sondern einem image, einem Denkmodell, für das ein anderer Buchtitel
stehen möge: "Gott in Frankreich". [2] "Frankreich" war
Gegen-Bild und Hoffnung für die exilierten Deutschen. Die französische Geschichte
lieferte ihnen die Gegen-Idee zum nationalsozialistischen Deutschland:
Frankreich, das ist die Große Revolution von 1789, der Erklärung der
Menschenrechte, die in die Praxis
einer über das ganze 19. Jahrhundert großzügig geübten Asylrechts für
politisch Verfolgte umgesetzt worden waren. In der deutschen
literarischen Emigration nach Frankreich ab 1933 wird eine ganze Generation
von Autoren gezwungen, ihr Denkmodell "Frankreich" mit der Realität
zu konfrontieren. Das ist nicht nur ein imagologischer
"Praxistest" im Vergleich von "Bild" und
"Realität", sondern es geht in diesem Ineinander von Selbst- und
Fremddefinition im Grunde um die politische, geistige, psychologische
Selbstfindung. Denn das positive Heteroimage "Frankreich" ist ganz
eng an das sehr kritisch besetzte Autoimage "Deutschland" gebunden.
Die in den images steckenden "imagotypen Makrostrukturen" [3] werden sowohl in politische Hoffnungen und
Erwartungen wie in literarische Phantasien umgesetzt. In Texten aller
Gattungen - fiktionalen, journalistischen wie essayistischen - findet sich eine "fiktionale
Sehweise" von Frankreich, die auf ihre Strukturen, auf Statik und Prozeßhaftigkeit befragt werden soll. |
[3] Der
Begriff nach: Hugo Dyserinck: Komparatistische
Imagologie. Zur politischen Tragweite einer
europäischen Wissenschaft von der Literatur. In: ders. / K.U. Syndram (Hrsg.): Europa
und das nationale Selbstverständnis Imagologische
Probleme in Literatur, Kunst und
Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Bonn: Bouvier 1988, S.13-37;
hier: S. 29; zu Deutschland - Frankreich: S. 27 ff. |
[4] Für den
begrenzten Zweck dieser kontrastiven Analyse bleiben die Ursprünge
ausgespart. Dazu vgl. Manfred Koch-Hillebrecht: Das
Deutschenbild. Gegenwart, Geschichte, Psychologie.
München: Beck 1977. - Zum "Gegenbild" außerdem: Wolfgang Leiner: Das Deutschlandbild
in der franzöischen Literatur. Darmstadt.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 1989 - Zum 18. Jahrhundert: Gonthier-Louis Fink: Das Bild des Nachbarvolkes
im Spiegel der deutschen und der franzsösischen
Hochaufklärung (1750-1789). In: Bernhard Giesen (Hrsg.): Nationale
und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit.
Frankfurt/M: Suhrkamp (stw 940) S. 453-492. - Zum
19. Jahrhundert: Elke Emrich: Der janusköpfige Deutsche. Zum
nationalen Selbstverständnis in der deutschen Literatur von Herder bis
Nietzsche (1770-1870). In: Dyserinck/Syndram, a.a.O., S. 147-169 [5] Heinrich Heine: Etat
actuel de la littérature en Allemagne. De l'Allemagne depuis
Madame de Stael. [10] Vgl. zu dieser Positionsbeschreibung:
Jürgen Habermas: Heinrich Heine und die Rolle der Intellektuellen in Deutschland. In: ders.: Eine Art Schadensabwicklung.
Frankfurt/M: 1987, S. 25-54 [11] So im "Atta Troll", Kap. XI [12] Heine, Deutschland ein Wintermärchen, Caput
I [13] Trouillet, a.a.O.,S. 66 ff., 143 ff. [14] Pierre-Paul Sagave: 1871. Berlin - Paris . Reichshauptstadt
und Hauptstadt der Welt. Frankfurt/M - Berlin - Wien 1971, S. 194 ff. [15] Trouillet, S. 176, Anm.3; S. 171; - Karl D. Erdmann: Der Erste
Weltkrieg (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 18) München: dtv 1986, S. 148 ff. |
1. Elemente und Strukturen des Frankreich-Bildes Die deutschen Vorstellungen von
Frankreich hatten sich im 19.
Jahrhundert als "Heterostereotyp"
entwickelt, nämlich als Reaktion auf das
Autostereotyp eines "Deutschland", dessen Grundzüge auf das Deutschlandbuch der Madame de Stael
von 1813 ("De l'Allemagne") zurückgingen.
[4] Maßgebend für das Frankreich-Bild
der kritischen Intelligenz wurde Heinrich Heines beißend-ironische Uminterpretation
der Madame de Stael( "Die romantische Schule", 1833). [5] Wo sie von deutscher Neigung zum Tiefen und
Dunklen, zur Metaphysik, zur Einbildungkraft
geschwärmt, bei der deutschen
Verbindung von "Gedankenkühnheit mit dem untertänigsten Charakter"
noch den Gehorsam als eine "genaue Beobachtung der Schicklichkeitsregeln"
entschuldigte" [6] , da sah Heine in bitterem Spott nur
"ungewaschene Opposition [...] gegen jene Humanität, gegen jene
allgemeine Menschenverbrüderung" für die in seinem Deutschland die
Autoren Lessing, Herder, Schiller, Goethe standen. [7] Politisches Leben
gewann diese Idee in Frankreich, das er "seinem Wesen nach
republikanisch" nannte. [8] Die
seit seinem Pariser Exil auf ihn als Schimpfwort gemünzte Bezeichnung von der
"französischen Partei" [9]
funktionierte er zum Ehrennamen um, und ihm folgten darin alle
diejenigen deutschen Intellektuellen, die sich in der Tradition von Republik
und Menschenrechten sahen. [10] Zu Heines Frankreich-Bild gehörte ganz
gleichberechtigt neben der politischen Idealvorstellung auch Hedonismus,
Lebenslust, Erotik: in immer wieder neuen Wendungen spricht er von Frankreich
als "Dieses Vaterland der Freiheit Und der Frauen, die ich liebte". [11] Und noch ein anderes Element des
Frankreich-Bildes geht auf Heine zurück: die Aufforderung zum politischen
Engagement, die Hoffnung, daß die Poesie die
Wirklichkeit verändern und das heißt: "Französische (=Republikanische)
Zustände" herbeiführen könne: "Ein neues Lied, ein bessres Lied, O Freunde, will ich Euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon Das Himmelreich errichten." [12] Dominierend in der deutschen Sicht auf
Frankreich blieb allerdings nicht Heine, sondern jenes negative Bild, das von
den Befreiungskriegen 1813 bis zum Einigungskrieg 1870/71 mit Schlagworten
wie "Welschen ist Fälschen" (F.L. Jahn) den "windigen Frantzosen" oder "pommadierten
Schwätzer" als den "Erbfeind" zeichnete, der heimtückisch,
gefährlich und verachtenswert war. [13]
Von einem biblisch-sündigen
"Babylon an der Seine" sprach man 1870/71 im preußischen
Offizierskorps während der Belagerung von Paris. [14] In der Propaganda des 1. Weltkriegs
steigerte sich dies alles noch einmal zur wütenden Bekundung einer
"deutschen Sendung", gerichtet wider die "gedankenlose Genußsucht" (Ernst Troeltsch)
der "plutokratischen Bourgeoisrepublik"
(Thomas Mann). [15] |
[6]
Germaine de Stael:
Über Deutschland. Nach
der Übersetzung von Robert Habs hrsg. und eingeleitet von Sigrid Metken. Stuttgart: Reclam 1980, S. 67. - Vgl. zur
Entwicklung der französisch-deutschen wechselseitigen "Imagologie": Bernard Trouillet:
Das deutsch-französische Verhältnis im Spiegel
von Kultur und Sprache. Weinheim und
Basel: Beltz 1981. (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische
Forschung: Studien und Dokumentationen zur vergleichenden Bildungsforschung
Bd. 20) - Außerdem: Jacques Leenhardt / Robert
Picht (Hg.): Esprit
- Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen. München Zürich: Piper (SP 1093) 1989 [7] Heine, Die romantische Schule, hier zit. n. Heinrich
Heine: Sämtliche Werke, Bd. IX, München 1964 (Kindler Taschenbücher
1017/18), S. 31 [8] Das Bürgerkönigtum im Jahre 1832. (Französische Zustände I).
Zit.n: Heinrich Heine, Sämtliche Werke in 12
Bänden, Leipzig: Gustav Fock o.J., S. 106 [9] Vorrede zur Vorrede der "Französischen Zustände",
1832. A.a.O., S. 6 |
[16] Raymond Poidevin / Jacques Bariéty: Les relations franco- allemandes 1815-1975. Prais 1977,
S. 274 ff. [17]
Heinrich Mann: Bekenntnis zum Übernationalen (1932). zit.n.:
ders: Der Hass. Deutsche
Zeitgeschichte. Berlin und Weimar: Aufbau 1983, S. 19 [18] Hans Maier: Ideen von 1914 - Ideen von 1939? In: Vierteljahreshefte
für Zeitgeschichte 4/1990, S. 225-542. [19] Trouillet,a.a.O., S.219 ff., zu
Spengler: S. 226; zu Hitlers "Mein Kampf": S. 233: die Juden wollen
Frankreich und auch Deutschland "bastardisieren"
und "vernegern". [20] Eduard Wechssler: Esprit
und Geist. Versuch einer Wesenskunde der Deutschen
und Franzosen. Bielefeld 1927. Z.B. S. 158 ff. |
In das öffentliche Bewußtsein
der Weimarer Republik hat sich trotz des Vertrags von Locarno (1925) das
Bemühen um die Aussöhnung mit Frankreich nicht wesentlich eingeprägt. Der
Versailler Vertrag, die Reparationen, die fortdauernde Besetzung des
Rheinlands einerseits, die auch unter der republikanischen deutschen
Regierung fortdauernde Politik der Grenzrevisionen andererseits ließen die
Entspannung zu einer kurzen Phase um das Jahr 1927 werden. [16] Über Stresemann, den großen
Aussöhnungspolitiker, sagte Heinrich
Mann: "Die Nation im ganzen stand nicht hinter ihm", und über die deutsche Frankreichpolitik:
"Die Republik hat nur wenige Tage ihres Lebens anders gehandelt, als das
vorige, kriegerische Reich gehandelt haben würde". [17] Im Frankreich-Bild werden einerseits die
antifranzösischen Klischees der Weltkriegszeit fortgesetzt - seien sie zu
"Ideen von 1914" stilisiert [18] oder zu Karikaturen bzw.
rassistischen Denunziationen bei Oswald Spengler oder Adolf Hitler
verkommen. Der letztere steigerte die schon bei E.M. Arndt zu lesende
Vermengung des Judenklischees mit dem Franzosenstereotyp bis ins Perverse.
[19] Von konservativ-bildungsbürgerlicher Seite wurde versucht, den deutsch-französischen
Gegensatz wissenschaftlich festzuschreiben. Romanistik-Professoren reihen
endlose Antithesen aneinander: "Esprit und Geist", französische
"galanterie" und germanische
"Heiligung der reinen Weiblichkeit", "liberté"
und Schicksal.[20] Selbst Ernst Robert
Curtius wollte dem "Deutschen Geist in Gefahr" seinen Sonderplatz
in der europäischen Geistesgeschichte reservieren. [21] Am bekanntesten und aufgrund seiner
feuilletonistisch-leichten, durchaus geistreichen Schreibweise wurde das Buch
des Paris-Korrespondenten der "Frankfurter Zeitung", Friedrich Sieburg: "Gott in Frankreich?" Mit einem koketten Fragezeichen versehen,
wollte es Sympathiewerbung für Frankreich durchaus im Sinne einer politischen
Versöhnung betreiben und setzte damit einerseits die hedonistische Seite von
Heines Frankreich-Bild fort. Die politischen Akzente folgen aber der
konservativen Linie, das zeigt sich etwa daran, daß
nicht die Revolution, sondern Jeanne d'Arc als
Leitmotiv genommen wird, die Verbindung von Religion und Nationalismus.
Ansonsten wird Zivilisation und Vernunft bis in Alltagsbeobachtungen hinein
als Ausdruck französischen Wesens variiert - |
[21] Ernst
Robert Curtius: Deutscher Geist in Gefahr. Stuttgart - Berlin 1932. -
Curtius hat sehr viel für die Kenntnis über Frankreich getan, z.B. mit Veröffentlichung
wie: Französischer Geist im Neuen Europa. Berlin
u. Leipzig 1925 - Die Französische Kultur (1930). Zur Kritik seiner Position
s.: Peter Jehn: Die Ermächtigung der Gegenrevolution. In:
Michael Nerlich (Hg.): Kritik
der Frankreichforschung.
Argument Sonderband 13, Berlin 1977, S. 110-132 |
[22]
Friedrich Sieburg: Gott in Frankreich? Zit.
nach dem Neudruck Frankfurt/M 1954, S. 187. [23] Sieburg, a.a.O., S. 60 [24] Sieburg, S. 124, 299 [25] Sieburg, S. 312 f, 354 f.. - Vgl. zu Sieburg: Manfred Flügge: Friedrich Sieburg. Frankreichbild und Frankreichpolitik 1933-1945. In:
Jürgen Sieß (Hg.): Vermittler.
Deutsch-französisches Jahrbuch 1. Frankfurt/M 1981, S. 197-218.
- Albrecht Betz: Exil und Engagement. Deutsche Schriftsteller im Frankreich der
dreißiger Jahre. München: text und kritik
1986, S. 36 - Margot Taureck: Friedrich
Sieburg in Frankreich. Seine literarisch-publizistishen
Stellungnahmen zwischen den Weltkriegen im Vergleich mit Positionen Ernst
Jüngers. Heidelberg 1987 |
"Das Menü ist der Ausdruck des
französischen Zivilisatonsgedankens beim Essen. Es
verrät ebensowohl Ordnung wie Dauer, denn die Reihenfolge
der Speisen ist unabänderlich und für alle Klassen und Qualitäten
bindend." [22] Der
Unterstrom des Buches aber ist
ein Vergleich Deutschlands mit Frankreich, und dabei wird aus der Schilderung
liebenswürdiger Schlamperei -
"die Franzosen (haben) Ordnung im Kopf, aber Unordnung auf ihren
Bahnhöfen" [23] - ganz
unmerklich der Eindruck eines "lebendigen Museums", das "die
Zeichen der Zeit nicht" versteht. [24]
Da Frankreich im technischen Fortschritt keinen "Zuwachs an
Glück" sieht, kann es nur noch "ehrwürdiges Zeichen einer vergehenden
Welt" sein. Welche nationalistischen Fußangeln in dieser Sympathierklärung an Frankreich verborgen sind, wird
deutlich, wenn man liest, daß Deutschland den
technischen Fortschritt zu seiner Religion gemacht habe und "Frankreichs
Stellung zu Deutschland gleichzeitig auch seine Stellung zur Zukunft"
sei. [25] In den Frankreich-Bildern der 20er Jahre sind
die Fronten der Exilzeit schon vorgezeichnet: Sieburg wird nach 1933 einer der wichtigsten
Kultur-Repräsentanten Nazi-Deutschlands in Frankreich sein. Diejenigen, die
die politische Seite der Heineschen Tradition fortsetzen, werden sich als
Emigranten in Paris befinden. Das gilt etwa für die Korrespondenten der
linken oder linksliberalen Presse wie Joseph Roth, der über Paris schreibt, es "ist frei,
geistig im edelsten Sinn und ironisch im herrlichsten Pathos. Jeder
Chauffeur ist geistreicher als unsere Schriftsteller." [26] Der
Eindruck von persönlicher Freiheit, von unreglementierter
Menschlichkeit, von größter Urbanität bei gleichzeitiger geradezu
schrullig-provinzieller Individualität ist auch bestimmend für Kurt
Tucholsky: "Wie schön ist es, hier zu leben: ohne diese Gesichter, die
keine sind; ohne Krach und Krakeel". [27] |
[26]
Joseph Roth in einem Brief vom 16. Mai
1925 an Benno Reifenberg, den Feuilletonredakteur
der "Frankfurter Zeitung", für die Roth 1925/26 - als Vorgänger Sieburgs - Korrespondent
in Paris war. (Zit. n.: Manfred Flügge: Paris als Utopie und als
Exil. In: Merkur Nr. 479 (1/1989), S. 44-58; hier: S. 49) [27]
Tucholsky, "Pariser Dankgebet", zit.n.
Flügge, a.a.O., S.48. Er berichtete 1924-27 für die "Weltbühne",
die seine ersten Texte als "zu überschwenglich"
gar nicht druckte. Tucholsky verbracht die Exiljahre
bis zu seinem Freitod 1935 in Schweden |
[28]
Heinrich Mann: Geist und Tat (1910). Zit. n.: ders.:
Geist und Tat. Frankfurt/M 1981, S. 9-16 [29] Hans Albert Walter: Deutsche Exilliteratur
1933-1950, Bd. 1.: Bedrohung und Verfolgung bis 1933. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1972, S. 123. Den Vorschlag, der politisch
weiter keine Rolle spielte, machte Kurt Hiller in der "Weltbühne". [30] Vgl.Inge Jens: Dichter
zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst der
Preußischen Akademie der Künste. (1971) München 1979: dtv, S. 93 ff. Die beträchtlichen Anpasungsleistungen
der "unpolitischen" Dichter an den NS-Staat: S. 204 ff. [31] So Thomas Mann in den "Betrachtungen eines
Unpolitischen" (1918), Frankfurt/M 1983, S. 55 ff. - Thomas Manns politische
Einstellung hat sich bekanntlich nach 1918 gewandelt; er wurde in der
Emigration in den USA zu einer Art Sprecher des deutschen Exils. |
Auf Heines politischem Frankreich-Bild fußte prononciert und mit mehr bitterer
Schärfe als Ironie Heinrich Mann. Er sah keinen größeren Gegensatz als den
zwischen dem "Menschen des Geistes", dem Literaten und "seinem
Todfeind", der politischen Macht. Und da würden in Deutschland die Schriftsteller "für die
Beschönigung des Ungeistigen, für die sophistische Rechtfertigung des
Ungerechten" sich hergeben, während die Literaten Frankreichs ihrer
staatlichen Macht entgegentraten und dabei auch das Volk hinter sich wußten. Sie - Schriftsteller und Volk - hätten
"Erkenntnisse zur Tat gemacht" und daher sei die französische
Nation "der Vergeistigung heute näher als andere". [28] In diesem Sinn, mit diesem Ziel versucht
Heinrich Mann als unermüdlicher Redner und Essayist auf das deutsche Publikum
der 20er Jahre einzuwirken, sich an diesem Vorbild zu orientieren. Damit
wurde er zu solch einer Symbolfigur des aufrechten Republikanismus, daß 1932 sogar der Vorschlag aufkam, er möge zur Wahl
des Reichspräsidenten kandidieren. [29]
Wie weit er sich vom nationalistisch aufgeheizten Klima der Krisenjahre
entfernt hatte, zeigt sein "Bekenntnis zum Übernationalen" (1932)
mit dem Vorschlag eines "Bundestaates Deutschland-Frankreich", der
die Utopie eines "Lebens in Vernunft und Wahrheit" begründen
sollte. Heinrich Mann verkörperte ganz extrem jenen Gegentypus zum nach wie
vor staatlich geförderten unpolitischen Dichter: [30] den
"Zivilisationsliteraten", der aus "kosmopolitischer Selbstentäußerung"
zum "besten französischen Patrioten", zum
"Revolutionsfranzosen" wurde. [31]
Er blieb es auch, nachdem die Sache der Republik in Deutschland
verloren war. "In jedem [Franzosen] aber ist es Voltaire, der
zurückkehrt. In Deutschland wiederholt, wer es weit bringt, das tatlose, dem Volk unbekannten Leben Goethes"
[32] hatte er 1910 geschrieben. Am 21.
Februar 1933 trat er - nach einer Warnung durch den französischen Botschafter [33] - die Nachfolge Voltaires als Moralist und
politisch Verfolgter an und löste eine Fahrkarte nach Straßburg. |
[32]
Heinrich Mann: Voltaire - Goethe. (1910). In: ders.: Geist und Tat,
a.a.O., S. 18 f. [33]
Walter, Bd.1, a.a.O., S. 212 |
[34] Vgl.
Walter Möller: Exodus der Kultur. Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler in
der Emigration nach 1933.
München: C.H. Beck 1984 (BSR 293), S. 46 ff. [35] Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. (1942
engl./ 1949 deutsch). München 1981, S. 338. - Vgl. dazu auch: Wulf Köpke: "Innere
Exilgeographie"? Die Frage nach der Affinität zu des Asylländern. In:
Helmut F. Pfanner (Hg.): Kulturelle
Wechselbeziehungen im Exil - Exile across Cultures. Bonn: Bouvier 1986, S. 13-24 [36] s. dazu die Beiträge von Jeanpierre Guindon, Pierre Foucher u.a.
in: Zone d'Ombres,a.a.O., S. 25
ff.; dort auch das Apercu von Ludwig Marcuse. [37] Dieter Schiller/Regine Herrmann: Kulturelle
Tätigkeit deutscher Künstler und Publizisten im französischen Exil. In:
Dieter Schiller u.a.: Exil in Frankreich. (Bd. 3 von: Kunst und
Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945) Frankfurt/M: Röderberg
1981, S. 243. Preisträger waren H.W. Katz (1936), Elisabeth Karr (1937),
Henryk Keisch (1938) [40] Brief an Brecht, 28. Januar 1935. Zit.n.:Alfred Döblin. 1878- 1978. Eine Ausstellung des Deutschen
Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach
am Neckar. Katalog. Marbach 1978, S. 343 |
2. Frankreich-Bild, französische Realität und Exilwirklichkeit Das Bild von Frankreich als einem
demokratischen Kulturland war zwar ein Grund dafür, daß
es zur wichtigsten Exilstation für die literarische Emigration wurde. [34] Daneben spielten praktische Erwägungen -
etwa die lange gemeinsame Grenze, die anfangs leichte Einreise - aber ebenso
eine Rolle wie jener hedonistische Teil des Heineschen Erbes: die Vorstellung
von einem glücklichen Urlaubsland, einer
lebensfrohen Boheme; außerdem glaubte in den ersten Jahren kaum ein Emigrant,
daß die Hitler-Diktatur und damit das Exil nicht
lange dauern könne: "Der Aufstand des Volkes gegen die
Unterdrücker, die deutsche Revolution, lange konnte sie doch nicht mehr auf
sich warten lassen." [35] In Paris und mehr noch in Südfrankreich, wo
das Leben angenehm und billig war, lebten manche der bekanntesten
Autoren der Weimarer Republik: Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Alfred
Döblin, Joseph Roth, die Publizisten Georg Bernhard und Leopold
Schwarzschild. Der kleine Badeort Sanary-sur-Mer wurde ironisch zur "Welthauptstadt der
deutschen Literatur" [36]
erklärt. In Paris erschien die einzige Tageszeitung des deutschen
Exils ("Pariser Tageblatt", nach 1936: "Pariser Tageszeitung")
sowie eine Wochenzeitschrift, "Das Neue Tage-Buch". Es gab ein
"literarisches Leben" mit zahlreichen Vortragsveranstaltungen im
Rahmen des dort neugegründeten Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, von
dem 1935 auch ein "Heinrich-Heine-Preis" gestiftet wurde, "um
junge Kräfte in der antifaschistischen Literatur zu fördern". [37] Außerdem gab es den Versuch, erste
Schritte zu einer Art Exil-Regierung zu tun mit dem "Ausschuß
für die Bildung einer deutschen Volksfront" (1936). Den Vorsitz hatte
Heinrich Mann, der auch hier wieder die Tradition der deutschen politischen
Flüchtlinge des 19. Jahrhunderts fortsetzte. In dieser Art der Darstellung fortfahrend,
würde man aber ein "Bild" vom deutschen Exil in Frankreich
entwerfen, das einseitig heroisiert und beschönigt. [38] Weder waren den politischen Bemühungen
Erfolg beschieden (die Volksfront scheiterte schon 1938) [39] , noch hatte
eine Integration ins Gastland oder gar eine Symbiose der Kulturen
stattgefunden. Die Briefe und Erinnerungen der Emigranten sind vielmehr voll
von Enttäuschungen, Erfahrungen von Zurückweisungen, Gefühlen des Ausgeschlossenseins und der Fremdheit. Wenige Emigranten
konnten wirklich gut Französisch, vielen ging es wie Döblin: "Im übrigen sieht und hört man hier
nichts von der Welt. Aus den Briefmarken und Straßenausrufen ersehe ich, daß hier Frankreich ist, Gott weiß, was ich,
ausgerechnet, hier zu suchen habe." [40]
|
[38] Dies
war die vorherrschende Tendenz der DDR-Exilforschung,
wie auch der dort veröffentlichten Erinnerungen von Beteiligten: immer
auf ein geschlossenes Bild der Partei ausgerichtet, auch unter Weglassungen
und Verfälschungen. Vgl. die Nachweise in der Rezension der 7-bändigen
Darstellung "Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil"
(Berlin-DDR 1981) durch Hans-Albert Walter in: Sammlung,
Jahrbuch für antifaschistische Literatur und Kunst, Hg. von Uwe Naumann, Bd. 5, 1982, S. 92-108 [39] Vgl. Ursula Langkau-Alex: Versuch und Scheitern
der deutschen Volksfront. In: Exil, 1/1986, S. 19-37. - Michel
Grunewald / Frithjof Trapp (Hg.): Autour du "Front Populaire
Allemand". Einheitsfront – Volksfront. Bern
– Frankfurt/M - New York - Paris 1990 |
[41] Zur
materiellen Lebenssituation s.: Hans Albert
Walter: Asylpraxis und Lebensbedingungen
in Europa. Darmstadt und Neuwied 1972. - Zur Abschottung der französischen
Universitäten gegen deutsche Akademiker: Jean-Philippe Mathieu: Sur l'émigration des universitaires. In: Gilbert Badia u.a.: Les bannis de Hitler.
Accueil et lutte des exilés allemands en France
1933-1939. Paris 1984, S. 133-162. - S.
auch: Hélène Roussel: Zur Geschichte der Pariser Niederlassung des Instituts für
Sozialforschung und seiner Beziehung zur Ecole Normale
Superieure. In: Donald G. Daviau / Ludwig M. Fischer (Hg.):
Das Exilerlebnis. Verhandlungen des vierten Symposiums über
deutsche und österreichische Exilliteratur. Camden
House, Columbia, South Carolina 1982, S. 12-23 [45] Lion Feuchtwanger: Der Teufel in Frankreich. Ein
Erlebnisbericht. Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch (5918) 1989, S. 77 [46] Klaus Mann, Wendepunkt, a.a.O.,S.
329 [47] Ich
beziehe mich auf die gründliche Bibliographie bei Betz, S. 215 ff. [48] "Livre
brun sur l'incendie de reichstag et la terreur hitlérienne." Hg. von Willi
Münzenberg. Paris: Eds.
du Carrefour 1933 [49] "Hitler
m'a dit." Paris, 1939 [50] Monde, Commune, Clarté, Europe, Vendredi [51] Die "Dépeche de Toulouse"
veröffentlichte etwa 80 Artikel von ihm. - Neuausgabe: Propos d'exil. Articles publiés dans "La Dépêche"
par les émigrés du IIIe Reich. Toulouse:
La Dépêche due Midi,
1983. Einl. von Adolf Wild. [52] Heinrich Mann veröffentlichte 133 Artikel in französischen
Zeitungen, Georg Bernhard, der ehemalige Chefredakteur der bedeutenden
"Vossischen Zitung" 91, der junge, rasch
adaptierte Emigrant Ernst Erich Noth 71 (Zahlen
nach Betz, a.a.O.) [53] Hans Jacob: Kind meiner Zeit. Köln
1962, S. 225 [54] Vgl. Ernst Erich Noth: Erinnerungen
eines Deutschen. Düsseldorf 1971, S. 317 ff. - Alfred Kantorowicz: Politik
und Literatur im Exil. (1978) München: dtv 1983, S. 205 ff. [55] Herbert L. Lottman: La rive gauche.
Paris: Ed du Sueil 1981, S. 65 |
Die Einkommensmöglichkeiten waren für die
meisten der literarischen Emigranten äußerst dürftig (ein international
übersetzter Erfolgsautor wie Lion Feuchtwanger war die große Ausnahme); die
"bürgerlichen" Berufe, wie der Arzt Döblin ihn bis dahin ausgeübt
hatte, konnten gegen staatliche Verbote nur illegal betrieben werden;
[41] die Erlangung von
Aufenthaltsgenehmigungen wurde durch eine sture und nachlässige Bürokratie zu
einem Hindernislauf mit Glücksspielmomenten. [42] Man kämpfte um eine provisorische Aufenthaltsgenehmigung
("carte d'identitè")
oder (nach der Genfer Flüchtlingskonferenz 1936) um eine Legalisierung als
deutscher Flüchtling ("certificat d'identité de réfugié");
nur ganz wenige deutschen Emigranten wurden als Franzosen naturalisiert.
[43] So wird das tägliche Leben für die meist
gutbürgerlichen Autoren Erniedrigung und Elend zugleich, mit der ganzen
Familie leben sie in den "siechen Räumen", die "sich
allmählich ganz zum Sarg verengen", in jenen Absteigen, die Walter
Mehring zu den "kleinen Hotels" poetisiert hat. [44] Unter diesen Bedingungen wird aus dem
"Gott" in Frankreich dann jener "Teufel", den Lion
Feuchtwanger so kennzeichnete: "Der Teufel in Frankreich war ein
freundlicher, manierlicher Teufel. Das Teuflische seines Wesens offenbarte
sich lediglich in seiner höflichen Gleichgültigkeit den Leiden anderer
gegenüber, in seinem Je-m'en-foutismus,
in seiner Schlamperei, in seiner bürokratischen Langsamkeit." [45] Dieser "Teufel" war einerseits für
viel Leid (und nach 1940 manchmal sogar für die den Tod bedeutende
Auslieferung) deutscher Flüchtlinge verantwortlich; andererseits gibt es auch
zahlreiche Zeugnisse davon, wie eben durch diese "teuflische"
Unordnung auch Leben gerettet wurden (übrigens auch Feuchtwangers eigenes). Die schlimmste Enttäuschung im Land der
Republik und der Menschenrechte war aber sicher die, daß
die deutschen Emigranten politisch argwöhnisch betrachtet wurden: "Die meisten Leute schauen uns schief an,
nicht weil wir Deutsche waren, sondern weil wir Deutschland verlassen hatten.
So etwas tut man nicht nach Ansicht der meisten Leute. Ein anständiger Mensch
hält zu seinem Vaterland, gleichgültig, wer dort regiert." [46] Auch literarisch wurden sie – außerhalb des
kleinen Kreises französischer Germanisten - nicht übermäßig beachtet. Zwar
erschienen in französischen Verlagen zwischen 1933 und 1940 über 300 übersetzte Bücher deutscher
Autoren, und unter den meistübersetzten dominierten die Emigranten.
[47] Dabei stand allerdings gehobene
Unterhaltungs- und Sachliteratur (Vicki Baum, Stefan Zweig, Ernst Ludwig)
an der Spitze. Bestseller waren das "Braunbuch über den Reichstagsbrand"
[48] und die "Gespräche mit
Hitler" von Hermann Rauschning. [49] In einigen linken und linksliberalen
Zeitschriften [50] konnten Emigranten
veröffentlichen, aber nur Heinrich Mann - der auch selbst fließend
Französisch schrieb - gelang der Zugang zu einer großen Tageszeitung,
allerdings auch nur in der Provinz. [51]
Die Wirkung seiner sehr kämpferischen Artikel war - auf Emigranten
wie auf Franzosen - aber eher gering. Außerhalb der Zirkel politisch
Gleichgesinnter kamen die unermüdlichen Warnungen [52] vor Hitler und einem neuen Krieg kaum an.
Nach einem Vortrag Heinrich Manns, in dem er
vor französischem Publikum, und zwar vor "einflußreichen
Männern der Politik und des öffentlichen Lebens" zur Unterstützung der - angeblich - aufstandsbereiten Massen des "anderen"
Deutschland aufgerufen hatte, "drückten die wenigen Anwesenden Heinrich
Mann ... stumm die Hand wie Leidtragenden bei einer Beerdigung. Man hatte das
'andere Deutschland' zu Grabe getragen." [53] Auch spektakuläre Veranstaltungen, wie der
immer wieder zitierte "Kongreß zur
Verteidigung der Kultur" vom 21. - 25. Juni 1935 in Paris, bei dem die
Prominenz aus Emigration wie der französischen Literaturszene gemeinsam mit
Gästen aus 35 Ländern (besonders bestaunt: die sowjetische Delegation)
zusammen Nazi-Deutschland verurteilten und Kampfentschlossenheit
demonstrierten, trug eigentlich nicht dazu bei, wirklich Brücken zwischen den
deutschen und den französischen Autoren zu schlagen. Das lag nicht nur
daran, daß dieser Kongreß
- wie viele der politischen Emigrantenaktivitäten
- mehr oder weniger deutlich kommunistisch gesteuert war. [54] Eher war es das Eigenleben der Pariser
Literaturszene, in das die deutschen Literaten so gut wie nicht
"eingelassen" wurden. Das "Linke Ufer" (der Seine)
("rive gauche"),
die Pariser Intellektuellen-Szene, schloß sich vor
den deutschen Emigranten ziemlich ab, [55]
vor allem aber war dort die politische Parteiiung
auch zwischen Autoren verschiedner politischer
Lager lange nicht so unversöhnlich [56] , wie es die deutschen Emigranten
gewöhnt waren, die ja das gesamte Weimarer Polit-Spektrum mit allem seinem
Gezänk ins Exil mitgenommen hatten. |
[42]
Exemplarisch die vielfach variierte Schilderung von Theodor Balk: "Préfecture,
fünfte Etage". In: ders.: Das verlorene Manuskript. (Mexiko 1943) [43] Nach: Barbara Vormeier: La situation administrative des exilés
allemands en France (1933-45). Accueil -
répression – internement -déporation. In: Revue d'Allemagne Bd. 18,
2/1986 , S. 185-194. (Als Beispiel für die restriktive Naturalisierungspolitik
gegenüber Deutschen führt Vormeier (S. 189) an, daß 1936/37 31.700 Ausländer in Frankreich naturalisiert
wurden, darunter lediglich 1.515 Deutsche. In Frankreich hielten sich legal
oder illegal ca. 40.000 deutsche Flüchtlinge auf.) - Zur Emigration in Südfrankreich
s.a.: Jacques Grandjonc/Theresia Grundtner (ed.): Zone d'ombres. 1933-1944.
Exil et internement d'Allemands et d'Autrichiens dans le sud-est de la France. Aix-en-Provence: Alinea 1990 [44] Walter Mehring: Die kleinen Hotels.
(1934) Wiederabgedruckt bei: Ernst Loewy: Exil. Literarische und
politische Texte aus dem deutschen Exil 1933-1945.
(1979) Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch (6482) 1982, S. 491 f. [56]
Lionel Richard etwa stellt fest, daß die
bedeutendste französische Literaturzeitschrift, die Nouvelle Revue Francaise (NRF) pro- und antinazistische Beiträge gleichermaßen druckte: Ein gewisser
Liberalismus und seine Mäander. Die Nouvelle Revue
Française und ihr Verhältnis zu
Deutschland (1925-1940). In: Jürgen Sieß (Hg.): Widerstand, Flucht, Kollaboration.
Frankfurt/M 1984, S. 90-111; S. 104. |
[57] Tucholsky zit. bei Flügge, Paris als Utopie, a.a.O.,S. 55 [58] Anna Seghers: Six
jours, six années (pages de journal). In: Europe,
Nr. 188, 1938, S. 542-547; hier: S. 544 f. - Zum etwas anderen Verhältnis
der Franzosen zur Moderne s. a.: Rudolf von Thadden: Aufbau nationaler
Identität. Deutschland und Frankreich im Vergleich. In:
Bernhard Giesen (Hg.): Nationale
und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt/M:
Suhrkamp (stw 940), S. 493-512; bes. S. 503 f. |
Intensiveren Kontakt zur französischen
Literatur wie Integration in die französische Gesellschaft war nur möglich,
wenn man sozusagen "die Seite wechselte", d.h. selbst versuchte,
Autor in französischer Sprache zu werden. Einer der wenigen, die dazu Mut
und Fähigkeit aufbrachten, war der bei seiner Emigration erst 24jährige
Ernst Erich Noth, der in wenigen Jahren zu einem
der wichtigsten Autoren deutscher
Herkunft in der französischen Literaturszene werden sollte. Selbst für die politisch radikalen, ganz auf
Internationalismus eingestimmten kommunistischen Emigranten bestätigte sich
aber im Grunde die Ansicht des Konservativen Sieburg
über die "typisch französische" "Unmodernität"
Frankreichs, die Tucholsky einmal auf die Formel brachte, er habe in Paris
oft das Gefühl, mit Menschen des Jahres 1880 zu sprechen. [57] - Anna Seghers schrieb über die
Vorbereitungen zum Schriftstellerkongreß 1935: "Für die Deutschen haben diese
Vorbereitungen eine andere und tiefernste Bedeutung. Den Franzosen liegen
Improvisationen näher. Mißverständnisse und falsche
Urteile allerorten. Ich denke, die Ursache ist folgende: Krieg und Nachkrieg
haben bei uns alles durcheinander geworfen, von seinem Platz gerückt, sowohl
in unserer Ideenwelt wie in unserm Alltagsleben. Was uns hier am meisten
begeistert, die wunderbare Tradition des revolutionären Gedankens, seine
allmähliche, logische, fast organische Entwicklung und die
Aufgeschlossenheit, die ihm gewisse Teile der liberalen Bourgeoisie entgegenbringen,
das alles erlaubt hier den Menschen, Lebensgewohnheiten zu bewahren, die uns
manchmal überraschen. Bei aller Gedankenkühnheit und zweifelsfreien
Aktivität: erinnert uns die Lebensart eines Malraux oder eines Aragon in
manchen äußeren Zügen nicht eher an die unserer Eltern als an unsere
eigene?" [58] |
|
[59] So etwa
Hermann Kesten: 5 Jahre nach unserer Abreise. In: Das
neue Tage-Buch, Jg. 5, 1938, S. 114-116 [60] Vgl. Köpke, "Innere" Exilgeographie,a.a.O., S. 16 f. [61] Alfred Döblin: Schicksalsreise. Bericht
und Bekenntnis. (1949) Zit. n.: ders.: Autobiographische
Schriften und letzte Aufzeichnungen. Olten und Freiburg im Breisgau
1980, S. 213, 189, 356. |
3. Das Frankreich-Bild im literarischen Text: Die Spiegelung
der Realität Auf den ersten Blick hat sich die
Exilliteratur erstaunlich wenig um Frankreich bekümmert: eine
Auseinandersetzung mit dem Exilland ist selten das Hauptthema eines Romans
oder einer Erzählung. Ordnet man die
Exilliteratur nach Schauplätzen, so nehmen Deutschland, Amerika, Spanien,
die Mittelmeerwelt der Antike mehr Raum ein als Frankreich. Gab es einerseits
unter den exilierten Schriftstellern die Auffassung, daß
man - ungeachtet des "Wohnorts" - sein Metier weitertreiben müsse,
[59] so kann man als Motiv vieler
Autoren auch unterstellen, das zu schreiben, was bei dem ja sehr
eingeschränkten deutschsprachigen Markt gekauft und gelesen werden würde:
Unterhaltung, aber auch Ablenkung und Phantasie waren da eher gefragt. So
setzten viele einfach ihnen naheliegende Themen fort. [60] Alfred Döblin sah im Rückblick sein
Schreiben auch in Frankreich als "eine Realität für sich", als
"Fahrten bei geschlossener Tür ... nach China, Indien, Grönland".
In Frankreich schrieb er, der sogar die französische Staatsbürgerschaft
erlangen konnte, eine Südamerika-Trilogie. Der Bericht über sein Umherirren
nach der französischen Niederlage in Frankreich ist eine
"Schicksalsreise" im metaphysischen Sinn geworden, insofern ihr
reales Ende und mystisches Ziel die Konversion Döblins zum Christentum war. In einem
"fürchterlichen Zustand (der) Vereinsamung" fühlt sich Döblin
zwischen Eisenbahnwaggons und Auffanglagern für
Flüchtlinge "Nackt wie Robinson" und voller Selbstmordgedanken. Die
katholische Religion erst vermittelt ihm die Erfahrung, "daß
sie den Menschen ... mit dem Weltablauf zusammenschließt".[61] |
|
[62] Lion Feuchtwanger: Exil.
Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch (2128) 1979, S. 126 [63] Lutz Winckler: Kunst und Politik in Lion Feuchtwangers
Roman "Exil". In. Revue d'Allemagne, Bd. 18,
2/1986, S. 353-366 [64] Vgl. zur Kritik: Klaus Modick: Vernarbte
Wunden oder "Was wir an ihm problematisch finden". In:
Wilhelm von Sternburg (Hg.):
Lion Feuchtwanger. Materialien zu Leben und Werk.
Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch (6886) 1989, S. 278-291 [65] Rundschreiben des französischen Innenministeriums vom
17.9.1939, zit.n. Zone d'ombres,
a.a.O., S. 204 f. [66] Feuchtwanger, Teufel, S. 76,
139, 157 [67] Claudie Villard: Feuchtwanger et la France: Mai 1940 ou la rencontre avec le diable
du "je-m'en-foutisme". In: Revue
d'Allemagne, Bd. 18, 2/1986, S.337 – 352 |
Einer der wenigen Romane, die sich
ausschließlich auf die deutsche Emigration in Frankreich konzentrieren, ist
Lion Feuchtwangers "Exil" (1939). Der Blick ist hier allerdings so
völlig auf die Emigranten und ihre deutschen Gegenspieler gerichtet, daß nur gelegentliches "Lokalkolorit" den
Eindruck hervorruft, daß die Redaktionsstuben und
Hotelzimmer sich tatsächlich in
Frankreich befinden. Die realen Mühen des Alltags, des Geldmangels, der bürokratischen
Hemmnisse werden eindringlich geschildert (Anna, die Frau der Hauptfigur Sepp
Trautwein zerbricht daran). Im Kern ist es ein Schlüsselroman, der damals
bekannte reale Ereignisse (den Skandal um das "Pariser Tageblatt"
und die Entführung des Journalisten Berthold Jacob durch Naziagenten)
als Handlungsmotiv verwendet. In dem opportunistischen, machtgierigen und
eitlen deutschen Journalisten Wiesner ist unschwer Friedrich Sieburg wiederzuerkennen. Die Emigranten des Romans
widmen sich ausschließlich dem Kampf um das deutsche Volk, von dem sie
meinen, daß die Majorität sich in Opposition zu
Hitler befinde. [62] Der Roman ist ein
Dokument der politischen Volksfront, er ist auf Harmonisierung von Konflikten
angelegt, mit dem Ziel, in der Hauptfigur, dem Musiker Sepp Trautwein eine
Versöhnung von Geist und Macht exemplarisch und vorbildlich vorzuführen.
[63] Der Stil des politisch-taktischen
Überreden-Wollens, [64] ist übrigens
auch in Feuchtwangers autobiographischem Bericht vom "Teufel in
Frankreich" noch erkennbar: die
Franzosen, mit denen Feuchtwanger und seine Leidensgefährten in den
verschiedenen Internierungslagern für "verdächtige, gefährliche und
unerwünschte Ausländer" [65] zu
tun haben - die Wachsoldaten, die Offiziere - sind vielleicht allzu gehorsam,
zu wenig um das Wohl ihrer Gefangenen bemüht, aber sie sind nie bösartig. Das
sind allenfalls die auch internierten Sympathisanten der deutschen Nazis.
Die Soldaten sehen eigentlich selbst wenig Sinn in dem, was sie tun: "Im übrigen
waren sie skeptisch, sie glaubten nicht an ihre Regierung, sie glaubten, der
ganze Krieg sei Schwindel, nur dazu bestimmt, einige reiche Herren noch
reicher zu machen." Verantwortlich sind "die französischen
Faschisten" und "die Nazis". [66] Indem er die Menschen vom politischen
System unterscheidet und "Dummheit und Herzensträgheit"
verantwortlich für ihr Handeln macht, eröffnet er eine Hoffnung für Handeln.
[67] |
|
[68] Vgl. mit
anderen Beispielen (Amerikakritik): Christoph Eykman:
Zwischen Zerrbild, Schreckbild und Idealbild: Die
Auseinandersetzung mit dem Asylland im
Exilschrifttum. In: Helmut F. Pfanner (Hg.). Kulturelle Wechselbeziehungen im Exil -
Exile across Cultures. Bonn:
Bouvier 1986, S. 35-48 [69] Wulf Köpke: Die Flucht durch Frankreich. Die zweite
Erfahrung der Heimatlosigkeit in Berichten der Emigranten aus dem Jahre
1940. In: Jahrbuch Exilforschung, Bd. 4, 1986, S, 229-242. [70] Vgl. neben Köpke, Flucht, die Analyse
von Frithjof Trapp: Fragwürdige "Realismus"-Behauptungen. In: ders. / Edita Koch (Hg.): Realismuskonzeptionen der Exilliteratur zwischen 1935
und 1940/41. Tagung der Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur
1986. In: Exil. Sonderband 1, Maintal 1987, S. 114-126 [71] Vgl. dass. in romanhafter Form auch
bei Adrienne Thomas: Reisen Sie ab, Mademoiselle! (Stockholm
1943). Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch (5956) 1982, S. 212. - Noth, Guerre, S. 113 [72] Noth, Guerre, S.41,
319. Die entsprechende Figur bei Habe analysiert Trapp, "Realismus"-Behauptungen, S.118
f. [73] Noth, Guerre, S.
111, 41. [74] Noth, Guerre, S. 95,
114. - Vgl. ausführlich: Thomas Lange: Verratener Geist - Besudelter
Krieg. Deutsches Bildungsbürgertum
und Gesellschaftsanalyse am Beispiel zweier Essays
von Ernst Erich Noth. In: Exil, 1/1988, S.
39-59 [75] Anna Seghers: Transit. Büchergilde
Gutenberg (Bibliothek Exilliteratur) 1985, S. 27,19 [76] Seghers, Transit, S. 149, 98, 109, 141 [77] Hans Albert Walter macht in seinem Kommentarband, in dem er die
vielfältigen Anspielungsebenen entschlüsselt (Anna
Seghers' Metamorphosen. Transit - Erkundungsversuche in einem Labyrinth.
Frankfurt am Main - Olten - Wien: Büchergilde Gutenberg 1985) darauf
aufmerksam (S. 10), daß Anna Seghers sich im Zusammenhang
mit diesem Roman einmal von der Widerspiegelungstheorie distanziert habe. [78] Köpke, Flucht,a.a.O.,S. 241 [79] Brief an Alfred Kantorowicz, 3. März 1943. In: DIE ZEIT, Nr. 1,
1.1.1982, S. 29 |
Bei Feuchtwanger ist ein Muster zu erkennen,
das auch andere Texte über das "débacle" Frankreichs strukturiert: [68] indem die Niederlage erklärt wird, werden
die Fronten abgesteckt. Schuld ist nicht die eigene Schwäche (oder mangelnde
Motivation), sondern der Verrat der Verantwortlichen. Die Leser sollen motiviert und mobilisiert werden, indem
ein besiegbarer Gegner ausgedeutet wurde: Die Niederlage Frankreichs wird als
Sabotage durch die Offiziere und das Bürgertum dargestellt. Den deutschen
Soldaten sollen den Nimbus der
Unbesiegbarkeit verlieren, daher werden sie
als arrogant und dumm geschildert.[69] Die so entstehenden Texte überschreiten
die Gattungsgrenzen. Die
autobiographischen Texte enthalten erfundene, symbolstarke Szenen, die
politischen Essays werden mit reportagehaften oder
auch fiktionalen Elementen angereichert. Es werden Mythen aufgebaut: die der
Verschwörung von Geld und Machtgier auf der einen Seite, die der aufrechten
Kämpfer für Wahrheit und Gerechtigkeit auf der anderen Seite. Hans Habes (bald nach Erscheinen verfilmter) Bericht "Ob
tausend fallen" (1941) wie auch André Simones politische Flugschrift
"J'accuse" sind bekannte Beispiele
dafür. [70] Ernst Erich Noth hat auf Französisch in den USA eine tagebuchähnliche
Chronik der Jahre von 1938 bis 1941 unter dem Titel "La guerre pourrie"
herausgebracht, die den Wechsel des politischen Klimas in Frankreich (von der
Neutralität zum Pro-Hitlerismus) ebenso darstellt wie die Desillusionierung
der Emigranten. Noth
schildert bis in die Okkupationszeit hinein (er lebte nach dem
Waffenstillstand ein Jahr lang im Untergrund, bis er ausreisen konnte) die
Standardsituationen, die dem Leser einen erkennbaren Feind weisen: die
Salons der Bourgeoisie und der Intellektuellen, die Hitler bewundern und
daher gar nicht kämpfen wollen, da sie meinen: "Lieber Hitler als Léon
Blum"; [71] und auf der anderen
Seite gegen Schluß des Buches jenen anonymen
französischen Offizier, der - von beinahe mythischer Qualität - für die noch
geheime Armee des Widerstands steht, ein Patriot außerhalb der Parteien,
der die bis dahin verborgenen Tugenden des Volkes und die Hoffnungen auf
einen Sieg verkörpert. [72] Noth nimmt hier übrigens insofern eine differenziertere Position ein, als er den
Defaitismus nicht nur bei den gehobenen sozialen Schichten sieht, sondern
auch bei der Masse und bei den Kommunisten. [73] Allerdings trennt er sprachlich stets die
verführte Masse und das Volk; im letzteren finden sich die "braves gens" und "vrais Francais". Denn Noth macht
noch einen Schuldigen aus: die Propaganda, die auch dafür
verantwortlich ist, daß dieser Krieg
"besudelt/beschmutzt" (pourrie) wurde:
Goebbels sei es gelungen, den Widerstandswillen der Franzosen zu vergiften,
den Sinn für Gerechtigkeit und Demokratie bei ihnen auszurotten; so habe die
Lüge gesiegt. [74] Unter den Texten, die die Exilsituation
thematisieren, ist zweifellos Anna Seghers' Roman "Transit"
derjenige mit der höchsten literarischen Dichte. 1943 in Mexiko
fertiggeschrieben, wurde er erst 1948 (in Konstanz) veröffentlicht. Zu Zeiten
der auf die literarische Widerspiegelungs-Doktrin verpflichteten DDR wurde
dieser Roman ihrer prominentesten Autorin allerdings wenig zur Kenntnis
genommen: er weicht doch erheblich von den üblichen Anforderungen ab. Zwar
ist der Held ein antifaschistscher Arbeiter, der
sich im Milieu kommunistischer Spanienkämpfer bewegt; und die Franzosen
werden nach dem schon bekannten Schema geschildert: einerseits die
geldgierige Hotelbesitzerin, der die Deutschen lieber sind "als die
Roten", andererseits die klassenbewußten
Arbeiter, die wissen, daß der Sieg der Deutschen
"den hiesigen Herren zupaß" kommt.
[75] Hauptinhalt des Romans sind die
Fußangeln der Bürokratie in Marseille, das seit 1940 der letzte mögliche
Fluchthafen für die deutschen Emigranten war. Vor der Ausreise und Rettung
verschlingen sich die Wege zu Transitvisa, Schiffstickets, Ausreisepapieren, Bürgschaftserklärungen u.a. bürokratischen
Hindernissen zu einem schier unüberwindlichen, zur Verzweiflung treibenden Labyrinth.
Anna Seghers Kunstgriff ist nun, daß sie diesen
(auch von ihr erlebten) realen Überlebenskampf zu einem "Spiel um den
irdischen Aufenthalt" stilisiert, in dem die "Mittransitäre"
geradezu allegorische Qualität gewinnen und Marseille zum Symbol des
"Jahrtausende alten" antiken und christlichen Europa schlechthin
wird. Diese "letzte Herberge in der alten Welt" [76] erhält einen mythischen Nimbus; aus der
Niederlage Frankreichs, der Rettung vor den Nazis wird ein "Transit",
ein Übergang fast in der Manier einer "rite de passage"
in einen (im Gegensatz zu den Forderungen des "sozialistischen
Realismus") nicht näher definierten neuen Zustand. [77] Wulf Köpke hat darauf aufmerksam gemacht, daß mit der Flucht aus Frankreich, dem Verlassen
Kontinentaleuropas für die meisten Exilanten die "eigentliche
Emigration" erst begonnen hätte. [78]
Die biographischen Brüche bei Döblin, Heinrich Mann und anderen, die
sich in die USA retten konnten, sind ja bekannt. "Eindrücke belanglos"
schrieb der zutiefst deprimierte Heinrich Mann nach drei Jahren USA. [79
] Wenn nun die Realität
"Frankreich" nicht den Erwartungen standgehalten hatte, - wie war
es nun aber mit der "Idee Frankreich", den Idealen, Vorstellungen, Streotypen, Utopien, die damit verknüpft waren? |
|
[80] Herbert
Lehnert: Die Krisen der Autoren-Autorität in der Exilliteratur. - In:
Edita Koch/Frithjof Trapp (Hrsg.): Realismuskonzeptionen,a.a.O., S.
1-11. - Vgl. auch: Gert Sautermeister: Thomas
Mann: Volksverführer, Künstler-Politiker, Weltbürger. Führerfiguren
zwischen Ästhetik, Dämonie, Politik. In: Jahrbuch Exilforschung,
Bd.1., 1983, S: 302-321 [81] Feuchtwanger, Exil, a.a.O., S. 781 [82] Vgl. Betz, Exil, S. 125 ff. - Claudie Villard: Die Rezeption
von Lion Feuchtwangers "Moskau 37" in den Exilzeitschriften. In:
Grunewald/ Trapp, Autour du
"Front Populaire Allemand",
a.a.O., S. 289 - 313. - Lange, Verratener Geist, a.a.O.,S. 45 f. - Vgl. auch: Bernhard Furler:
Augen-Schein. Deutschsprachige Reisereportagen über Sowjetrußland 1917- 1939. Frankfurt/M: Athenäum
1987 [83] Julien Benda: Littérature et Communisme. In: Les Nouvelles Littéraires, 29.6.1935, S. 3 - Brechts Rede bei Loewy, a.a.O., S. 614 [84] Im
folgenden nach: Michel Grunewald: Das neue Tage-Buch" et la
France. In. Revue d'Allemagne Bd. 18,
2/1986, S. 221 - 236 [85] Lutz Winckler: Der 14. Juli im "Pariser
Tageblatt" und der "Pariser Tageszeitung". In: Grunewald / Trapp: Autour du
Front Populaire Allemand, a.a.O.,
S. 149- 168 [86] Grunewald, Das "Neue Tage-Buch",
a.a.O., S. 234 ff. (Schwarzschild war bis 1933 Chefredakteur des
"Berliner Tageblatts"); Winckler, Der 14. Juli, a.a.O.,S. 162 f..
– Bezeichnend für die Lage der Blätter ist, daß
beide auch nach dem Ausbruch des Kriegs weiter erscheinen durften, wenn
auch mit Zensurauflagen; auch früher schon war
den deutschen Emigranten verboten, an politischen Demonstrationen (z.B.
zum 14. Juli 1935) teilzunehmen. (Winckler, S. 156) [87] Winckler, S. 162 f. [88] Betz, Exil, S. 160 ff. - Vgl. weiterhin: Peter Roessler:
Citoyen und Diktatur an sich. Die Französische Revolution als
Stoff der Dramatik des antifaschistischen Exils und der Nachkriegszeit. In: Mitt. des Instituts für Wissenschaft und Kunst, Jg. 42,
1987, H.2, S. 60-63 [89] Betz, Exil, S. 170 f. [90] Betz, Exil, S. 168 ff. u. S. 16 f. - Über die Kollaboration des ja tatsächlich
vorhandenen "anderen", pro-nazistischen Frankreich auch im geistigen
Bereich ist hier nicht zu berichten. Interessanten, wenn auch stark
subjektiv rechtfertigenden Aufschluß bietet der
Bericht des deutschen Zensors der Pariser Militärbehörde, Gerhard Heller: Un Allemand à Paris. 1940-1944. Paris
1981. - Vgl. wieter: Karl Kohut
(Hrsg.): Literatur der Résistance und Kollaboration in Frankreich. 3 Bde.,
Wiesbaden u. Tübingen 1982-84 [91] Albrecht Betz: Politisierung des Mythos. Jeanne d'Arc als "Simone" bei Brecht und Feuchtwanger. In:
Trapp / Koch, Realismuskonzeptionen,
a.a.O., S. 94-104 [92] Vgl. Margot Taureck: Gespiegelte
Zeitgeschichte. Zu Lion Feuchtwangers Romanen "Der falsche Nero",
"Die Brüder Lautensack" und
"Simone". In: Sternburg (Hg.):,
Lion Feuchtwanger, a.a.O., S. 151-173 [93] Betz, Exil, S. 156 [94] Heinrich Mann: Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Reinbek: Rowohlt 1964, S. 169 f. - Der
Abschnitt "Die Machtergreifung" ist Teil des Kapitels "Fröhlicher
Dienst". [95] Heinrich Mann: Rückblick vom Jahr 1941 auf das Jahr 1939.
(Erstmals aus dem Manuskript veröffentlicht in:) Heinrich Mann: Das
Führerprinzip / Arnold Zweig: Der Typus Hitler. Texte zur Kritik der
NS-Diktatur. Hrsg. von Werner Herden. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag
1991, S. 46 [96] Betz, Exil, S. 159 [97] Klaus Thoenelt: Heinrich
Mann als Exil-Autor in Frankreich: Moralismusdarstellung
und moralistischer Darstellungsmodus in den
Henri-Quatre-Romanen. In: Pfanner, Kulturelle Wechselbeziehungen, a.a.O.,S. 103-113; hier: S. 112 [98] Heinrich Mann: Culture et Internationalisme. In:
Europe Nr. 188, 1938, S. 539-542. |
4. Das Frankreich-Bild im literarischen Text: Die Idee
Frankreich Für die literarische Emigration in
Frankreich hat die staatliche oder
gesellschaftliche Utopie ihren Ort weniger in Paris als in Moskau. Die
politisierten Intellektuellen waren nicht unbedingt Demokraten, sondern
hielten politisch an autoritären, obrigkeitsorientierten Vorstellungen fest,
an einer "Utopie der guten Autorität" (H.Lehnert).
[80] Denn die Verwirklichung der
Ideen, für die das Stichwort "Französische Revolution" stand, wurde
nicht in der krisengeschüttelten französischen Dritten Republik (mit
den von der Volksfrontregierung gerade
mühsam ausgehandelten sozialen Minimalrechten der
"Accords de Matignon"
- Vierzigstundenwoche, bezahlter Urlaub u.a.) gesehen, sondern in der sozialistischen Sowjetunion.
Dorthin, "in sein drittes Jahrtausend", bricht Hanns Trautwein in
Feuchtwangers Roman "Exil" am Ende auf und sein Vater Sepp bekennt:
"Ich bin ein Sympathisierender". [81] Die heftigsten literarischen und
politischen Diskussionen zwischen deutschen und französischen Intellektuellen
fanden über die Moskau-Reiseberichte von André Gide ("Retour de l'URSS", 1936) und Feuchtwanger ("Moskau
1937") statt. [82] Auf dem "Kongreß zur Verteidigung der Kultur" wurde - meist
chiffriert unter dem Signum "militanter (oder: realistischer)
Humanismus" - mehr das Modell Sowjetunion als die Idee "Frankreich"
angepriesen. Es herrschte keineswegs Einigkeit darüber, welche
"Kultur" denn nun verteidigt werden sollte. Gegen Julien Benda als
den geradezu klassischen Vertreter der "autonomie
de l'esprit" standen die aus bündnistaktischen
Gründen meist camouflierten, nur selten - wie von Brecht - offengelegten marxistschen Ideen: er wies (zum Ärger der kommunistischen
Veranstalter) darauf hin, daß "die Wurzel
allen Übels die Eigentumsverhältnisse sind". [83] Nur die links-liberale Exil-Journalistik
bewahrt konsequent ihre Weimarer Linie. Das von Leopold Schwarzschild
herausgegebene "Neue Tage-Buch" führt seinen deutschen Lesern die
französische Demokratie als gut funktionierendes Modell vor. [84] Sich zu den universalistischen Grundwerten
der westlichen Zivilisation zu bekennen, wie sie in den Prinzipien von
Gewaltenteilung und Menschenrechten formuliert waren, dazu bot sich an den
symbolischen Daten der französischen Geschichte Gelegenheit. Der
französische Nationalfeiertag, der 14. Juli wird in der "Pariser
Tageszeitung" stets ausführlich gewürdigt und zwar deutlich mit der
Tendenz, die Identität von demokratischem Staat und Volk, von
funktionierender Demokratie und historischem Bewußtsein
als vorbildlich herauszustellen: das Fehlen dieser Identität war ja das
Hauptversäumnis der Republik von Weimar. [85]
Insbesondere die 150-Jahrfeiern der Revolution im Jahr 1939 gaben
diesen beiden liberalen Zeitungen ausführlichen Anlaß,
sich zur Realisierung der Idee von Demokratie und Menschenrechten noch einmal
zu bekennen. Allerdings war nun die politische Lage in den Augen von
Schwarzschild oder Theodor Wolff schon
so aussichtslos geworden, daß sie eine Übertragung
der "französischen Zustände" auf Deutschland nicht mehr für möglich
hielten, ja skeptisch bis geradezu verzweifelt hinsichtlich der
französischen Außenpolitik wegen ihrer zu großen Nachgiebigkeit gegenüber
Hitler waren. [86] Nur in den Zeitschriften der unabhängigen
Linken ("Clarté", "Die
Zukunft") [87] und von Heinrich
Mann wurde noch 1939 an eine Übertragung der revolutionären Ideale auf
Deutschland geglaubt: es waren Illusionen eher moralisch als realpolitisch
Urteilender, die auch jetzt noch am revolutionären Frankreich-Bild
festhielten. [88] Welchen
ideologischen Stellenwert diese "Ideen von 1789" aber auch für die
Gegenseite, die nationalsozialistische Regierung und die deutsche Besatzung
hatten, wurde 1940 unterstrichen, als Alfred Rosenberg, als
"Beauftragter des Führers für die weltanschauliche Schulung der
NSDAP" einer der Hauptideologen des Dritten Reiches, in der
Abgeordnetenkammer zu Paris den endgültigen deutschen Sieg über die Ideen von
1789, über "Liberalismus, Marxismus, Judentum, Freimaurerei ... Toleranz
und grenzenlose Freiheit" verkündete. [89] Aktiven Anteil an der nun folgenden
"Umpolung" des französischen Kulturlebens hat auch Friedrich Sieburg, nun Botschaftsrat an der Deutschen Botschaft in
Paris. [90] Im Gegensatz zum "14. Juli" eignete
sich Jeanne d'Arc, obwohl von Schiller zur
Freiheitsheldin erhoben, wenig als
literarisches Symbol für die deutsche Emigration. Denn Jeanne d'Arc war vor 1939 in Frankreich von konservativen
Gruppierungen zur Identifikationsfigur gegen die
Volksfront aufgebaut worden, was von der Vichy-Regierung konsequent
fortgesetzt wurde. [91] Nur Bertolt
Brecht und Lion Feuchtwanger nutzten diesen Mythos literarisch, wobei sie ihn
freilich derart auf ihre Absichten umfunktionierten, daß
von der "französischen"
Geschichte der Allegorie wenig blieb. Denn gerade die patriotischen
und nationalen Elemente lehnten diese beiden Autoren ab, ließen sie nur
taktisch in ihren Adaptionen des Stoffes zu. Brechts Stück "Die Gesichte
der Simone Machard" (1942/43) arbeitet die
Figur der "Johanna" zur Klassenkämpferin um, was ihm allerdings
dramaturgisch nur gelingt, weil er Simone als ein noch wenig bewußtes Kind darstellt, dem auch die patriotischen
Visionen quasi als kindliche Phantasien durchgehen können. Für Feuchtwanger,
dessen Roman "Simone" (1944) aus einer engen Mitarbeit an Brechts
Stück entstand, ist diese Gestalt die Möglichkeit, sein negatives
Frankreich-Bild aus den Zeiten der Internierung zu korrigieren, was
allerdings nur um den Preis mancher historischer Gewaltsamkeit (etwa der
Ineinssetzung von "Johanna" mit der Französischen Revolution) zu erreichen
ist. [92] Der schon 65jährige Heinrich Mann lebte
gewissermaßen sein Frankreich-Bild im Exil: er wurde ein deutscher homme de lettres, ja ein poète engagé vor Sartre, der
sein image von Frankreich als politische Waffe wie
als literarisches Motiv verwendete. Neben zahllosen tagesaktuellen
Stellungnahmen schuf er in den zwei umfangreichen Bänden der "Jugend
und Vollendung des Königs Henri Quatre" (1935
u. 1938) sein literarisches Hauptwerk. Er verbindet in einem historischen
Roman die geschichte Frankreichs mit der Geschichte
seiner Gegenwart, d.h. den Bemühungen um die Volksfront. Sein König Heinrich
IV. verkörpert schon lange vor der Französischen Revolution das, wofür
"Frankreich" bei Heinrich Mann steht: die Verbindung von Macht und
Geist. Henri Quatre ist ein engagierter
Intellektueller auf dem Königsthron, [93]
der Menschenliebe mit militantem Humanismus durchsetzt. Seine milde
und verzeihende "Machtergreifung" (der Einzug in Paris,
22.3.1594) ist gerade das Gegenteil jener des Jahres 1933: er verbreitet
"eine Neuigkeit mit Namen 'Menschlichkeit'", und seine Gegner legen
die Waffen nieder, "da man ihnen entgegenkam wie anderen Menschen
auch". [94] Der "gute König
Henri" hat "Gewissensfreiheit erkämpft" und "den Unterbau
der ersten Demokratie" gelegt. [95]
Dies ist unhistorisch wie vieles in diesem Buch, das dennnoch "Glücksfall eines historischen Romans"
[96] zu nennen ist. Nicht nur in Stoff
und geistesgeschichtlicher Durcharbeitung ist es der einzigartige Versuch
einer Symbiose von Gegenwart und Vergangenheit, von Deutschland und
Frankreich, sondern auch in der Sprache: am Ende der Kapitel sind (im 1.
Teil) jeweils "moralités" in
französischer Sprache eingefügt, Lehren und Quintessenzen moralischer Art
aus dem Handeln der Figuren, so daß man hier von
einem "deutsch-französischen Bildungsroman" sprechen kann.
[97] Heinrich Manns "Utopie der guten Autorität" war allerdings schon zu Lebzeiten
widerlegt. Er war sich dessen auf sehr widersprüchliche Weise bewußt. In seinen fortdauernden Bemühungen um eine
Synthese von "Deutschland -
Frankreich" oder von "Macht und Geist" sah er schon 1938 eine
Verwirklichung, sprach - das Wort hatte noch nicht die spätere negative
Bedeutung - von einer "collaboration intellectuelle et régulière
franco-allemande", die sich etabliert habe.
Das Beispiel, das er dafür nennen kann, ist freilich nur - er selbst: der
deutsche Roman über ein Thema französischer Geschichte, der von einer Pariser
Tageszeitung wie eine "production
nationale" begrüßt würde, ist natürlich sein "Henri Quatre". [98]
Schon unmittelbar nach Kriegsbeginn gestand er in Briefen seine
Enttäuschung ein: er sprach von einer "völligen Demütigung" für ihn
und die Opposition gegen Hitler, davon, daß die
"Ereignise um vieles das übertreffen, was ich
erwartet habe". [99] Der Stolz
auf seinen Roman, der ja auch eine weitgehende Identifikation mit Frankreich
beinhaltete, verband sich bei ihm mit Bitterkeit gegen manche Franzosen:
"Nicht viele mitlebende Franzosen haben für
Frankreich mehr getan als er (= H. M.) mit einem Roman." Das Maß seiner
politischen Fehleinschätzungen - oder
der literarischen Wunschbilder, die er für Wirklichkeit nehmen wollte
- wird deutlich in seinen Erinnerungen, wo er die Verbindung von "Geist
und Macht", für die auch sein guter König Henri stand, nun auf drei
Politiker erweitert: "Kamerad Stalin, Roosevelt und Churchill ... diese
drei Intellektuellen" hätten "die Ehre des Zeitalters ... gerettet." [100] |
[99] Brief an Louis Gillet vom 10. 9.
1939. Veröffentlicht von Albrecht Betz: "Contre
la Barbarie envahissante".
Quelques lettres inédites de Heinrich Mann
et de Franz Werfel à Louis Gillet. In: Zone d'ombres, a.a.O., S. 173- 185; hier: S. 181 [100]
Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt. (1946) Reinbek:
Rowohlt (Nr. 1986) 1976, S. 315, 338 |
[101]
Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Frankfurt/M: Societäts
Verlag 1930 [102] Siegfried Kracauer: Pariser Leben. Jacques Offenbach
und seine Zeit. Berlin- Darmstadt - Wien: Deutsche Buchgemeinschaft 1962, S.
265, 289 [103] Zur
Biographie: Thomas Lange: Sprung in eine neue Identität. Der Emigrant
Ernst Erich Noth. In: Jahrbuch
Exilforschung Bd. 2, München 1984, S. 121-142 [104] Noth, Erinnerungen,
a.a.O., S. 257 [105] La tragédie
de la jeunesse allemande. Paris: Grasset 1934. (Bernard Grasset
war auch der Verleger der französischen Übersetzung von Sieburgs
"Gott in Frankreich?"). - Zur Rolle und Leistung Noths als Autor in französischen Zeitschriften s.:
Thomas Lange: Ernst Erich Noth als Vermittler
zwischen deutscher und französischer Literatur. In: Revue d'Allemagne Bd. 18, 2/1986, S. 250 - 264 [106] Ernst Erich Noth: D'Orange à Mornas. La
Quinzaine du Grand Mur. In: Les Nouvelles Littéraires, 7.8. 1937, S. 8 [107] Ernst Erich Noth: Un grand provencal: Edouard
Aude. Les hommes du Nord et l'attrait du Midi. In: Les Nouvelles Littéraires,
29.5.1937 - Vgl. auch Noths
bewußt gegenläufige Nietzsche-Interpretation: Nietzsche et la Méditerranée. In: Le Feu, Revue Occitane de l'Humanisme méditerranéen. Nouvelle Série, Nr.2, Sept.-Oct. 1939,
S. 73-79 [108] Petra Lingerat / Sybille Narbutt: Deutschland und die deutschen in den Cahiers du Sud 1933-1942. Mémoire de Maitrise d'Allemand. Juli
1983 (Typoskript, 7 Bde.) [109] Ernst Erich Noth: La voie barrée. Paris: Plon 1937. Erstmals deutsch, vom Autor übertragen:
Stuttgart: Huber Frauenfeld 1982, S. 337, 349 [110] Frédéric Lefèvre: Une journée à Aix-en-Provence avec Ernst Erich Noth, romancier allemand. In: Les Nouvelle Littéraires,
5.2.1938, S. 1 u. 6 [111] Zur geistesgeschichtlichen Einordnung s. Lange, Verratener
Geist,a.a. O., S.
41 ff. [112] Noth, Homme, S. 109
(zit. n. dem deutschen MS, Bl. 72) |
5. Exilerfahrung als Paradigma der modernen Existenz: Ernst
Erich Noth Im Grunde endet mit Heinrich Mann die
literarische Tradition des von Heine geprägten deutschen Frankreich-Bildes.
Die wechselseitigen Stereotypien hatten eine reale Widerlegung erfahren, wie
sie nicht brutaler sein konnte. Noch im Exil deutete sich die Möglichkeit zu
einer weniger völkerpsychologischen, weniger starr dichotomischen
deutsch-französischen Imagologie an, - Wege, die
freilich nach 1945 kaum wieder aufgenommen wurden. Zwei Autoren machten auf
ungewöhnliche Weise Frankreich zum Thema.
Beide standen außerhalb der politischen und literarischen
Gruppierungen des Exils, beide kannten einander noch aus Zeiten ihrer
gemeinsamen Arbeit bei der "Frankfurter Zeitung": der eine als
etablierter Feuilletonredakteur, der andere als junger Anfänger. Siegfried
Kracauer, der spätere bedeutende
Filmhistoriker, Verfasser eindrucksvoller Reportagen [101] über den sozialen und kulturellen Wandel
einer ganzen Generation, schrieb im Pariser Exil eine
"Gesellschaftsbiographie" über den Operettenkomponisten Jacques
Offenbach, die er "Pariser Leben" nannte (1937). Fernab der üblichen
Klischees werden die Gesellschaft der 2. Republik und des 2. Kaiserreiches in
Frankreich als Paradigma für die progressiven Ursprünge moderner
Massenunterhaltung dargestellt: Offenbachs Operetten verkörpern
"demokratisches Lebensgefühl" sind eine Kunst mit
"revolutionärer Funktion". [102]
Bei Kracauer geht es auch in historischem Gewand sozial konkreter zu,
es bleibt nicht bei abstrakten Deklamationen der "Ideen von 1789"
oder einem "militanten Humanismus". Das Buch kann selbst als
operettenhaft-leichte Vorahnung jener genialen Mammutarbeit
gesehen werden, die gleichzeitig Walter Benjamin in der Bibliothèque
Nationale bei seinen Vorstudien zum "Passagenwerk" - "Paris -
Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" leistete. Konventioneller begann ein heute kaum noch
bekannter Autor, von dem in den dreißiger Jahren aber mehr Bücher ins
Französische übersetzt wurden als von Heinrich Mann: Ernst Erich Noth. [103] Unter
den emigrierten Autoren gehörte er zu denen, die noch ganz am Anfang ihrer
Karriere standen, noch nicht durch Gewohnheit und Erfolg festgelegt waren
und daher in der Emigration auch ein "Abenteuer" sehen konnten.
[104] Noth
etablierte sich sehr rasch als Autor in französischen Zeitschriften, wobei er
seit seinem gerade zum Massaker am 30. Juni 1934 erschienenen Buch über die
"Tragödie der deutschen Jugend" als Fachmann für deutsche
Angelegenheiten galt. [105] Auch Noth folgte zunächst bestimmten Linien eines traditionellen
Frankreich-Bildes, wenn er die lateinischen Wurzeln des französischen Südens
betonte, die "lecon de la civilisation
lumineuse" [106] , die Verbindung von
lateinischem und germanischem Geist, die im Midi Maß, Gleichgewicht und
Harmonie, kurz die Elemente einer menschlichen Zivilisation hervorbrächte.
[107] Er setzte sich selbst die
Aufgabe, zwischen deutscher und französischer Literatur zu vermitteln, was er
in zahlreichen Beiträgen für mehrere französische Zeitschriften realisiert
hat, insbesondere auch als Redakteur der avantgardistischen
Kulturzeitschrift "Les Cahiers du Sud" -
übrigens der einzige deutsche Emigrant in solch einer Position in einer
französischen Zeitschrift. [108] Kennzeichnend für ihn ist ein Nebeneinander
von fiktionalen, journalistischen und essayistischen Texten. In einem
autobiographischen Roman mit dem charakteristischen Titel "Weg ohne
Rückkehr" schildert er einen Emigranten, der "bereit (ist), in der
Fremde aufzugehen, vielleicht sich in ihr zu verlieren". Noth entwirft hier weder Utopie noch Idylle. Zwar heißt
es beim Rückzug in die französische Provinz: "Alles atmete Frieden, Maß
und Erfüllung," doch zugleich ist sich der Held bewußt,
daß er nur
eine "Gnadenfrist" in einer Welt hat, die die
"Todesfanatiker" in Scherben
schlagen würden, aus denen dann nicht unbedingt ein neues Haus zu errichten
wäre. [109] Dieser Roman war für Noth auch ein "Abschied" aus der deutschen
Literatur, [110] an den sich die Phase
eines Übergangs in die französische Kultur und Sprache anschloß.
Theoretisch fundiert wurde das in dem Essayband "L'Homme
contre le Partisan" (1938). [111] Hier wird der "Mensch", der (auch
als Künstler) bewußt "ja" sagt zu den
westlichen Demokratien, dem "Parteigänger" gegenübergestellt, der
seinen Intellekt und seine Kreativität einer politischen Absicht unterordnet.
Noth entwickelt hier frühe Formen einer Totalitarismusanalyse und ein eindeutiges Bekenntnis zur
westlichen Demokratie: Er tritt dafür ein "die Demokratie und alle 'gemäßigten'
Staatsformen des heutigen Europa als den Ort zu bezeichnen, wo sich die
konstituierenden Eigenschaften des Menschengeistes noch am freiesten und
deshalb am wirksamsten und authentischsten entfalten können, und die durch
ihr bloßes Vorhandensein der Menschheit noch die größten freiheitlichen
Entwicklungsmöglichkeiten garantieren". [112] |
|
[113] Julien
Benda: La civilisaion
pourrait périr aussi par une certaie paix. In: Europe nouvelle, Nr. 1090 vom
31.12.1938, S. 674/5 - ders.: Du role des Clercs dans la cité. In: Europe nouvelle, Nr. 1062 vom
18.6.1938, S. 645/6 und Nr. 1063 vom 25.6.1938, S. 674/5 [114] Ernst Erich Noth: Der Einzelgänger. Roman.
Zürich: Schweizer Spiegel-Verlag 1936; franz.: Un homme à part, Paris:
Plon 1938 [115] Ernst Erich Noth: Vierzehn
Tage im Lager. In: Pariser Tageszeitung Nr. 1225 vom 12.10.1939, S. 2 [116] Vgl. Alfred Kantorowicz: Exil in Frankreich. Merkwürdigkeiten
und Denkwürdigkeiten. Bremen: Schünemann 1971, S. 44 [117] Ernst Erich Noth: L'Allemagne exilée en
France. Paris: Bloud et
Gay 1939, S. 42 [118] Ernst Erich Noth: Le désert. Paris: Gallimard
1939, S. 54 ff. (Eigene Übers.) |
Noth schließt sich hier
einer Position an, die Julien Benda in seiner "Trahison
des clercs" 1927 definiert hatte: die
Unabhängigkeit der Intellektuellen zugleich mit der Verpflichtung zu moralischem
Engagement zu verbinden, aber mit dem Verbot, sich in den Dienst einer
politischen Partei zu stellen. Während Benda aber nach der Konferenz von
München auch die "clercs" zum Engagement
gegen die Hitler-Diktatur aufrief, [113]
behält Noth seine Position des
Nicht-Engagements bewußt bei. Er kultivierte schon
lange die Position eines "Einzelgängers" [114] und ging in seiner Loyalität für seine
kulturelle Wahlheimat Frankreich so weit, auch die Internierungslager des
Jahres 1939 gutzuheißen: "niemand (könne sagen), daß
man dort unglücklich gewesen sei." [115]
Noch im November sprach der - vorzeitig entlassene [116] - Noth von
Frankreich als einer "terre d'asile: une patrie humaine, juste". [117]
Dieses doch propagandistisch-gefällige Bild
wird in der Kunstform des Romans sehr viel differenzierter entfaltet.
"Le désert" (Die Wüste, 1939) wird sein erstes,
gleich auf Französisch niedergeschriebenes Buch: der einzige Fall in der
deutschen literarischen Emigration, daß ein Autor
mit der Absicht rückhaltloser Integration ins Französische wechselte. Dabei
sind hier weniger die Handlung oder die Motive des Romans kennzeichnend für
eine neue Qualität des Frankreich-Bildes als die bewußt
eingesetzte Disparität von Form und Inhalt, von französischer Sprache und
deutschen Handlungstopoi. Eine Reflexion über die deutsche und französische
Sprache nimmt denn auch eine zentrale Stelle im Roman ein. Der Sprachwechsel
erfüllt für den Helden, den 30jährigen Emigranten Walter einen doppelten
Zweck: einmal ist es eine Flucht: "ich entziehe mich aber der Gegenwart, so
wie sie ist und wie sie erscheint, indem ich mich weigere, eine Sprache zu
sprechen, die nicht mehr den universellen Ausstrahlungen des Nationalgeistes
dient". Zum andern begibt er sich "in die
nüchterne Tugend einer fremden Sprache", der "Klarheit und
Genauigkeit angeboren" ist, die nicht mit "falschem metaphysischem
Anspruch" daherkommt wie das Deutsche. Noth
beruft sich also hier auf das traditionelle Stereotyp, wenn er den dem
Französischen eigenen "Geist" der Rationalität hervorhebt; außerdem
begibt er sich mit der bewußt verwendeten fremden
Sprache in reflektierende Distanz, denn: die fremde Sprache "wird mir
nie erlauben, mich selbst zu belügen; ich muß
extrem bewußt mit ihr umgehen, mich bei jedem Wort
überwachen". [118] Er nimmt also
nicht automatisch mit der französischen Sprache eine höhere
Erkenntnisfähigkeit an, sondern die kommt ihm allenfalls zu, weil er seine
zweite Sprache bewußt verwenden muß. |
|
[119] Noth, Désert, S.
16,115 [120] Noth, Désert, S. 75,
175 [121] Hans Natonek: Die Wüste. In:
Das Neue Tage-Buch, Nr.9, vom 2.3.1940, S.212-213. - Sonstige deutsche
Rezensionen sind mir nicht bekannt: das Erscheinungsdatum war wahrhaft
ungünstig. [122] Pierre Mille: L'Allemand
qui écrit en francais. In: La Dépêche de Toulouse, 1.3.1940. - Louis Gillet
in: Les Nouvelles Littéraires, 13.10.1940. |
Die Sprache des Romans distanziert sich in
gewisser Weise vom Inhalt, der psychologische Sentimentalität und manche
Klischees nicht immer vermeidet. Die Handlung ist ereignisarm. Der Emigrant
Walter hält die politische Aktivität seiner Mitexilanten
für illusorisch, er zieht sich in die Einsmkeit
von Forschungen über den 30jährigen Krieg zurück. Sich selbst sieht als
"unbewegten Zeugen", der "kalt und distanziert" das
"Ende einer Welt" beobachtet. [119] Die Menschen um ihn suchen ihr Schicksal
selbst tätig zu gestalten. Der unablässig aktive und optimistische Kommunist
denkt nur strategisch, kalkuliert mit Anderen für die Ziele seiner Partei,
für die er sich aufgibt. Die übrigen Personen scheitern in Selbstmord,
Fremdenlegion, Rückzug ins Kloster, Der Held steigert sich in eine
Vereinsamung, die auch kurze Liebesabenteuer nicht aufbrechen können und
bringt sich schließlich um. Das
Besondere des Romans scheint mir darin zu liegen, daß
die situationsbezogene Vereinsamung des Emigranten - zwischen Parteien,
Menschen, Kulturen - zu einer existenziellen umgestaltet wird. Dazu trägt das Französische insofern bei, als es
eine Tendenz zur Universalisierung persönlicher
Erfahrung verstärkt. So wird aus dem in Frankreich isolierten Deutschen unter
der Hand der isolierte Einzelmensch der Moderne: "Dans ce monde, on n'est pas partout chez soi; on est partout seul avec soi" [120] heißt es
einmal. Entpersönlichung und Entfremdung sind Kennzeichen des Exils, aber
die Beschreibung der "Seele im Exil" endet nicht mit dem Bild des
"Gefängnisses", sondern mit dem eines "ungeheuren freien
Raumes", in dem die von allen
Bindungen befreite Seele geradezu "verdampft". Die absolute Freiheit und Bindungslosigkeit
des Helden wie seine Distanz zu seinen Mitmenschen erinnern vom Lebensgefühl
her an Sartres (ein Jahr früher im gleichen Verlag erschienenen) Roman
"La nausée". Diese existenzielle
Radikalität wurde nicht verstanden. Die deutsche Emigration rezipierte Noths Roman nur als politische Aussage, warf ihm
Defätismus und eine Artistik der Verzweiflung vor. [121] Auch französische Kritiker sahen es nur als
Aussage über deutsche Emigranten, fanden es "décourageant"
oder zogen - klassisch gebildet - Bezüge zum Selbstmord von Goethes
"Werther". [122] |
|
[123] Bestes Zeugnis dafür ist Jean Giraudoux' Berlin-Buch: Rues et visages (1930). Neuauflage: Berlin
1930 - Straßen und Gesichter. Nördlingen 1987 [124] Noth, Guerre pourrie, S. 107; dort S. 108 ff. auch über seine
Arbeit im Ministerium von Giraudoux. Weitere Berichte von Robert Minder: Begegnungen
mit Alfred Döblin. In: text und kritik
13/14, 1966, S. 57-64. - Leo Lania: The Darkest Hour. Boston 1941, S. 20 ff. [125] Z.B. 1954 (Sieburg, der Presseattache während der Besatzung in Paris über
sich): "ein Deutscher, der nie eine feindselige Haltung gegen Frankreichg begangen..." - 1991 wurde das Buch in
Frankreich neu aufgelegt. Die Reaktion der französischen Presse war
ironisch-ablehnend. Vgl.: Joseph Hanimann: War Gott
Franzose? Stimmen zu Friedrich Sieburgs in
Frankreich neu aufgelegtem Buch. In: FAZ Nr. 160, 13.7.1991 [126] Vgl. Rowohlt Literatur Magazin 28: Französische
Zustände. Reinbek 1991. Darin: Lothar Baier: Pariser
Dörfer, S. 30-37; Jürgen Ritte: An Absender zurück.
Ansichtskarten aus Frankreich. S. 51-60; Hier: S. 60 |
Als Satyrspiel sei eine Episode nachgetragen,
die noch einmal die "Imagologie" in der
politischen Praxis zeigt, wenn es auch nun um das französische Bild von
Deutschland geht (das aber ebenso eng an das deutsche Frankreich-Bild
gekoppelt ist wie umgekehrt). Bei Kriegsbeginn war in Paris ein Ministerium
für Information eingerichtet worden, das vor allem Gegenpropaganda zu
betreiben hatte. Es wurde geleitet von dem Diplomaten und Schriftsteller Jean
Giraudoux, der die Creme der französischen Germanistik zu sich berief:
Edmond Vermeil, Robert Minder, Pierre Bertaux. Dazu
kamen deutsche Emigranten, darunter Alfred Döblin und Ernst Erich Noth. Giraudoux war als Autor eines Romans über das Thema
Deutschland - Frankreich qualifiziert: "Siegfried oder die zwei Leben
des Jacques Forestier" (1922). Dort hatte er
versucht, in der Person seines Helden die beiden traditionellen images zu versöhnen: der Franzose Forestier
wird zum Deutschen "Siegfried von Kleist", vereint deutschen
Irrationalismus und französische Logik in sich. So geistreich und zugleich im
Bereich des geistigen Ideenspiels verbleibend wurde auch die Propaganda
gegen die deutsche Wehrmacht angelegt. Die wohlstilisierten Essays der
Germanisten und Autoren gingen wohl ebenso über den Verstand der deutschen
Landser wie die Lautsprecher-Propaganda an der Front mit den umgedichteten
Volksliedern oder dem Siegfried-Motiv wohl buchstäblich über ihre Köpfe hinwegrauschte.
Die französischen Deutschland-Spezialisten hatten die moderne
Massengesellschaft noch nicht soziologisch oder psychologisch analysiert,
sondern nur ästhetisch und moralisch betrachtet. [123] Davon abgesehen, daß
die deutschen Soldaten, wie Noth von
Gefangenen-Vernehmungen berichtet, sowohl siegessicher waren wie von der
Überlegenheit ihrer Sache wie ihrer Armee überzeugt. [124] Nach 1945 gab es kaum literarische Werke, die
an Heines (oder Heinrich Manns) Frankreich-Bild anknüpften. Am tiefsten
eingeprägt hatte sich offenbar Friedrich Sieburgs
im Kern arrogante Idyllisierung. Sie entsprach wohl
auch dem Bedürfnis nach Vergessen der Besatzungszeit, über die Sieburg in den Neuauflagen seines Bestsellers nach dem
Krieg mit beschönigendem Vorwort hinweggeht. [125] Ob das Heinesche Bild heute wieder auflebt
(wie Lothar Baier behauptet) oder ob, angesichts erneuertem französischen Mißtrauens gegenüber dem
wiedervereinigten Deutschland nun die Deutschen "inzwischen die
besseren Franzosen" sind, das kann hier nicht entschieden werden. Nur
die Ausdauer der "Imagotype" gegenüber
der Realität soll konstatiert werden. [126] |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
© Kicińska/Lange 2002-2005 |
Erlebte Geschichte. Ein Entwicklungsbericht über (fast) 20
Jahre deutsch-polnische Jugendbegegnungen Wiesława Kicińska, unter Mitarbeit von Thomas Lange Der folgende Bericht beruht
auf Erinnerungen der Teilnehmer. Für die ersten – fast 10 - Jahre liegen von
den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern und Lehrerinnen und Lehrern der
Bertolt-Brecht-Schule in Darmstadt
ausführliche schriftliche Berichte der Teilnehmenden vor, eine einzigartige
authentische Quelle. Ansonsten müssen Erinnerungen und Aufzeichnungen der
beteiligten polnischen und deutschen Lehrkräfte aushelfen. Die Zitate
beziehen sich auf die in der
Bertolt-Brecht-Schule vorliegenden Berichtshefte (mit Jahres- und
Seitenzahlen, die dann angegeben sind, wenn Berichte durchpaginiert
sind) bzw. dann auf die für das Deutsch-Polnische Jugendwerk abgefassten
Sach- und Kurzberichte. - Da der eigentliche „Austausch“ mit wechselseitigen
Besuchen erst im Jahr 1988 begann, können die vorangehenden Jahre allein aus
deutscher Perspektive geschildert werden. – Für die gewährte Hilfestellung
bedanken wir uns beim Deutschen Polen-Institut in Darmstadt. |
Erstveröffentlichung in: Geschichte,
Politik und ihre Didaktik, H.3-4/2002, S.194-205. |
|
1. Am
Beginn: Neugier und Schuldgefühle Niemand weiß mehr ganz genau, wie es konkret
begann. Da gab es an der Bertolt-Brecht-Schule, einer gymnasialen
Oberstufenschule in Darmstadt, einen Lehrer, der als Student schon mal nach
Polen gefahren war. Außerdem stellte ein Busunternehmer der Gesamtkonferenz
die Möglichkeiten einer finanziellen Förderung von Studienfahrten nach Polen
durch die Robert-Bosch-Stiftung vor, die den Aufenthalt deutscher Schüler
(und natürlich auch die Fahrten des Unternehmers) zur Hälfte bezahlen würde.
Ohne große Mühe fanden sich im Jahr 1983 36 Schülerinnen und Schüler sowie 4
Lehrerinnen und Lehrer, die das Abenteuer wagten, denn ein solches war es
noch in Zeiten der West-Ost-Auseinandersetzung. Ihre Motive? Neugier, auch
die auf einen sozialistischen Staat; Bereitschaft, sich der deutschen
Vergangenheit, d.h.: der auf polnischem Boden begangenen deutschen Verbrechen
zu stellen; Distanz zur heimischen Gesellschaft, deren Arbeits- und
Konsumorientierung viele Schüler kritisch gegenüber standen. (Bei der
Bundestagswahl 1983 war die Partei der „Grünen“ auf Anhieb in den Bundestag
gewählt worden.) In den achtziger Jahren war es nie schwer, genug Teilnehmer
– fast immer an die 40 - für die Fahrten nach Polen zu finden. Viele waren
motiviert durch den Wunsch, anders – „alternativ“ - zu sein, sich von Eltern
und Altersgenossen im Anpassungs - Mainstream zu
unterscheiden. |
|
|
Im Gemeinschaftskunde-Unterricht wurde dieses
erste Unternehmen intensiv vorbereitet, denn es war eine Expedition in andere
politische Systeme. Die Fahrt begann zunächst mit dem Durchqueren der DDR.
Ein „tolles Gefühl, in diese Richtung zu fahren“ (1983/ 13) notierte ein
Teilnehmer, aber der Gesamteindruck war doch: grau, trostlos, die Grenze schien ein Gefängnis einzuschließen,
weckte – wie das herrische Verhalten der ostdeutschen Grenzbeamten – Aggressionen. DDR-Grenzer
erschienen wie Gestapo-Beamte (1985/ 91) Einmal musste an der Grenze eine
Schülerin umkehren, obwohl sie legal
mit ihren Eltern aus der DDR „ausgereist“, nicht: geflüchtet war.
(1985/4) Erleichterung machte sich auf der Rückfahrt in einem merkwürdigen
„Nationalgefühl“ Luft: „Kaum hatten wir den Grenzübergang [DDR – BRD]
überfahren, erhob sich im hinteren Teil des Busses ein lautes Klatschen und
Ausrufe wie ‚Endlich wieder deutschen Boden unter den Füßen‘, waren zu hören.
Die ersten bissigen Bemerkungen über Polen fielen.“ (1985/ 7) Die DDR wirkte, als sei hier die Welt vor 20
Jahren stehen geblieben. Es gibt keine Hektik, dafür alte Mopeds. (1983/ 15)
Der Eindruck einer „Gegenwelt“ setzte sich in Polen fort: es gibt keine
Werbeplakate in den Straßen. „Man kann gemütlich durch die Straßen laufen,
ohne Hamburger, Cola oder das allerneueste Waschmittel (das natürlich weißer
wäscht als alle anderen) angepriesen zu bekommen.“ Die Kosten für die Werbung
werden gespart, die Auswahl an Waren ist klein, „aber es scheint doch alles
vorhanden zu sein, außer ein paar Kleinigkeiten, die nicht unbedingt
lebensnotwendig sind.“ (1983 / 92) |
|
|
Dass es unter der Oberfläche Unterschiede
gibt, wird allerdings bald genauer beobachtet: das Taschengeld für deutsche
Schüler entspricht (umgerechnet) fast dem Gehalt von polnischen Erwachsenen;
eine Strickjacke kostet ein Monatsgehalt;
Urlaub, Kino Fernsehen sind zentral gesteuert, ohne Auswahl. In diesen
Jahren laufen in der BRD Hilfspaketaktionen für das wirtschaftlich krisengeschüttelte
Polen an. Auch das Gepäck der deutschen Schulreisenden enthält Kaffee,
Nylonstrümpfe, Kosmetik und andere Konsumgüter. Eine zufällige Begegnung mit
einer polnischen Schülerin aber erschüttert das westdeutsche
Selbstbewusstsein. Einmal äußert sie stolze Abwehr von Mitleid: Mit den
Paketaktionen „beruhigt ihr doch wohl nur euer Gewissen, während wir genauso
gut ohne euren Kaffee leben können“. Zugleich aber sagt sie: „Ich bin fest
davon überzeugt, dass Geld alle
Schwierigkeiten beseitigt. Ihr könnt doch gar keine Probleme haben.“
(1983/7-8) |
|
|
Die „alternativen“ deutschen Schülerinnen und
Schüler müssen es aushalten, in teuersten Hotels (eben: für Ausländer)
untergebracht zu werden. Der Systemunterschied –
Zwangsumtausch und illegale Wechselkurse zu Gunsten der Ausländer - wird
nicht durchweg als angenehm erfahren. Es kann ein ungutes Gefühl sein, als
Westdeutscher durch die Stadt zu gehen und sich alles leisten zu können. „Es
war manchmal schon peinlich Deutsche zu sein.“ (1985/ 83) „Im allgemeinen
wurden wir aber von Fremden wohl wegen unseres Geldes (Devisen) wie etwas
ganz Besonderes behandelt, was uns oft unangenehm war.“ (1988/52) „Reich sein
in Polen!“ wird ein ironisches Motto: „Der Nachteil ist nur, dass man für die
eingetauschten Zloty nichts kaufen kann, außer Essen, Trinken und
Taxifahren.“ Schließlich das nüchterne Resümee: „Man verliert jedes
Verhältnis zum Geld.“(1988/ 53f.) Und : „Für dieses Land braucht man schon
etwas Feingefühl.“ (1985/ 87) Das wird erleichtert durch eine immer wieder
bemerkte Gastfreundschaft und Offenheit „die jegliches westliche Maß zu
sprengen drohte“(1985/ 65). Die Polen sind „Meister im Organisieren“: In den
Läden gibt es zwar nichts zu kaufen, aber zu Hause reich gedeckte Tische. Die
deutschen Schüler überlegen sich Strategien, um zu verhindern, dass sie von
ihren polnischen Gastgebern – trotz deren Mangel an Geld - in den Cafés immer
eingeladen werden (1989/19f.) |
|
|
Die eigene Wirklichkeit relativiert sich im
Kontrast mit der fremden: Man lernt etwas über sich selbst. Bei einem
Gespräch in einer Familie kritisiert eine deutsche Lehrerin die Allgewalt der
Medien in der Bundesrepublik; ihr wird die Langeweile der verordneten
Fernsehprogramme entgegengehalten. Das 1981 von General Jaruzelski gegen die
gewerkschaftliche Opposition der Solidarnosc verhängte Kriegsrecht war im
Sommer 1983 zwar aufgehoben worden, die Gewerkschaft – sie hatte 10 Millionen
Mitglieder! – aber immer noch verboten. Noch regiert eine Militärdiktatur,
die eine Invasion durch die UdSSR verhindern soll; Abneigung gegen „die
Russen“ wird offen artikuliert. Man entdeckt gemeinsame Kritikgegenstände:
die Verschmutzung der Umwelt in der BRD wie in Polen. „Plötzlich stellen wir
alle vier lachend fest, dass wir uns mitten in einem Wettbewerb befinden: wo ists schlimmer?“ (1983/ 72). |
|
|
Umweltthemen dominieren bei der Jugend der BRD in der 80er Jahren. Was die Umwelt
in Polen angeht, so wirken vor allem die obligatorischen Werksbesichtigungen
äußerst desillusionierend. Beim petrochemischen Werk in Płock laufen
Schwefel und Öl aus undichten Leitungen (1989/37). In der Lenin-Hütte in Nova Huta werden
erst mal die Fotoapparate abgenommen, in der Erinnerung bleiben blattlose
Bäume und die unglaubhafte Behauptung des Werksführers, dass das Wasser
sauberer in die Weichsel eingeleitet wird
als es von dort entnommen werde (1988/ 38). Solche offiziellen „Potemkiaden“ reizen Jugendliche zum Zynismus: „Polen wird
die Lenin- Hütte solange benutzen, bis sie auseinander fällt oder bis niemand
mehr wegen der Luftverschmutzung dort arbeiten kann. Da kann man wirklich zu
dem Schluss kommen: Armes Polen!“ (1988/ 40) In Płock scheint kein Haus
mit frischer Farbe gestrichen. „Unsere Pflicht, den Polen zu helfen, Umweltprobleme
in den Griff zu bekommen“ (1989/37) schließt ein Schüler resolut. |
|
[1] Zu Studienfahrten gibt es wenig didaktische Literatur. Zu
den ambivalenten Erfahrungen von jugendlicher Alltagsneugier und politischem
Bildungsauftrag vgl.: Thomas Lange: Reisen bildet - oder: "Ich hatte es
mir schlimmer vorgestellt". Studienfahrt nach Prag: Bildung, Erfahrung
und die gegenwärtige Vergangenheit. -
In: Diskussion Deutsch, H. 96,
1987, S. 393-407 |
2.
Bildungsziel Auschwitz Natürlich werden hinter diesen
Alltagsbeobachtungen die offiziellen Bildungsziele dieser gymnasialen
Studienfahrten nicht aus den Augen verloren [1]: die polnische und die
deutsche Geschichte. Immer ist ein Teil der Fahrt Besichtigungen vorbehalten:
die Marienkirche in Krakau, die Altstadt in Warschau, in Thorn. Diese Ziele
bieten nicht nur Kontraste, sie bewirken auch welche. Die Kunst- und
Kulturgeschichte wird ehrfürchtig beeindruckt wahrgenommen – in Krakau der
Marienaltar, ein „eindrucksvolles, fast erdrückendes Werk“, die abbrechende
Trompetenmelodie vom Turm der Marienkirche „etwas Besonderes, Seltenes.“
(1985/ 13). Der Anteil persönlicher Anmerkungen hierzu beschränkt sich meist
auf neutrales Staunen. Anders ist es bei der Begegnung mit den Erinnerungsstätten
des NS-Terrors: da wird manchmal ganz neutral berichtet, Fakten
zusammengetragen über die Erweiterungsphasen von Auschwitz, die Zahlen der
Toten, oft unkommentiert, als hätte es die Sprache verschlagen. Es ist nicht
untypisch, dass Jugendliche allzu bewegende Emotionen verbergen. „Ich habe
mir gleich die Tränen weggewischt, weil ich nicht wollte, dass die andern sie
sehen.“ (1985/ 29) Es gibt Versuche sich an das Unbegreifliche anzunähern:
„Was man vorfindet ist ein Friedhof ohne Gräber. ... Was macht der gebildete,
informierte Schüler hier mit seiner BILDUNG???“ (1985/ 24) „Dabei erinnere
ich mich an das open-Air-Concert auf dem Nürburgring – 75000 Menschen – alle
ihre Haare auf dem Kopf – die Brille auf der Nase – die Schuhe an den Füßen –
alle mit Freuden und Sorgen ... überkam mich leichte Übelkeit bei dem
Gedanken, daß weit über 40mal so viele
Menschenleben in Auschwitz-Birkenau – einfach so – weggewischt wurden.“
(1985/ 25) Es gibt schockierende Begegnungen: Eine Polin mittleren Alters zu
Mitschülerinnen: „Guckt euch mal an, was ihr Deutschen hier angestellt habt!“
(1985/39) Dann wieder eine Verständnisbarriere: Eine Polin drückt einer
Schülerin beim Betreten des Lagers einen Blumenstrauß in die Hand. „Ob es nun
ein Zeichen der freundschaftlichen Annäherung war oder eine Aufforderung Reue
zu zeigen, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Sie sprach sehr hektisch in
polnischer Sprache, die ich ja nicht verstehe, auf mich ein und zwang mir
einen Blumenstrauß geradezu auf. Ist
dies eine diskretere Art wie im obigen Beispiel?“ (1985/ 39) Manche der
Begegnungen mit dieser Vergangenheit verlaufen eher schweigend, so wenn ein
Stadtführer in Krakau seine auf den Arm tätowierte Häftlingsnummer zeigt und
zugleich betont, er wolle „die junge Generation der Deutschen nicht mit zuviel Erinnerung an die Vergangenheit belasten.“ (1991) |
|
|
Die Verinnerlichung sekundärer Schuldgefühle
verzerrt die Wahrnehmung und belastet sie. Eine Schülerin beschreibt, wie
unangenehm sie sich fühlt, wenn sie sich als Deutsche identifiziert glaubt.
„Manchmal ist es entsetzlich, wenn die Menschen mich feindselig anstarren
oder wenn die Frauen aus der Straßenbahn in dem verächtlichen Ton, den ich
mir vorstellen kann, zu mir ‚Deutsche‘ sagen. [...] Immer diese Angst, etwas
zu tun oder zu sagen, was jemand als Diskriminierung der Polen ansehen
könnte. Bei mir ist durch diese verkrampfte Situation überhaupt erst ein
stärkeres Gefühl der Unterschiede
zwischen mir als Deutsche und polnischen Menschen zustande gekommen. Sich
nicht mehr als Individuum unter Menschen zu fühlen, sondern
schrecklicherweise als Mensch verbunden mit einer Kultur, von der ich geprägt
wurde, zu der ich aber nichts beigetragen habe. Ich habe mir oft überlegt,
wie müssen sich Auslände erst hier, in dem
ausländerfeindlichen Staat [BRD] fühlen, denn an sich sind mir in Polen mehr
gastfreundliche, liebe Menschen begegnet.“ (1985/ 75) Andere begegnen diesem
Kulturkonflikt mit überbetonter Sachlichkeit, seitenlangem Abschreiben der
KZ-Gräuel aus Büchern, oder mit einem Gedicht: „Vom Himmel zur Hölle,
Luftlinie dreiundfünfzig Kilometer – In der Marienkirche Krakaus/ fließt das
schöne Haar der Jungfrau [...] Saras Haar, in Auschwitz / gewaltsam vom Kopf
geschnitten“ (1989/ 62). Manches wird, gerade im Bereich der katholischen
Kirche, als befremdlich beobachtet, etwa im Wallfahrtsort Czestochowa:
auf einem Bild ist eine Abtreibung zu sehen, auf einem andern Kindermord in
Auschwitz. Für diese Gleichsetzung haben deutsche Schüler kein Verständnis
(1985/ 79) |
|
|
Trotz all dieser Erlebnisse, auf die die
Schüler durch das Studium von Texten über die deutsche Besatzungspolitik in
Polen, durch Filme über Vernichtungslager vorbereitet wurden, machen sie
wiederum die Erfahrung, dass sie - entgegen manchen Erwartungen - in Polen „oft überaus freundlich
aufgenommen“ werden (1988/51). Manche können nicht glauben, dass dies auch
ehrlich gemeint ist: „Höflichkeit wird nur gespielt, um sich bei uns
einzuschmeicheln“ (1985/84) Aber bei den Jugendlichen setzt sich auch immer
stärker das Bewusstsein durch: Wir sind eine andere Generation. „... auch die
polnischen Jugendlichen haben all das nicht erlebt. Warum leben sie weiter in
der Vergangenheit und mit den Erinnerungen und Denkmälern anstatt etwas
dagegen zu tun und neue Kontakte aufzubauen.“ (1985/84) Es gibt eine Art
Generationskonflikt zwischen älteren Polen und jungen Deutschen. „Die Polen
haben in ihrer Jugendzeit oder auch als Ältere diesen Holocaust erlebt und in
den vergangenen vierzig Jahren versucht, diese Vergangenheit zu bewältigen,
falls sie überhaupt zu bewältigen ist. Mir kam es in Polen so vor, als würde
das gleiche von uns verlangt. Aber wie kann ich eine Vergangenheit
bewältigen, wenn ich sie gar nicht erlebt habe? Sollte ich nicht eher
versuchen ... Freunde zu finden, damit so ein Wahnsinn nie, nie wieder
passiert?“ (1985/ 39) Manches geschieht zwischen jungen Leuten
spontan. Bei einem organisierten Schulbesuch in Krakau, ordnete der Direktor
getrenntes Sitzen von polnischen und deutschen Schülern an. Nach dem Vorschlag
eines deutschen Schülers, sich untereinander auszutauschen: „Sogleich gingen
wir, die wir uns vorher überhaupt noch nicht gesehen hatten, mit so einer
Spontaneität aufeinander zu, wie ich es bisher noch nie mit Ausländern erlebt
hatte."“(1985/40) Im Jahr 1986 fällt die Fahrt nach Polen aus:
Die Ausmaße der Atomkatastrophe in Tschernobyl ließen es nicht ratsam sein,
sich allzu weit in den geografischen Osten zu begeben. |
|
|
3.
Gegenseitigkeit: Schüler- und Lehrerbegegnungen im Austausch 1987 aber brach eine neue Epoche an. Die
Städte-Partnerschaft zwischen Płock und Darmstadt wurde angebahnt,
parallel begannen erste Gespräche zwischen dem Liceum Ogólnokształcące im. Władysława
Jagiełły und der
Bertolt-Brecht-Schule in Darmstadt mit dem Zweck, mit einem formellen Vertrag
eine Schulpartnerschaft zu begründen. Am 28. September 1988 war es dann so
weit: Beide Schulen schlossen eine „Vereinbarung über Zusammenarbeit und
Austausch der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrerinnen und Lehrer“ ab. Irritationen werden auf polnischer Seite
nur dadurch hervorgerufen, dass die Darmstädter Delegation darauf besteht,
Personalpronomina jeweils gleichberechtigt mit männlichen und weiblichen
Endungen im Vertragstext mit einzuführen. (1988/13) Es war die erste
Schulpartnerschaft in Płock und eine der ersten, die von einer deutschen
Schule mit einer polnischen eingegangen wurden. |
|
[2] Dieter Bingen: „Tausend Jahre wechselvoller Geschichte“.
In: Bundeszentrale für Politische Bildung (Hg.): Polen. Informationen zur politischen
Bildung Nr. 273. Bonn 2001, S. 3-14; hier: S. 13. |
Der Vertragstext spiegelt den Geist einer
Zeit, in der bewusst Geschichte gemacht wurde, in Polen wohl mehr als in der BRD.
(Zur Erinnerung: Es war das Jahr zweier Streikwellen in Polen sowie der
Idee des „Runden Tisches“, an dem ein
Jahr später kommunistische Regierung und die Opposition der „Solidarność“ den „evolutionären Systemwechsel“
[2] vorbereiten sollten.) Die „Vereinbarung über Zusammenarbeit und Austausch
der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrerinnen und Lehrer“ zwischen den
beiden Schulen beruft sich eingangs auf die Schlussakte der Konferenz für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975, die den Grund für die
„Realisierung der didaktischen und pädagogischen Ziele“ legen soll. Gedacht
ist hier wohl vor allem an Kapitel VII, das neben „Achtung der Menschenrechte
und Grundfreiheiten“ auch „Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder
Überzeugungsfreiheit“ als Prinzip festlegt. Außerdem wird eine ausdrückliche
„Übereinstimmung“ mit den Zielen der 1974 von der UNESCO verabschiedeten
„Empfehlungen über die Erziehung zu internationaler Verständigung und
Zusammenarbeit und zum Weltfrieden“ formuliert. Solch ein erhabenes Dach
brauchte es, um Selbstverständliches (aber das war es eben damals noch nicht)
festzulegen: „gegenseitiges Kennenlernen der Lehrerinnen und Lehrern und der
Schülerinnen und Schülern, Austausch von Informationen, fachlichen und
pädagogischen Erfahrungen“. Der Austausch sollte sich beziehen auf Schule und
Stadt, Geschichte, Arbeits- und Lebensbedingungen sowie die Kultur beider
Völker. Wettkämpfe, Studienfahrten, Freizeiten werden genannt, Austausch von
Informationen, Büchern und Lehrbüchern, Ergänzung des Unterrichtsprogramms
durch Material und Lehrmittel der Partnerschule. Ausdrücklich wird
festgelegt, dass es sich um einen „gegenseitigen und devisenfreien Austausch
von Schulgruppen“ handeln soll, bei dem „An- und Abreise von den besuchenden
Gruppen getragen [...] Unterkunft, Verpflegung und Taschengeld von der
einladenden Seite übernommen“ werden sollen. |
|
|
Die Folgen für den Begegnungsalltag sind
zunächst auf ganz praktischer Ebene einschneidend: Die deutschen Schüler
wohnen nun nicht mehr in Hotels, sondern im schulischen Internat, das dem Jagiełło-Gymnasium angeschlossen ist. Ein
ambivalentes Erlebnis: man fühlt sich zwar nicht mehr „wie die Bonzen“, lernt
die wirklichen polnischen Verhältnisse kennen (die sind nicht sehr
komfortabel), und ist sich zugleich bewusst, mehr Freiheit als die polnischen
Schüler zu haben „was den Zeitpunkt, an dem wir nachts hier einzulaufen
hatten, betrifft“. (1988/17) Zugleich haben die deutschen Schülerinnen und
Schüler das Gefühl, „dass die polnischen Schüler wesentlich mehr Engagement
an den deutsch-polnischen Kontakten zeigten.“ (1988/22) Beim gemeinsamen
Ausgehen wird die polnische Musikszene wahrgenommen. Rockmusik, die „im
Gegensatz zu anderen Ausdrucksmitteln wie Literatur und Kunst schlechter
kontrollierbar ist. Mit Rockmusik kann man leichter Emotionen vermitteln, die
nicht wie in der Literatur oder Kunst zensierbar sind.“ Ein „Gefühl von
Geborgenheit und Stärke“ wird durch emotionale Übereinstimmung bei
Rockkonzerten erzeugt.(1988/56) |
|
|
Die zweite Gruppe ein Jahr später notiert
penibel, dass die Zimmer im Internat nur 3 auf 4 Meter messen, darin aber 5
Betten stehen, dass nur zwei Duschen und 10 Waschbecken pro Stockwerk zur
Verfügung stehen, die Toiletten nicht abzuschließen sind, Mangel an
Toilettenpapier herrscht (1989/ 42). Der Austausch der Städte wird nun offiziell.
Das „Darmstädter Echo“ berichtet am 1.8. 1988 über den ersten Besuch
polnischer Lehrer und Schüler in Darmstadt. Noch dominieren die Beobachtungen
zum Unterschied des Lebensstandards: Für Gebrauchtwagen und Wohnungen “in
Polen rechnet man in Spar- und Wartejahren, wofür wir Monate veranschlagen“.
Die gleiche Zeitung berichtet am 10.8.1988 über einen Artikel, der in einer
Zeitung in Płock über Darmstadt erschienen ist. Darmstadt wird als
Schlafstadt mit Vorortzug nach Frankfurt geschildert; eine Stadt, deren
Blütezeit 100 Jahre zurück liegt und die es nicht mal zu einer Universität,
nur zu einer Technischen Hochschule gebracht hat. Die gegenseitige
Wahrnehmung ist nicht nur bei Schülern restringiert. |
|
|
4. Annäherung an den
Wandel Die Veränderungen des Jahres 1989, die
Befreiung vom Sozialismus machen sich für die polnische Bevölkerung zunächst
in einer Steigerung der ökonomischen Alltagsschwierigkeiten bemerkbar. Das Warten
beim Einkauf dauert noch länger, die polnischen Frauen werden mit der Organisation
des Alltags noch mehr überlastet. (1989/64) Für die Ausländer bedeutet der
Währungsverfall beim Devisentausch tageweise sich ändernde Kurse. In der
Schule macht sich die Veränderung an unerwarteter Stelle bemerkbar: Die
polnischen Lehrer tolerieren bei einer Schul-Diskothek ein Plakat der
Schüler, das den Staatspräsidenten Jaruzelski mit Schweinerüssel zeigt
(1989/63). Die deutschen Lehrer registrieren, dass in der Schule keine
Demokratisierung gefordert wird, sondern die Abschaffung von Russisch als
Pflichtfremdsprache: geht Nationalgefühl vor Demokratie? (1989/65) Ist die
Veränderung gar ein Triumph der katholischen Kirche? (1989/66) Eines aber bleibt: Die Schülerinnen und
Schüler wie die Lehrerinnen und Lehrer, die seit 1989 bei polnischen
Schülereltern bzw. Lehrern untergebracht sind, machen wieder die Erfahrung,
dass bei den häuslichen Einladungen „sämtliche Vorräte des Hauses für uns
Deutsche hervorgeholt werden.“(1989/38) „Auf dem Gebiet der Gastfreundschaft
sind wir Deutschen unterentwickelt“, heißt es resigniert und hilflos (1990/19). |
|
|
”In 12 Tagen, am 3. Oktober,
heißt euer westlicher Nachbar ‘Bundesrepublik Deutschland’”, so leitet am 30.
9. 1990 ein begleitender Lehrer seine Begrüßungs- und Dankesrede in Płock ein. Das Selbstbewusstsein, auf dem richtigen Weg
der Geschichte gewesen zu sein, wird artikuliert. „Zunächst einmal ist
festzuhalten, dass wir mit unserer Schulpartnerschaft und den damit
verbundenen zahlreichen Kontakten und Freundschaften der Politik schon immer
vorausgeeilt sind.“ (1991) Die Anerkennung der
polnischen Westgrenze war schon vor dem ”2 + 4 Vertrag” für die
Bertolt-Brecht-Schule selbstverständlich. Gegenüber
den polnischen Schülern und Kollegen distanziert man sich vorausseilend von
einer im Zuge der bevorstehenden deutschen Vereinigung befürchteten
nationalen Euphorie, um die in Polen vorhandenen Ängste und Zweifel
hinsichtlich des größer werdenden Nachbarn im Westen zu beruhigen. Dem Transitland DDR trauert keiner nach. |
|
|
Die Annäherung der Systeme ist auf der
Alltagsebene nicht immer bequem. Als die Schüler bei einem Ausflug nach
Warschau: „dann endlich im Hotel angekommen [waren] und [die] Zimmer beziehen
durften, waren [sie] schockiert: quietschende, ausgediente Betten und Blick
auf einen Hinterhof, der als Müllplatz fungierte“.(1990) Mit dem Wegfall des West-Ost-Konfliktes
fällt auch das generelle Wohlstandsgefälle Ausländer – Inländer kleiner
aus: Normalisierung. Die Freigabe der
Preise in Polen bedeutete zunächst einmal eine Preiserhöhung, außerdem kam
der Zloty mit dem Wegfall des Schwarzmarktes in ein ökonomisch angemesseneres
Verhältnis zur DM. Allerdings bestand immer noch ein erheblicher
Kaufkraftvorteil zugunsten der Devisenbesitzer. Was weiterhin bleibt, ist das
polnische Verhältnis zum Gast. Beim Begrüßungsessen in der Schule sind die
Tische der Gäste mit Tischdecken versehen, die der Polen nicht. Die deutschen
Schüler bekommen Limo und Cola, die polnischen Tee. „Als ich meine
Gastgeberin darauf ansprach, wieso wir in so großen Maßen anders behandelt
wurden, bekam ich bloß zur Antwort, dass sie das Beste für uns wollten.“ „Sie
sparen an sich selbst, um es uns bequem zu machen.“ |
|
|
Gerade die Begegnung in den Familien macht das
deutlich. Das Gefühl, etwas Besseres zu sein und dies, gerade als Deutsche,
nicht verdient zu haben, das sich bei manchen der vorangehenden Austauschgenerationen
geradezu in Schuldbewusstsein verkehrte, setzt sich auf seltsame Weise
fort. Jetzt geben die Gasteltern den
deutschen Gästen schon wieder dieses Gefühl, das sie hilflos macht. In den
Familien: man darf nie nur ein Brot essen. „Ablehnen bedeutet verletzen“.
(1990) Deutsche Schüler werden bedient, polnische müssen sich Essen selbst
holen. Die Deutschen dürfen keinen Finger bei der Hausarbeit krümmen; die
Familien räumen Zimmer, schlafen zu dritt oder viert, damit der Gast ein
Zimmer für sich hat. (1990) Das Wohnzimmer dient tags als Essraum,
nachts als Elternschlafzimmer. Die Gastgeberin räumt ihr Zimmer, zieht zu
ihrer Schwester für die Zeit des Besuchs. (1991) Nur die gemischte
Sportmannschaft ergibt ein Gefühl der Zugehörigkeit. Eine Steigerung erfährt das alles, wenn man zu
einer Hochzeit eingeladen wird. Die Erfahrung ist überwältigend, die deutsche
Schülerin fühlt sich im Mittelpunkt wie die Braut (1990). Ausdauer und
Quantitäten verblüffen. „Es fing ganz harmlos an – mit einem ordentlichen Abendbrot
am festlich gedeckten Tisch.“ Die ganze Nacht besteht aus einem andauernden
Wechsel von Essen und Tanzen bis morgens um 4 Uhr. (1991) |
|
[3] Nach: Xymena
Dolińska / Mateusz Fałkowski: Polen und Deutschland.
Gegenseitige Wahrnehmung vor der Osterweiterung der Europäischen Union. Institute of Public Affairs, Warschau 2001, S. 34 u. 67. |
Ab dem Jahr 1991 ist zu konstatieren, dass
sich bei den deutschen Schülern die Zahl der Teilnehmer verringert: es wird schwieriger, sie zu
motivieren. Für die deutschen Schüler ist die Studienfahrt nach Polen eine
Minderheitsalternative zwischen Rom, London und der Mittelmeerküste. Das
Abenteuer, eine scharf gesicherte Systemgrenze zu überqueren, fällt weg;
ebenso aber auch die automatische Privilegierung, die Fahrten in den
„Ostblock“ für ihrer sozialen Rolle noch nicht gewisse Jugendliche so
anziehend gemacht hatte. Für die polnischen Schüler war anfangs die Teilnahme
an der Darmstadt- Fahrt eine Auszeichnung
(=westliches Ausland), aber seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre
können auch polnische Familien es sich leisten, ihren Urlaub dort zu
verbringen. Es dominieren nun praktische Gründe: Die Deutsch lernenden Schülerinnen
(fast immer 90% der Teilnehmer) wollen ihre Sprachfähigkeiten trainieren,
sich selbständig an den Projekten beteiligen. Für die meisten Eltern ist das
ein großer finanzieller Aufwand, gerechtfertigt als Investition in die
Zukunft ihrer Kinder, die der drohenden Globalisierung nicht – sprachlich –
hilflos ausgesetzt werden sollen. Allerdings nehmen dann auch manchmal nicht
unbedingt sprachlich befähigte Schüler teil, deren Eltern sich das aber
leisten können. Diese individuellen Entscheidungen entsprechen der allgemein
in Polen verbreiteten Einschätzung, nach der Deutschland das mit Abstand
wichtigste Land in Europa für Polen ist. Befragungen belegen, dass das
Interesse an Deutschland in Polen weitaus größer ist als umgekehrt: In
Deutschland waren schon einmal 47% der Polen (gegen 31% der Deutschen),
deutsche Bücher oder Filme wurden in Polen von 58% (gegen 29% in Deutschland)
gesehen bzw. gelesen.[3] Für beide Teilnehmergruppen gilt übrigens,
dass die finanzielle Förderung durch das
Deutsch-polnischen Jugendwerk eine wesentliche Voraussetzung
darstellt. Das materielle Gefälle zum westlichen Wohlstand gehört immer noch
zu den Alltagserfahrungen der Schüler. An der Bertolt-Brecht-Schule wird
daher von allen – Schülern und Lehrern – halbjährlich ein geringer Betrag
eingesammelt, der die Durchführung mancher Inlandsprojekte zusätzlich
absichert. |
|
[4] Vgl. die homepage des Deutsch-polnischen Jugendwerkes: www.dpjw.org. Auf Wunsch erhält man von dort Material. [5] Vgl.: „Bericht über die Unterstützung durchreisender Polen zu Darmstadt und Groß‑Gerau“ im „Beobachter in Hessen und bei Rhein“ am 8. Mai 1832. Harfenklänge. Polens Erinnerungen und seinen Heimathlosen geweiht. Zur Unterstützung heimathloser Polen. Darmstadt 1832 – Über diese Ereignisse gibt es zahlreiche Quellen in den deutschen Archiven; vgl. das Schülerprojekt, das Walter Haupt als „archivalische Untersuchung“ mit einem Leistungskurs Geschichte der Jahrgangsstufe 12 an der Alsfelder Albert-Schweizer-Schule durchgeführt hat: Polen in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts – ein Beispiel für freundschaftliche Begegnungen in Hessen. Ms, ca. 1992 [6] In der Münchner
Ausgabe von Büchners Werken, München: dtv 2011 8.
Aufl., S. 47. [7] Vgl. dazu: Klaus Ziemer: Das deutsche Polenbild der letzten
200 Jahre. In: Guardini-Stiftung / Hans Werner
Richter-Stiftung / Hans Dieter Zimmermann (Hg.): Mythen und Stereotypen auf beiden Seiten
der Oder. Berlin: o.J. (2000), S. 9-25. – In diesem vor allem literarisch
orientierten Band finden sich auch Aufsätze zu Gustav Freytag und Theodor
Fontane. – Hingewiesen sei auch auf: Ewelina Kaminska:
Polnische Motive im deutscher Kinder-
und Jugendbuch nach 1945. Dortmund: Forschungsstelle
Ostmitteleuropa 2001. – Hasso von Zitzewitz: Das deutsche Polenbild in der Geschichte.
Wien: Boehlau 1991. Gerhard Kosellek:
Das Polenbild der Deutschen. Heidelberg 1989. 8] Jerzy Kochanowski:
Die polnische Studentenkolonie in Darmstadt
1894‑1914. In: Wechselwirkung.
Woche der Polnischen Kultur und Wissenschaft
in der Bundesrepublik Deutschland, 25.9. ‑ 2.10.1990.
Dokumentation gemeinsamer Veranstaltungen der Politechnika Warszawa und der Technischen Hochschule
Darmstadt. 1992, S. 173‑205 [9] Vgl. Dirk Becker: Die
Alma mater nährte auch den Hass. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Zeiten
und Menschen, 20. 1. 2001. Weiteres Material im Archiv der TU Darmstadt. [10] Dolińska / Fałkowski: Polen und Deutschland, S. 6 |
5.
Pädagogische Professionalisierung: Projektarbeit Seit 1993 wird der Austausch vom
Deutsch-polnischen Jugendwerks gefördert, in dessen Richtlinien „Gemeinsame
Veranstaltungen mit Begegnungscharakter (Schülerbegegnungen)“
so definiert werden: „Austauschprogramme
sowie sonstiges gemeinsames Programm mit gemeinsamen unterrichtsbezogenen
Veranstaltungen über politische, gesellschaftliche, soziale, kulturelle und
geschichtliche Themen, insbesondere zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft der
gegenseitigen Beziehungen und Zusammenarbeit sowie Schülerbegegnungen mit
Sprachprogrammen für beide Seiten. [...] Gemeinsame Veranstaltungen zur
Erweiterung des Wissens der Jugendlichen/ jungen Erwachsenen über das
Partnerland. Im Verlauf der Begegnung soll die Idee des interkulturellen
Austausches besonders verwirklicht werden.“[4] Die Form, die der Austausch seitdem genommen
hat, ist die einer gemeinsamen Arbeit an einem jeweils neu festzulegenden
Projekt. 1995 hieß das Thema der Projektarbeit: „Wahrnehmungen in einem
fremden Land“. In Darmstadt waren Orte der Wahrnehmung: das Vivarium (ein Kleinzoo), Kunstobjekte im Landesmuseum, und „Polnische
Spuren in Darmstadt“, realisiert im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt. Der
Archivpädagoge legte dort zunächst deutschsprachige Quellen überraschender
Art vor: Willkommensgrüße für Teilnehmer des unterdrückten Warschauer
Aufstands von 1830-31. Die Flüchtlinge wurden 1832 auf der Flucht in
Darmstadt demonstrativ begrüßt und mit gesammeltem Geld unterstützt.[5] (Ein
Anknüpfungspunkt vielleicht zur Diskussion über Zuwanderung.) Die Sympathie der liberalen Opposition galt
im ganzen Deutschen Bund - nicht nur im Großherzogtum Hessen – den polnischen
Gesinnungsgenossen. Im Großherzogtum Hessen kam dazu, dass Großherzog Ludwig
II gerade in Oberhessen eine Bauernrevolte gegen zu hohe Abgaben und zu viele
Zollgrenzen militärisch niedergeschlagen hatte. Ein Reflex davon findet sich
noch in Georg Büchners berühmter Flugschrift „Der Hessische Landbote“: „Denkt
an Södel!“[6] Auch das bekannte Bild „Georg Büchner
im Polenrock“ zeigt den revolutionären Darmstädter Dichter im modischen „outfit“ als Sympathisanten polnischer Freiheitskämpfer.
Diese positive Bewertung war eine neue Erfahrung wohl für beide
Schülergruppen. Das negative Polenbild hat seine Wurzeln zwar schon im 18.
Jahrhundert, wurde aber erst im Rahmen der Revolution von 1848 mit nationalistischen
Untertönen in der Nationalversammlung der Paulskirche wieder aufgenommen.[7]
Das aus der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit eher vertraute Bild einer
diskriminierten Minderheit konnte an einigen Quellen aus der Frühgeschichte
der TH Darmstadt untersucht werden. Lebensläufe und Zeitungsartikel in
polnischer Sprache zeugten von „russischen“ d.h. mehrheitlich: polnischen
Studenten jüdischen Glaubens aus dem Zarenreich an der TH vor 1914.[8] Ihre
politischen, oft sozialistischen Aktivitäten wurden von der Polizei
misstrauisch beobachtet; wie in einem Fokus ließ sich das ausgesprochen
schlechte, hier auch antisemitisch grundierte Verhältnis der deutschen,
überwiegend korporierten Kommilitonen zu den „russischen“ an einem tragischen
Fall studieren: der Ermordung des polnisch-jüdischen Studenten Alfred Weiser
aus Czestochowa 1912 durch deutsche Studenten.[9] 1996 wandte sich die Projektarbeit handfesten
Gegenständen zu: Abfallbeseitigung und Recycling wurde an verschiedenen
Schauplätzen studiert. Das Erstaunen einiger polnischer Schüler über die
arbeitsintensive Demontage gerade noch fahrbereiter Autos in solch einer
Anlage in Darmstadt ließ die deutschen Schüler ahnen, wie sich die Maßstäbe
für „Abfall“ verschieben können. 1997 erarbeitete die polnische Gruppe in
Darmstadt das Sprachprojekt „Polnisch – Deutsch“, in dem elementare
Kenntnisse des Polnischen von den Deutschen erworben wurden: Kurze Dialoge in
Alltagssituationen (Fragen nach Namen, Herkunft, Uhrzeit). Im September hieß
dann in Polen das Projekt: „Danzig und ‚Die Blechtrommel‘ von Günter Grass“.
Mit diesem anspruchsvollen Thema kamen die Teilnehmer aber an ihre Grenzen.
Trotz intensiver Vorarbeit der polnischen Gruppe, die mit einer Vorexkursion
nach Danzig deutschsprachige Führungen durch Schüler an den Schauplätzen des
Romans vorbereitete, blieb es sprachlich-literarisch für die polnischen Schüler, historisch für
die deutschen ein Unterfangen, das etwas über ihren Köpfen ablief. Das nächste Projektthema wurde daher näher an
Schülererfahrungen angesiedelt: 1998 hieß es in Darmstadt „Jugendprobleme“,
in Płock „Was ist euch am wichtigsten im Leben?“ (Das Ergebnis schien
Klischees zu bestätigen: Für die polnischen Schüler waren es Familie, Freundschaft,
Liebe, für die deutschen: persönliche Freiheit.) Dieses Thema „kam gut an“,
wobei die polnische Gruppe ausschließlich aus hervorragend motivierten
Schwerpunktschülern mit sechs Wochenstunden Deutschunterricht bestand: eher
eine Ausnahme. Die Schwierigkeiten der Projektarbeit erklären
sich daraus, dass sie in deutscher Sprache realisiert wird. Nach wie vor sind
es ja die polnischen Schülerinnen und Schüler, die Deutsch lernen, und deren
sprachliches Niveau nur in Ausnahmen solch anspruchsvollen historisch-literarischen
Themen angemessen ist. Eine Umkehrung des Sprachaustauschs findet nicht
statt. Zwar existiert an der Brecht-Schule eine Polnisch-AG, die aber nur
wenig besucht wird. Ihre Ergebnisse sind für den Austausch nicht messbar.
Ausnahmen sind die Schülerinnen und Schüler, die aus Aussiedlerfamilien
kommen und polnische Sprachkenntnisse schon mitbringen. Der sprachliche
Alltag der Begegnung vollzieht sich dann auf Deutsch, wenn die polnischen
Schüler entsprechende Fähigkeiten mitbringen, sonst wird es ein
interkulturelles Pidgin „Deutsch – Englisch – Hände und Füße“, das durch die
unverzichtbaren Dolmetscherdienste der begleitenden polnischen
Deutschlehrerin konkrete Ergebnisse mit sich bringt. Themen, die sich mit gegenseitiger Wahrnehmung
beschäftigen, sind natürlich besonders beliebt und schülernah, weil der
Ausgangspunkt von jeweiligen eigenen Erfahrungen genommen werden kann. Diese
„Erfahrungen“ entsprechen auch bei den Darmstädter Schülern im wesentlichen
dem allgemeinen deutschen Standard, nach dem 18% der Deutschen, befragt nach
Assoziationen zu Polen, antwortet: „Nichts“.[10] |
|
[11] Dies entspricht einer sehr detaillierten vergleichenden
Untersuchung, die beim Deutsch-Polnischen Jugendwerk angefordert werden kann:
Barbara Fatyga / Bernadette Jonda
/ Krzystof Koseła: Jugendliche in Deutschland und
in Polen. Auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Situation in beiden
Ländern. Synopse ausgewählter Untersuchungen. Berlin: Deutsch-Polnisches
Jugendwerk. November 1997. |
Im Jahr
2000 war das Projektthema: „Selbstwahrnehmung in einem fremden Land“ –
„Wir haben festgestellt, dass die Menschen, und vor allem die jungen Menschen
in Polen sich nicht von uns oder anderen Jugendlichen in Europa
unterscheiden. Sie haben die gleichen Interessen, Probleme und Ziele wie wir.
Zwar ist Polen nicht so wohlhabend wie Deutschland, aber das ist auch nicht
wichtig“ formulierte danach die Schülerzeitung der Bertolt-Brecht-Schule,
allerdings etwas zu harmonisch. Für die deutsche Gruppe gab es in Polen neue
Verunsicherungen, wenn sie auf der Straße oder an Häuserwänden Nazi-Symbolen
begegnete. Überhaupt waren auch die Missstimmungen und Schwierigkeiten
größer, so dass beim polnischen Gegenbesuch in Darmstadt das Projekt
„Interkulturelles Lernen“ in der Konfrontation von Erwartungen und
Erfahrungen vor allem Enttäuschungen konstatierte. Die polnischen
Jugendlichen vermissten Nähe und Offenheit, bemerkten Vorurteile und
Unkenntnis gegenüber Polen, erfuhren in der Stadt Ignoranz und Unfreundlichkeit
mancher Deutscher gegenüber Menschen mit fremder Sprache.[11] |
|
[12] Dolińska / Fałkowski: Polen und Deutschland, S., 43, 45 [13] Material in: Geschichte:
betrifft uns, Heft 5/1993 (Migration im 19. Jahrhundert). S. auch: Anna
Żarnowska: Polnische Arbeitsimmigranten und ihre
Organisationen im Kaiserreich zwischen
Abgrenzung und Integration. In: Robert Maier /Georg Stöber (Hg.): Zwischen
Abgrenzung und Assimilation – Deutsche, Polen und Juden. Schauplätze ihres
Zusammenlebens von der Zeit der Aufklärung bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges. Hannover
1996, S. 185-198. (Studien zur internationalen Schulbuchforschung
Bd. 88). [14] Vgl. Ziemer, Polenbild,
S. 16 f. [15] Dolińska
/ Fałkowski: Polen und
Deutschland, S. 25ff. [16] Auch diese Tendenz
stimmt mit neueren Befragungen überein; vgl. Dolińska / Fałkowski: Polen und Deutschland, S. 63ff. |
Im Jahr 2001 wurde das interkulturelle Lernen
unter das Thema „Hoffnungen und Befürchtungen der Jugendlichen in Bezug auf
die Osterweiterung der EU“ gestellt. Im Fazit wurde dieser Vorgang
überwiegend positiv von beiden gesehen, doch gab es merkbare unterschiedliche
Akzente. Während die polnischen Jugendlichen in dem EU-Beitritt vor allem
einen Beitrag zur Friedenssicherung sahen, aber auch eine Bedrohung
kultureller Traditionen und den Verlust nationaler Selbstbestimmung
befürchteten, tauchten diese Motive bei den deutschen nicht auf. Sie
beklagten dafür deutsche Kapitalinteressen, die sich die polnische Wirtschaft
unterwerfen würden, was wiederum für die polnischen Jugendlichen wenig
bedrohlich klang: „Damit entstehen doch Arbeitsplätze“. Die Bedrohung von
deutschen Arbeitsplätzen durch polnische Migranten wurde geringer bewertet.
Besitzen bei den Polen „Frieden“ und „Nation“ einen höheren Stellenwert als
bei den Deutschen, die Frieden für selbstverständlich, nationale Identität
offensichtlich für nicht so wichtig halten? |
|
Die deutschen Schüler gehören mit ihren Ansichten
zu den in der Regel „besser (aus)gebildeten“ 40% der Deutschen, die einer
Mitgliedschaft Polens in der EU zustimmen würden. Untypisch dagegen ist der
Optimismus der Darmstädter Jugendlichen, die weder den Zufluss billiger
Arbeitskräfte, die finanzielle Belastung der EU noch eine Steigerung der
Kriminalitätsrate befürchten, wie dies fast die Hälfte bzw. (Kriminalität)
ein Drittel der Deutschen tun.[12] In Płock hatte das interkulturelle
Projekt im Herbst 2001 den Titel „‘Der‘ Pole und ‚der‘ Deutsche in
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Der Wandel von wechselseitigen
Fremdbildern sollte untersucht werden. In einer teils Deutsch, teils Englisch
geführten Debatte wurden ausführliche Wandzeitungen mit sehr differenzierten
Charakterisierungen entworfen und von den jeweiligen Gruppen dem Plenum
vorgestellt. Für das zunächst positive deutsche Polenbild wurde hier
Gottfried Kellers melancholisch-edler Schneider-Graf Strapinski aus der –
vielen deutschen Schülern bekannten - Novelle „Kleider machen Leute“
angeführt. (Auch bei Keller übrigens wirkte reale Politik mit in die
Literatur: Er war Sekretär des Züricher Provisorischen Komitees zu
Unterstützung der Polen, das nach dem wiederum vergeblichen Warschauer
Aufstand von 1863/64 gegründet worden war.) Die negative Wandlung des
Polenbildes begann schon vor der NS-Zeit im Kaiserreich sowohl bei den
Arbeitsimmigranten im rheinischen Industrierevier wie bei der Germanisierungspolitik
in den westpreußischen Provinzen [13], hat sich durch die Ära der Vertreibungen
verfestigt, bis mit der antikommunistischen Bewegung seit 1980 ein Umdenken –
allerdings nur bei einer Minderheit der Deutschen – einsetzte.[14]
Gegenwärtig halten sich Positives (billige, gute Arbeitskräfte) und Negatives
(„Polenmafia“) die Waage, bei mit beide mal
deutlich herablassender Tendenz. „Rückständigkeit“ und „Religiosität“ werden
am eindeutigsten in repräsentativen Untersuchungen genannt, ansonsten nehmen
wohl z. Zt. die negativen Zuschreibungen (Unehrlichkeit, Erfolglosigkeit)
eher ab.[15] Bei den polnischen Schülern wurde eher eine Veränderung von dem
(aus dem Geschichtsunterricht oder der Familienüberlieferung) sehr negativ
erinnerten „brutalen Deutschen“ der Weltkriegszeit zu einer manchmal
idealisierten, freundlichen und freien Deutschen der Gegenwart
festgestellt.[16] |
|
|
|
Die Mischung aus interkulturellem Projekt und
nach wie vor enthaltenen kulturhistorischen Besichtigungen wurde von den
Jugendlichen sehr gegensätzlich beurteilt. Der „Bildungs“teil wurde von manchen deutschen als zu
ausführlich empfunden, während die polnischen Jugendlichen den Wunsch nach
Berücksichtigung von mehr sozialen „Problemzonen“ der Gegenwart z. T.
sarkastisch konterten. Hier brach ein kulturell gegensätzliches Verständnis der
Rollen von Gast und Gastgeber auf. In Polen: Was man selbst über seine
Gesellschaft weiß, will man dem Gast nicht unbedingt alles zeigen. In
Deutschland: Alles ist offen und zugänglich, guckt hin, aber ich will meine
Freiheit wahren. |
|
[17] Thomas Schneider: „Stichwort Europa: Jugendaustausch“. Kafka, Heft 4/2001, S. 68 |
6.
Ertrag und Zukunft Der deutsch-polnische Jugendaustausch ist
einmal mit den hohen Begriffen „Völkerverständigung“ und „Versöhnung“ politisch
begründet worden. Damit können viele Jugendliche „heute allerdings wenig
[...] anfangen.“ Die meistgenannten Motive für die Teilnahme an einem
Austausch „seien ‚Spaß haben‘ und ‚neue Leute kennen lernen.‘“ So fasst
„Kafka“, die von Inter Nationes herausgegebene
„Zeitschrift für Mitteleuropa“ den gegenwärtigen Stand auch des
deutsch-polnischen Jugendaustauschs zusammen.[17] Das ist so richtig wie die
Feststellung, dass in „Polen, Ungarn oder der Tschechischen Republik
wesentlich mehr Jugendliche Interesse an einem Aufenthalt in Deutschland oder
Österreich [haben] als das umgekehrt der Fall ist.“ Wird damit ein Zeitalter der neuen
Oberflächlichkeit eingeleitet? -
Einige Antworten in einem an der Bertolt-Brecht-Schule nach der
letzten Austauschfahrt 2001 verteilten Fragebogen lassen doch tiefer sehen.
Hier einige Beispiele: |
|
|
Was fällt Ihnen spontan ein, wenn sie an
die Wochen des Austauschs zurückdenken? – Neues (Menschen,
Kultur) kennen lernen – Kann mir nicht vorstellen, wie meine Austauschpartnerin
zu leben.
Was hat Sie in Polen am meisten
erstaunt: die
unterschiedliche Auffassung von Gastfreundschaft: Bedienung statt Behandlung
wie ein Familienmitglied; Herzlichkeit der Menschen; entsetzt: Armut, unkontrollierte Industrie, westliche Einflüsse; aggressive
Jugendliche; erfreut: große Offenheit und Neugier; Freundlichkeit; dass Jugendliche immer
irgendwie zusammenfinden; Was fanden sie im Umgang mit
Ihren polnischen Gästen/Gastgebern (und ihren Familien) kompliziert – Verständigung mit
Gastgebern (Eltern), konnten kein Deutsch, kein Englisch; vor allem finde
ich, haben sie sich zu sehr auf mich konzentriert und nicht ihren Alltag
gelebt wie sonst; vielleicht, dass ich meine gewohnten Freiheiten der Familie
angepasst habe; Welches Bild (welcher optische Eindruck)
steht vor Ihrem „inneren Auge“, wenn Sie an den Austausch denken? (Augen
schließen und losschreiben!) –
Das Bild der melancholischen
Landschaft, der traurige Blick der Leute (in Płock), zerfallene Häuser,
repräsentative, modernisierte Innenstädte; mich hat das Städtebild sehr
erstaunt, auf der einen Seite das neueste Einkaufscenter und nebendran eine
Ruine, irgendein uraltes Haus; ich habe auch oft Leute in Designerklamotten
aus einer Bruchbude kommen sehen, ich hatte das Gefühl, sie leben in 2
Welten.
|
|
[18] Dolińska
/ Fałkowski: Polen und Deutschland, S. 12, 36. [19] www.dpjw.org. [20] So sind die „Informationen zur politischen Bildung“ zu Polen (Anm. 2) gerade erst im Jahr 2001
erschienen wie auch der Materialband „Deutschland
und Polen im 20. Jahrhundert“, Analysen, Quellen, didaktische Hinweise, hg. von Ursula A. J. Becher / Włodzimierz
Borodziej /Robert Maier als Bd. 82c der Studien zur
internationalen Schulbuchforschung,
Hannover 2001. Beim Klett-Verlag gibt es von Enno Mayer hg.: Deutschland
und Polen – eine europäische Nachbarschaft im Zeitalter des
Nationalitätsprinzips (Reihe Tempora). Stuttgart 1989 (Neudruck: 1999);
und beim verdienstvollen Wochenschau-Verlag ein Themenheft „Nachbar Polen“. [21] ÖRechberg-Gymnasium Donzdorf, 1998 [22] ÖMarienschule Offenbach, 2001 [23] Annegret Ehmann /Wolf Kaiser u.a. (Hg.):
Praxis der Gedenkstättenpädagogik.
Erfahrungen und Perspektiven. Opladen 1995. [24] Andres Kraus: Selbsterfahrung und politisches Lernen. In:
Ehmann / Kaiser, Gedenkstättenpädagogik,
S. 216-238. [25] Vgl. Andrea de Groot / Heinrich
Pingel-Rollmann: “Den Mechanismus erkennen und
dagegen etwas tun...“ Eine Klassenfahrt nach Auschwitz und Krakau. In: Internationale Schulbuchforschung 22/
2000, S. 155-168; Die Autoren haben ihr Projekt integriert in ein
Comenius-gefördertes Internet Projekt „Europäische Migration, Minderheiten
und Vorurteile“, siehe auf der Homepage des Berufskollegs Herford: www.wnb-herford.de/ [26] Andreas Kraus: Polnische-deutsche Schülerbegegnung in
Auschwitz. In: Ehmann / Kaiser, Gedenkstättenpädagogik, S.194-204; hier: S. 201 f. [27] Gerd Steffens: Die Gegenwart von Auschwitz. Zum
pädagogischen Umgang mit der Realität des Unglaublichen. In: Jahrbuch Pädagogik 1995, S. 73-84;
hier: S. 79, 82 – Vgl. auch Deutsch-Polnisches Jugendwerk (Hg.): Begegnung und
gemeinsames Lernen in Auschwitz.. Ist das möglich? Potsdam – Warszawa
1996. |
Äußerungen der polnischen Teilnehmer gehen in
die gleiche Richtung: man ist sich näher gekommen, hat Freunde gewonnen („mit
meiner deutsche Gastgeberin habe ich bis heute engen Kontakt, wir schicken
einander oft e-mails und SMS“), sich über die
Arroganz einiger deutscher Schüler geärgert,
und darüber, dass manche Gastgeber sich ihren Gästen zu wenig
widmeten, und sich auch weniger Mühe als die Polen gaben bei der Vorbereitung
von Stadtführungen. Man hat das Polen-Institut in Darmstadt besucht und seine
Deutschkenntnisse verbessert („vor der Fahrt hatte ich große Angst, ob ich
mit meinem Deutsch zurecht komme, aber an Ort und
Stelle war ich stolz, meine Deutschkenntnisse wurden sogar gelobt“),
allerdings auch erfahren, dass manche Deutsche in Gaststätten gar nicht
freundlich reagierten, wenn sie die polnische Sprache hörten. Ist das die Zukunft des Austauschs:
Normalität, wie mit Frankreich, England, Italien, den USA? Man könnte es
meinen. Das Internat in
Płock ist jetzt hell, freundlich
und wohnlich renoviert, was aber auch damit zu tun hat, dass das
Jagiellonen-Gymnasium um Schüler werben muss. Die polnische Schullandschaft
wird umstrukturiert, die Oberstufen der Gymnasien („Liceum“)
konkurrieren miteinander und mit privaten Schulen. Das Angebot eines
Schüleraustauschs mit Deutschland kann ein Argument für die Wahl einer Schule
sein. Kann man sich in Deutschland vorstellen, dass die Tatsache eines
deutsch-polnischen Austauschs Rang oder Attraktivität einer deutschen Schule
in dem Maße erhöht wie die eines Austauschs mit England, USA oder Australien
(was es ja vielfach schon gibt)? „Urlaub“ und „Studienfahrt“ sind zwar nach
kulturamtlicher Definition nicht identisch, wohl aber sind sie es vielfach im
Bewusstsein der deutschen Schüler. Daher mögen folgende zwar unpädagogischen,
aber nicht unrealistischen Befragungsergebnisse hier eingefügt werden: nur
16% der Deutschen verbinden ihre Vorstellung von „Urlaub“ mit Polen, nur 33%
äußern ein (vielleicht durch die Frage erst gewecktes) Interesse daran, nach
Polen in Urlaub zu fahren.[18] Die steigenden Zahlen des Deutsch-polnischen
Jugendwerks stimmen zwar optimistisch: „Im ersten Jahr unserer Tätigkeit
[1993] waren es insgesamt 46.400 junge Deutsche und Polen, die an den
Austauschprogrammen teilgenommen haben, 2000 waren es 133.323.“[19] Doch es
dürfte nicht nur an der Attraktivität der dominanten anglo-amerikanischen
(Jugend)Kulturen liegen, die die endlich „im Westen“ angekommenen Deutschen
lieber dorthin blicken und reisen lässt. Eine Fahrt nach Polen verlangt immer
eine besondere Vorbereitung, weil ja kaum Kenntnisse vorhanden sind.
Geeignete Materialien zu Vorbereitung – wenn man die Geschichte der deutschen
Besetzung nach 1939 einmal ausnimmt – sind immer noch spärlich vorhanden,
eher bei Spezialinstitutionen wie dem „Deutsch-Polnischen Jugendwerk“, dem
Deutschen Polen-Institut in Darmstadt oder dem Georg-Eckert-Institut als bei
normalen Schulbuchverlagen.[20] |
|
Das liegt sicher auch daran, dass
jahrzehntelang Schulfahrten nach Polen primär Fahrten in die NS-Vergangenheit
waren. Nun hat aber für die gegenwärtigen Schülergenerationen
Auschwitz und das, wofür es steht, nicht mehr allein die vergangenheitsbewusste
– eben: seiner selbst bewusste -
Anziehungskraft, wie für die ersten „Generationen“ der siebziger und
achtziger Jahre. Im Internet abrufbare Berichte anderer Schulen über
Austauschfahrten nach Polen bestätigen unsere Eindrücke. Die
„völkerverbindende Begegnung Jugendlicher zweier immer noch verschiedener
‚Welten‘" steht im Mittelpunkt [21], wobei „Frömmigkeit und Armut [...]
und die polnische Kultur“ [22] ebenso nachdrücklich erwähnt werden wie die
Besuche in Auschwitz. Die Fahrten sind in der Regel gut vorbereitet, gibt es
mittlerweile doch eine eigene „Gedenkstättenpädagogik“, die mit psychologisch
differenzierten Methoden über den bloß kognitiven Zugang zur Geschichte an
diesen authentischen außerschulischen Lernorten hinauswill.[23] Ob die
Einstimmung in die Empathie für die Opfer des Holocaust mit Hilfe von
Planspielen [24], mit Hilfe von Zeitzeugen oder mit dem Studium von
Archivmaterial geschieht, durch das ein direkter regionalgeschichtlicher Bezug
vom Heimatort zu Auschwitz hergestellt werden kann [25],: immer ist das Ziel
auch ein politisch-moralisches Lernen, das auf zukünftige Lebenssituationen
der Jugendlichen abzielt. Auschwitz ist dann nicht „historischer Stoff“,
sondern ein „gemeinsamer Untersuchungsgegenstand“, dessen Thema die
Bewusstwerdung für „die Gefahr eines Umschlags [...] von Modernisierung in
die deutsche Sensibilität für die deutsche NS-Vergangenheit unter Umständen
mit einer andersgearteten polnischen in Kongruenz gebracht werden“ muss.
Vielfach neigen polnische Jugendliche dazu, „Auschwitz in die Vergangenheit
zu verbannen“, während die deutschen Jugendlichen aus Abwehr in
„Negativ-Reaktionen“ verfallen können: völlige Indifferenz,
Überidentifikation oder „Bedürfnis nach Gruseleffekten“.[26] Die Tröstungen
polnischer Jugendlicher an deutsche: „Ihr seid es doch nicht gewesen“, mögen
ihnen nicht helfen, das „Rätsel“ Auschwitz zu deuten, das doch bei aller
Abwehr „die Verlässlichkeit ihrer [der Jugendlichen] Lebensorientierung berührt“.
Sie sind doch die Nachkommen der Täter, während die polnischen Jugendlichen
sich nicht mehr als Opfer begreifen wollen, oder sogar diese Rolle auf die
historischen Kontakte und Unterdrückungserfahrungen mit Russland
verschieben.[27] Für deutsche Teilnehmer an solch einem Austausch bedarf
keiner irgendwie künstlich konstruierten „Moralkeule“ (Martin Walser), um ein
anderes Bewusstsein zu wecken. Es genügt, wie bei unserem diesjährigen
Unternehmen, z. B. ein Besuch mit den polnischen Gästen in der Berliner
Gedenkstätte „Haus der Wannseekonferenz“, um auf dem Weg von Berlin nach
Polen historisches Bewusstsein zu bilden. Es sieht so aus, dass jeder deutsch-polnische
Schüleraustausch auch in den nächsten Jahren viel Anstrengung erfordern wird:
eine Pflanze, die man mit großem Aufwand pflegen muss, wenn man will, dass
sie aufblüht. Auch wenn man es wünschen mag: Selbstverständlich wird im
deutsch-polnischen Verhältnis noch lange nichts sein, da sind (mindestens)
200 Jahre Geschichte davor. |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|