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Last update: 26.06.2009 |
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Auf dieser Seite: |
Hinweis: >>AG Deutsch-jüdische
Geschichte im Verband der Geschichtslehrer Deutschlands |
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1. Thomas Lange: Judenfeindschaft und Antisemitismus zwischen
1890 und 1933 - auch eine Spurensuche 2. >> Hinweis /
Link: Wolfgang Geiger: Zwischen
Scham und Vorurteil. Das Thema Israel im Schulunterricht – und nicht nur da |
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© 1997-2005 Thomas
Lange |
Thomas Lange Judenfeindschaft
und Antisemitismus zwischen 1890 und 1933 - auch eine Spurensuche Zuerst erschienen in dem
vergriffenen Band: "L'chajim".
Die Geschichte der Juden im Landkreis Darmstadt-Dieburg, herausgegeben im
Auftrag des Landkreises Darmstadt-Dieburg von Thomas Lange, Reinheim 1997, S.
139-168. |
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Inhaltverzeichnis des Buches: Thomas Lange
Einführung Eckhart G. Franz:
"Schutzjuden und Judenbürger". Die jüdische Geschichte des
Kreisgebiets vom Mittelalter bis ins 19 . Jahrhundert. Uri R.
Kaufmann: Vom Hausierer zum Ladenbesitzer. Zur beruflichen Tätigkeit der
Juden im Landkreis Darmstadt-Dieburg. Uri R. Kaufmann:
Religiöses Leben und Volksfrömmigkeit der Landjuden Eva Reinhold Postina: Verbrannt, verwüstet, vergessen und verdrängt.
Auf der Suche nach alten Synagogen im Landkreis Darmstadt-Dieburg Hartrnut Heinemann: Die
jüdischen Friedhöfe im Landkreis Darmstadt – Dieburg Thomas Lange:
Judenfeindschaft und Antisemitismus zwischen 1890 und 1933 - auch eine
Spurensuche Gerd Steffens:
Ausgrenzung, Verfolgung, Enteignung, Deportation, Vernichtung. Die Leidensgeschichte
der jüdischen Bevölkerung im Gebiet des heutigen Landkreises
Darmstadt-Dieburg 1933 - 1945, mit einem Rückblick auf die zwanziger Jahre Dieter Kohlmannslehner / Thomas Lange: Nach 1945 - ein
neuer Anfang? Moritz Neumann: Eine Perspektive für jüdisches Leben
heute? Drei Antworten auf drei Fragen des Herausgebers |
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Thomas Lange Einführung zum Buch Ein Buch über die
Geschichte der Juden im heutigen Landkreis Darmstadt-Dieburg ist zugleich ein
Buch über die Geschichte aller Bewohner des Landkreises. Denn seit dem
Mittelalter lebten Juden mit den christlichen Bewohnern in den Dörfern und
Kleinstädten dieses Gebietes zusammen - genau: in 31 von einst 81
Ortschaften. Beider Leben ist über Jahrhunderte nicht voneinander zu trennen,
verlief auch über lange Perioden so friedlich oder mit so viel
Konflikten, wie unter Nachbarn immer und überall gelebt wurde. Allerdings -
und das unterscheidet diese Nachbarschaften von anderen - kam es auch immer
wieder zu Neid, Ablehnung, Ausgrenzung, ja Eruptionen von Gewalt von Seiten
der Christen aus keinem andern Grund, als daß diese
Nachbarn Juden waren. Und nach 1933 sahen die christlichen Einwohner
überwiegend tatenlos zu, - teilweise sogar mit Beifall oder indem sie
Notlagen für sich ausnutzten - wie ihre Nachbarn innerhalb von acht Jahren
rechtlos und vogelfrei gemacht, zur Auswanderung getrieben und die übrig
gebliebenen schließlich zur Ermordung abgeholt wurden. Über diesen Prozeß ist offenbar lange in den Orts gemeinden
geschwiegen worden, während über andere Ereignisse - wie z.B.
Kriegsgefangenschaft, Vertreibung, Eigentumsverlust - sehr wohl und sicher
viel gesprochen wurde. Erst seit Anfang der achtziger Jahre haben dann in
vielen Orten eine ganze Reihe von Autoren teils in Eigeninitiative, teils im
Auftrag der Gemeinde die Geschichte der Juden in ihren Orten so detailliert
recherchiert und dokumentiert, vielfach Familie für Familie, wie bis dahin
noch nie die Geschichte einfacher Menschen erforscht worden ist. Hier sind
also Denkmäler gesetzt, ist Erinnerung und zugleich Trauerarbeit geleistet
worden. Warum also nun dieses Buch? Als der Kreistag des
Landkreises Darmstadt-Dieburg am 4. 12. 1992 beschloß,
ein "Lesebuch" zur Geschichte der Juden im Gebiet des heutigen
Landkreises in Auftrag zu geben, hatte er die Absicht, das in den
Veröffentlichungen zu einzelnen Orten vorhandene Wissen so bearbeiten und
ergänzen zu lassen, daß eine Publikation für ein
breites Publikum entstünde. Gedacht war dabei an interessierte Bürgerinnen
und Bürger sowie Schülerinnen und Schüler, für die das Mißlingen
des Zusammenlebens der Deutschen und der Juden in der gemeinsamen Geschichte
dargestellt werden sollte, aber auch die Auseinandersetzung damit nach 1945
als Chance des Neuanfangs. Für all dies waren
die vorhandenen Publikationen über die Geschichte der Juden in einzelnen
Orten eine unabdingbare Voraussetzung, die wir dankbar genutzt haben. Auf
dieser Grundlage aufbauend, haben die Autoren weitere Informationen ergänzt, aber
sich vor allem bemüht, die große historische Kurve einer Entwicklung zu zeichnen,
die zugleich auch einen Längsschnitt durch die deutsche Geschichte der
letzten sechs Jahrhunderte darstellt. Es entstand dabei ein Bild einer
Menschengruppe, die zwar mitten unter den Einwohnern, aber nicht mit ihnen
lebte. Sie hatte eigene religiöse, soziale und kulturelle Lebensformen, wenn
sie auch beeinflußt waren von ihrer Lebensweise auf
dem Land. Die einzelnen Beiträge zeichnen das an verschiedenen Lebensbereichen
nach. Seit dem Mittelalter lebten die Juden als Minderheit nach besonderem
Recht (E.G. Franz). Die von den Städtern unterschiedene, sehr traditionelle
Volksfrömmigkeit der Landjuden (Kaufmann) wie die Anlage und Organisation
ihrer Friedhöfe (Heinemann) stifteten einen geistigen Zusammenhalt. Sichtbar
wurde er in den Synagogen, die in den Dörfern aber überwiegend erst im 19.
Jahrhundert errichtet wurden (Reinhold-Postina).
Mit all dem, mit ihren religiösen Bräuchen (besonders dem auffälligen
Feiertag am Samstag), mit den Friedhofsverbänden, die bis 1815 oft die
Grenzen der herrschaftlichen Territorien überschritten, insbesondere aber
mit den Synagogenbauten waren die Juden ein unübersehbarer, abgetrennter und
doch dazu gehörender Teil des alltäglichen Lebens in den ländlichen Orten. Im Alltag war das
Leben der Juden, dieser Nicht-Bauern in den Dörfern und vorwiegend agrarisch
geprägten Kleinstädten vielfältig mit dem Leben der übrigen Bewohner
verschränkt. Sie sicherten ihr wirtschaftliches Überleben zwar unter Protektion
der Regierenden, waren aber bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in den beruflichen
Nebenzweigen der agrarischen Gesellschaft eher widerwillig geduldet (Kaufmann).
Seit dieser Zeit schien es allerdings, als würden sich Mehrheit und Minderheit
aufeinander zubewegen, einen Zustand wiederherstellen, wie er wohl in den
rheinischen Städten des Hochmittelalters noch als römisches Erbe vorhanden
gewesen war. Assimilation und Emanzipation, Angleichung und Befreiung hießen
die Stichworte, unter denen aufgeklärtes Denken anstrebte, daß aus dem Nebeneinanderleben ein Zusammenleben werden
sollte. Dies bahnte sich in Schulen, Vereinen, politischen Parteien,
gemeinsamem Militärdienst an (E.G. Franz; Lange; Steffens). Doch was
Integration hätte werden können, wurde von Anfang an auch von Ablehnung und
Feindschaft begleitet, ja von einem Haß, dessen
Motive zwar erklärbar sind, dessen emotionale Energie aber schwer
nachzuvollziehen ist (Lange). Diese Ausgrenzung war ideologische Grundlage
für die "völkische" Staatsordnung nach 1933. Ihrem Programm einer
"Ethnisierung" des Bewußtseins
durch täglichen Anschauungsunterricht in Diskriminierung stand vor allem
Gleichgültigkeit, Opportunismus, Feigheit und leider nur ganz wenig Mut oder
wenigstens Mitleid gegenüber, so daß der Prozeß von der Ausgrenzung bis zur Vernichtung im
wesentlichen widerstandslos durchgeführt werden konnte (Steffens). Den Neuanfang nach
1945 (Kohlmannslehner/Lange) haben wir mit einem Fragezeichen versehen. Zwar
ist unleugbar viel zur Aufarbeitung und Bewältigung geschehen, auch leben
neue Generationen, die nicht mehr von der in Deutschland in langer Tradition
verfestigten Mentalität der Verachtung und Ausgrenzung geprägt sind;
andererseits gibt es aber im Landkreis wie in angrenzenden Gebieten immer
wieder Vorfälle, in denen diese alte Mentalität wieder aufzuleben scheint.
Für den Repräsentanten des Judentums in unserer Region, den Vorsitzenden der
Jüdischen Gemeinde Darmstadt, Moritz Neumann, ist zwar denkbar, daß es auch in den Orten des Landkreises wieder einmal
von Juden als Gotteshäuser genutzte Synagogen geben kann, doch warnt er auch
vor einem immer noch spürbaren Antisemitismus. Gegenüber solchen
Tendenzen, dem Wiederaufleben antisemitischer, dem Neuentstehen
fremdenfeindlicher Einstellungen soll dies ein Buch zum Lesen und Auseinandersetzen
sein. Nur wenn man weiß, was geschehen ist, wenn die Vergangenheit aus
bürokratischen oder biographischen Texten und aus Bildern konkret zu uns
spricht, dann können wir nachvollziehen, aus welchen Beweggründen Menschen
das Recht aufs Zusammenleben verweigert wurde. Dieses Wissen über die
Bedingungen und Umstände, das Nacherleben menschlicher Schicksale sollte ein
Nachdenken anregen, aus dem letztlich dann auch unser Handeln Impulse für gelingendes
menschliches Zusammenleben gewinnt. - Dies ist auch meine Antwort auf die
Frage, die Siegbert Lorch, der 1938 aus Dieburg vertrieben wurde, mir einmal
zur Arbeit an diesem Buch stellte: "Warum machen Sie das?" Wenn die
Lektüre des Buches, die Auseinandersetzung mit den darin abgedruckten
Dokumenten dazu beitragen kann, daß die leidvollen
Lebenserfahrungen, die er mir in seinen Briefen schilderte, nie wieder
gemacht werden müssen, dann hat es seinen Sinn erfüllt. Die gleiche Absicht
bewegte auch Bürger in vielen Orten, die in jahrelanger Arbeit die Geschichte
der jüdischen Bewohner zusammengetragen haben, und dabei keiner
Konfrontation mit den unerfreulichen, ja schändlichen Ereignissen in ihren
Heimatgemeinden aus dem Wege gingen. Stellvertretend für diese Autoren, auf
deren Arbeiten wir aufbauen konnten, möchte ich an dieser Stelle Robert
Bertsch aus Seeheim nennen. Ihm,
der im Januar 1997 verstarb, sei mit diesem Buch ein ehrendes Angedenken
bewahrt. Gleiches gilt für den Auch der Initiator und Mitautor dieser
Publikation, den 1998 verstorbenen Dieter Kohlmannslehner, der unermüdlich
jüdischen Spuren im Landkreis nachging. |
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[1] "There was a tremendous sense of betrayal by the Germans, with
whom we had lived for so many years." Siegbert Lorch an Verf.,
Brief vom 15. 10. 1995. [2] Bericht der
Landesgendarmeriestation Michelstadt über eine Versammlung der NSDAP am 2.6.
1932 in Michelstadt; StAD
G 15 Erbach Q 27, fol.
186. [3] Franz /
Köhler, Parlament, S. 26. |
Thomas Lange Judenfeindschaft
und Antisemitismus zwischen 1890 und 1933 - auch eine Spurensuche Ein schreckliches Gefühl von Betrug seitens
der Deutschen, mit denen wir so viele Jahre gelebt hatten [1], - so
beschreibt der 1922 in Dieburg geborene, 1936 von dort vertriebene Siegbert
Lorch im Rückblick 1995 seine Erinnerung daran, wie nach 1933 die Apartheid
zwischen den jüdischen und den anderen Deutschen errichtet wurde: kein
offener Widerstand regte sich dagegen - auch nicht bei Freunden und
Bekannten. Die diskriminierenden staatlichen Verordnungen zur
"Rassentrennung" kamen plötzlich und rasch (im April 1933 allein
waren es schon acht; s. die Übersicht in dem Beitrag von G. Steffens), denn
der regierungsamtliche Antisemitismus konnte nun ausführen, was seit 40 Jahren schon
vorgedacht worden war. Die NS-Regierung konnte auf einer schon lange
vorhandenen Strömung aufbauen. Wie bewußt diese
Kontinuität war, wird aus einer Bemerkung deutlich, die der NSDAP-Abgeordnete
Dr. Ferdinand Werner, zu dieser Zeit als Vertreter der stärksten Fraktion
Präsident des Hessischen Landtags, während einer Wahlkundgebung am 2. Juni
1932 in Michelstadt machte: er erinnert
an die Männer Dr. Böckel und Oswald Zimmer, Dresden in den Jahren 1890-1892.
Aus dieser Bewegung sei die NSDAP entstanden. [2].
Werner
selbst verkörpert diese Kontinuität: Schon 1915 war er im großherzoglich-hessischen
Landtag in Darmstadt Abgeordneter der "Deutschvölkischen Partei",
die wiederum direkt aus dem militant antisemitischen "Hessischen
Bauernbund" und der "Hessischen Volkspartei" hervorgegangen
war, die ihrerseits Wurzeln in der Böckel-Bewegung hatten.[3] |
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[4] Neu,
Otzberg (20. 10. 1988); vgl. Richarz, Jüdisches Leben, Bd. 3, S. 28. [5] Shulamit Volkov: Jüdische Assimilation und Eigenart im
Kaiserreich. In: Volkov, S. 131-145; hier: S. 144. [6] Traverso, Juden, S. 43. - Vgl. Nipperdey,
S. 403 [7] Richarz Bd. 2, S. 49. [8] Traverso, Juden, S.
37, 62. |
Antisemitismus in
Deutschland war in den zwanziger Jahren weder neu noch verborgen gewesen, -
woher kam also dieses Gefühl von Betrug
bei dem Dieburger Juden Siegfried Lorch? Woher die vielfach positive Sicht,
mit der Juden auf die Kaiserzeit oder die zwanziger Jahre zurückblickten - Meine Eltern waren sehr beliebt,
erinnert sich Lisel Neu aus Lengfeld
[4] - , so daß das Jahr 1933 in der Erinnerung zum
plötzlichen Schock wurde? Es ist ja oft im Rückblick auf die deutsch-jüdische
Geschichte festgestellt worden, daß am Vorabend des Ersten Weltkrieges [...] die
Juden in Deutschland in mancher Beziehung
gut integriert und kulturell stark angepaßt [5]
waren, - so weitgehend, wie bis dahin noch nie in Deutschland. Gerade in
dieser Epoche der Integration aber wurde "Antisemitismus" zum
politischen Schlüsselbegriff von wählermobilisierenden
Massenbewegungen. Eine jüdisch-deutsche Symbiose, wie sie der Marburger Philosoph Hermann Cohen zur Zeit des Ersten
Weltkriegs als positiven Gegenbegriff formulierte, ein wirklich gleichberechtigtes
Miteinanderleben von Deutschen und Juden hat es wohl nicht gegeben.[6] Von
jüdischer Seite gesehen konnte dieser Assimilationsprozeß
sowieso nur auf Kosten der jüdischen Identität vor sich gehen: soziale
Integration gegen kulturelle Anpassung, deren Symbol der oft zitierte Weihnachtsbaum in der jüdischen
Familie war.[7] Auf der deutschen Seite fehlte die wirkliche Toleranz, auch jüdisches Anderssein zu akzeptieren.
Vielmehr fungierte der Antisemitismus im Kaiserreich als Element nationaler Einheit, begünstigte als Abgrenzungsmerkmal
den Aufbau deutscher Identität.[8] |
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[9] Goldhagen,
Vollstrecker, S. 101; Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. In:
Volkov, Jüdisches Leben, S. 13-36;
hier: S. 23. |
Die Bedeutung des Antisemitismus
um 1900 wird unterschiedlich bewertet. Als notwendige und logische Vorstufe
zur kollektiven Ermordung der Juden erscheint er Daniel J. Goldhagen, der
behauptet, daß der
Antisemitismus für die deutsche und österreichische Gesellschaft zu Beginn
des zwanzigsten Jahrhunderts
konstitutiv war. Dagegen meint Shulamit Volkov,
daß er in seinem gesellschaftlichen Stellenwert bis
zum Ersten Weltkrieg im wesentlichen
verbal blieb, aber vor allem im täglichen Umgang symbolischen Wert
annahm. Als kultureller Code wirkte er gewissermaßen als Erkennungsmerkmal
für eine national-konservative Einstellung: Das Bekenntnis zum Antisemitismus wurde zu einem Signum kultureller
Identität, der Zugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager
innerhalb der deutschen Gesellschaft.[9]
- Ob nun das eine oder andere auf die Situation der Juden im Gebiet des
heutigen Landkreises zutrifft, ist aufgrund der Quellenlage schwer
auszumachen. Die Spuren eines manifesten Antisemitismus in den kleinen Orten
haben meist keinen schriftlichen Niederschlag gefunden, wurden - allenfalls -
familiär und mündlich tradiert. Eine Beschreibung des Umfeldes -
Wahlergebnisse, Parteien, Zeitungen, Landtagsdebatten - als Spiegel auch von
lokalen Stimmungen und Ereignissen muß vielfach die
spärlichen direkten Zeugnisse ergänzen. |
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[10] StAD E 2 Nr. 45/2; Desideria der Stadt Großen-Gerau Nr. 29. [11] Wirthwein,
Landjuden S. 83. [12] Wirthwein,
Landjuden, S. 80ff. [13] Franz,
Juden, S. 124 f.; Berding, Antisemitismus S. 70 f. [14] Preissler, Frühantisemitismus, S. 280 ff. |
Von der traditionellen
Judenfeindschaft zum organisierten Antisemitismus Der Antisemitismus
vom Ende des 19. Jahrhunderts konnte auf jahrhundertelang eingeübten
Verhaltensweisen aufbauen. Da war zum einen ein Bewußtsein
kultureller Fremdheit von Juden und Christen, trotz gerade auf dem Land kaum
unterscheidbarer ärmlicher Lebenshaltung. In den kleinen Landstädten hatte
ökonomischer Konkurrenzneid auch in Hessen eine lange Tradition. Als
Beispiel sei genannt, daß auf dem Landtag von 1768
die Stadt Groß-Gerau - sicher nicht nur für sich -, vom Landgrafen forderte, daß die Juden [...]
hier abgeschaffet, und diesen weiter nichts als der
Spitzen-, Leinwand- und Viehhandel gelassen werden solle. Man berief sich
auf ähnliche Eingaben auf den Landtagen von 1663 und 1682.[10]
Hier war es ganz klar die Konkurrenzangst von Zunfthandwerkern gegenüber
einer in ihren sonstigen Lebensäußerungen sowieso schon streng
kontrollierten Minderheit. Nachdem die Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert
ihren formalrechtlichen Anfang genommen hatte, lebte man weiterhin in der
distanzierten Form zusammen, die sich aus einem gewissen gegenseitigen
ökonomischen Aufeinander-Angewiesensein ergab. Denn die jüdischen Händler
auf dem Land erfüllten notwendige Funktionen, indem sie den Handel außerhalb
der Marktzeiten und den mit den Produkten bäuerlichen Nebenerwerbs bzw.
landwirtschaftlichen Abfalls (Felle, Hörner, Federn u.a.) organisierten und
nebenbei ein eher ärmliches Kreditgeschäft betrieben. Aber gerade durch ihre
Hausierer- und Handelstätigkeit hatten die Juden einen mobileren Lebensstil
und unterschieden sich außerdem deutlich in ihren kulturellen und religiösen
Riten von den christlichen Dorfbewohnern. Die strenge Sabbatruhe und die komplizierten
Speisevorschriften mußten
der bäuerlichen Bevölkerung wohl als Luxus erscheinen.[11]
Gleichzeitig waren bei den Beamten der unteren Gerichte und Verwaltungen antijüdische Ressentiments weit
verbreitet und handlungsbestimmend. Anfang des
19. Jahrhunderts urteilten Gerichte der Provinz Starkenburg oft parteilich
zum Schutz der - wie es hieß - unerfahrenen
Bauersleute, d.h. entschieden auch bei eindeutiger Sachlage gegen Juden, z. B. wenn diese die Häuser
verschuldeter Bauern kaufen oder versteigern lassen wollten, was, obwohl ganz
legal, als Skandal aufgefaßt wurde.[12] 1819, 1830
und 1848 fanden in ganz Süddeutschland antijüdische Krawalle statt, die
provoziert und ausgeführt wurden von Dienstboten, Lehrlingen und Handlungsgehilfen.[13]
Auch bei den radikal-demokratischen Studentengruppen
der Gießener Burschenschaften ("Gießener Schwarze") fanden sich
schon 1816 - 1819 heftige antisemitische Formulierungen. Christliches Bekenntnis und deutsche
Abstammung sollten Voraussetzung für die Mitgliedschaft in den zu
gründenden nationalrevolutionären teutschen Gesellschaften sein. Der zu den
Darmstädter Schwarzen gehörende
Wilhelm Schulz übernahm in seiner sozial-radikalen Flugschrift Frag- und Antwortbüchlein 1819 das Klischee vom Juden als
nationalfeindlichem Ausplünderer des deutschen Volkes.[14] |
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[15] Franz,
Juden, S. 84, 91; die dort skizzierte Geschichte des hessen-darmstädtischen Judentums
sowie der antisemitischen Bewegung liegt den folgenden Ausführungen
zugrunde. |
Doch im Laufe des
19. Jahrhunderts setzten sich die bürgerlichen Befürworter der Emanzipation,
also der rechtlichen Gleichstellung der Juden durch, so daß
aus den "Schutzjuden" "jüdische Bürger" werden konnten
(s. den Beitrag von E. G. Franz), allerdings noch nicht ohne Behinderungen.
So hatte die hessische Verfassung von 1820 zwar die Berufswahl freigegeben,
sah aber noch, wenn auch sehr verklausuliert, für nichtchristliche Glaubensgenossen Einschränkungen in den politischen
und bürgerlichen Rechten vor: sie konnten keine Staatsbeamten werden und
erhielten nicht automatisch das Staatsbürgerrecht. Der nächste Schritt
geschah im Rahmen der Revolution von 1848.[15] In der Zweiten Kammer des
hessischen Landtags legte das revolutionäre Ministerium schon im März 1848
einen Gesetzentwurf über die Aufhebung der noch bestehenden Einschränkungen
der bürgerlichen Rechte der Juden vor: Jede Unfähigkeit
oder Beschränkung hinsichtlich der Ausübung von politischen oder bürgerlichen
Rechten und Rechtshandlungen, welche bisher als Folge der Verschiedenheit des
Religionsbekenntnisses bestanden hat, ist aufgehoben.
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[16] Preissler, Frühantisemitismus, S. 224. [17] Preissler, Frühantisemitismus, S. 221ff., 231ff.,
236ff. [18] Protokolle der 2. Kammer des 11. hessischen
Landtags, 1847/48, Nr. 44, S. 13 u. 44. [19] Protokolle
der 2. Kammer des 11. hessischen Landtags, 1847/48, Nr. 80, Sitzung vom 27.6.1848,
S. 49; Keim, Judenfrage, S. 228. |
Während der
Diskussion über den Entwurf wurden allerdings Befürchtungen laut über die
möglichen negativen Folgen einer bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden:
wenn sie damit auch automatisch die ortsbürgerlichen Rechte - die zusätzlich
zu den staatsbürgerlichen zu erwerben waren - erhalten sollten, befürchtete
mancher der aus den Landgemeinden kommenden Abgeordneten [16] neue
Konflikte. Denn auf den Dörfern flammten seit Jahren immer wieder
Streitigkeiten zwischen Juden und Christen auf, bei denen es um die Nutzung
der Gemeindeeinrichtungen wie Allmende oder Backofen ging (z. B. 1831 in Sickenhofen, 1841 in Hergershausen).[17]
Der Abgeordnte Heldmann erklärte sogar: würden die
Gemeinden gezwungen werden, mit der israelitischen Bevölkerung zu teilen, so wäre die Folge davon wieder eine allgemeine Judenverfolgung.
In Odenwald und Wetterau hatte es tatsächlich 1847/48 Tumulte auch gegen
Juden gegeben. So wurde dann das Gesetz
die religiöse Freiheit betreffend zwar einstimmig angenommen, doch eine knappe Mehrheit (21 zu 19 Stimmen)
ergänzte es mit dem Zusatz, daß das Ortsbürgerrecht
nur an die Einwohner mosaischen
Glaubens verliehen werden sollte, die auch Staatsbürger waren.[18] Obwohl
dieser Zusatz nach einem Einspruch der ersten Kammer schließlich wieder
gestrichen wurde [19], war mit dem Ortsbürgerrecht eine zusätzliche Barriere
bezeichnet, die auf dem Land schwerer als in der Stadt überwunden werden
konnte. |
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[20] Berding, Antisemitismus S. 78. [21] Barkai, Jüdische
Minderheit, S. 123. [22] S. die
Übersichten im Anhang zum Beitrag von E.G. Franz und bei G. Steffens |
Dennoch gelangte
nach 1848 der Emanzipationsvorgang
erstaunlich reibungslos zum Abschluß [20], und bis in die siebziger Jahre, im Zusammenhang
mit dem wirtschaftlichen Aufschwung durch die Industrielle Revolution in
Mitteleuropa, verschwanden Diskriminierungen und Angriffe für über 30 Jahre
aus der Öffentlichkeit. In Darmstadt gehörten Fabrikanten, Warenhausbesitzer,
Rechtsanwälte, Bankiers, Architekten aus jüdischen Familien bald ebenso
selbstverständlich zum bürgerlichen Mittelstand, wie sie seit den 60er Jahren
in das Darmstädter Gemeindeparlament und in den großherzoglich-hessischen
Landtag der Residenz Darmstadt als Abgeordnete (der National-Liberalen, der
Fortschritts-Partei oder später der SPD) gewählt wurden. Während in der
Stadt die Berufstätigkeit relativ weit über 20 Berufsgruppen gefächert war
(wobei etwa 30% der Juden in Bereichen des "Handels" arbeiteten)
[21], schränkte sich das auf dem Land naturgemäß ein (s. die Beiträge von U.
Kaufmann und G. Steffens). Neben vielen Viehhändlern, die manchmal noch
daneben einen Metzgerladen betrieben, gab es vorwiegend Hausierer, kleine
Ladenbesitzer und im 20. Jahrhundert einige wenige Ärzte (Dr. Goldmann in
Reinheim, Dr. Mayer in Seeheim). In der Hauptstadt und auf dem umgebenden
Land galt aber gleichermaßen, daß die Zahl der
jeweils dort lebenden Juden eine winzige Minderheit von 1 - 2% der
Bevölkerung ausmachte.[22] |
|
[23] Berding, Antisemitismus, S. 78 f. [24] Berding, Antisemitismus, S. 79, 85 ff. zu den
Parteien; zu Studenten: S. 155 ff., Mittelständlern S. 120 ff., Bauern S. 129 ff. - Zur
Tradition bei den hessischen radikal-demokratischen Studenten: Preissler, Frühantisemitismus, S. 280 ff. [25] Volz, Reinheim, S.
55. |
Antijüdische
Einstellungen blieben allerdings unter
der Oberfläche [23] in nahezu
allen Bevölkerungsschichten bestehen. Sie wurden während der
Modernisierungsphase des Kaiserreiches unter dem von Wilhelm Marr 1879 geprägten Schlagwort "Antisemitismus"
gebündelt. Es kennzeichnet eine quer durch soziale Schichten, Bildungsstufen
und Konfessionen laufende Einstellung gegen die mit der modernen
Gesellschaft einhergehende Gleichberechtigung der Juden. Mit dem
wissenschaftlich klingenden, aber tatsächlich äußerst schwammigen Begriff
"Antisemitismus" wurde ein Feindbild entworfen, in dem soziale und
kulturelle Veränderungen mit ethnischen Merkmalen gleichgesetzt wurden: den
Bedrohungen durch die Moderne wurde ein Gesicht - genauer: eine bedrohliche
Fratze - gegeben. Die antisemitischen
Aktionen und Organisationen, die sich in den achtziger Jahren vervielfältigten,
wurden sozial getragen von den gleichen mittelständischen Schichten - Handwerker,
Bauern, Akademiker -, wie zu Anfang des Jahrhunderts: die antijüdische
Einstellung hatte gewissermaßen bei ihnen "überwintert".[24] In den
80er Jahren entstand zunächst in Oberhessen eine breite antisemitische
Bewegung, die sich auch parteipolitisch organisierte. Der Marburger
Volkskundler Otto Böckel zog 1887 für den Wahlkreis
Marburg-Kirchhain-Frankenberg in den Reichstag ein. 1890 gewann sein Reformverein auch die
hessen-darmstädtischen Mandate in den Wahlkreisen Gießen-Büdingen und Alsfeld-Lauterbach. Bei der Reichstagswahl von 1893
siegten die Antisemiten in drei von neun hessischen Wahlkreisen, erreichten
in Darmstadt 15%, im Landkreis Dieburg 28% der Stimmen (in Reinheim sogar
42%).[25] Auch im Darmstädter Landtag waren seit 1893 Abgeordnete antisemitischer
Parteien (unter verschiedenen Namen: Hessischer Bauernbund; Reformpartei;
Freie wirtschaftliche Vereinigung; Hessische Volkspartei) vertreten, die von
Wahl zu Wahl an Stimmen zulegten: 1897
waren es sieben, 1902 schon zwölf von 50 Abgeordneten, - doppelt soviel wie
die Sozialdemokraten dorthin entsenden konnten. Bei den Landtagswahlen 1908
wurden überwiegend in Oberhessen, aber auch in den Wahlkreisen
Babenhausen/Groß-Umstadt und Groß-Gerau antisemitische Abgeordnete gewählt,
1911 auch im Wahlkreis Gernsheim/Pfungstadt. |
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[26] Franz,
Juden, S. 127 f. [27] Berding, Antisemitismus, S. 103. |
Die in Zeitschriften
und Wahlkämpfen sich heftig artikulierende Propaganda ermutigte auch zu handgreiflichen
Ausschreitungen, wie sie etwa 1890 aus dem Odenwald (Amtsgerichtsbezirk
Fürth) berichtet wurden. Darüber beschwerten sich die Judengemeinden in einer
Audienz bei Großherzog Ludwig IV. Dieser und seine Regierung reagierten in
der Tradition der "ihre" Juden beschützenden Landesherren. Der
Großherzog ließ im Oktober 1890 eine Ermahnung veröffentlichen, in der es
hieß, daß er diese Ausschreitungen bedauere und auf das Ernsteste mißbillige.
Allerdings fügte er auch hinzu, daß Klagen über die Handlungsweise mancher
Juden wohl berechtigt und ihnen nachzugehen sei. Auch die Spitzen der
Verwaltung reagierten in gleicher Richtung. Das Oberkonsistorium der
evangelischen Kirche Hessen-Darmstadt stellte im gleichen Monat kategorisch
fest, daß Beteiligung
an antisemitischen Agitationen [...] nicht vereinbar mit den
Christenpflichten und Amtspflichten eines Geistlichen sei. Der Ministerialrat
Paul Schlippe wies in einem Erlaß vom 20. Dezember
1890 die Amts- und Staatsanwälte an, da,
wo es sich um die Beleidigung der Israeliten als solcher handelt [...] auf
dem Wege der öffentlichen Klage vorzugehen. Und der leitende
Staatsminister Paul Finger ermahnte im Herbst 1892 alle großherzoglichen Zivilbeamten, daß die
Beteiligung an antisemitischen Versammlungen und Vereinen vor allem von
Beamten der mittleren und unteren
Dienstklassen nicht mehr zu dulden sei [26], - zugleich ein Indiz dafür,
daß der Antisemitismus offensichtlich in
erheblichem Ausmaß in der Beamtenschaft verbreitet war. Die staatlichen
Autoritäten der wilhelminischen Epoche reagierten also - in Hessen wie in
anderen Ländern des Deutschen Reiches - offiziell sensibel und eindeutig im
Sinne der Politik der Emanzipation und Gleichberechtigung der Juden. Sie
standen damit gegen eine breite Volksbewegung, deren Ziel gerade war, diese
zu verhindern bzw. zurückzuschrauben, und deren radikalste Vertreter schon
1886 die Vertreibung der Juden aus
Deutschland forderten.[27] |
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[28] Landwirth
und Bienenzüchter, 15. 12. 1890, S. 54; Jüdisches Leben im Vogelsberg, S. 95. [29] Berding, Antisemitismus, S. 86, 107; Rüdiger Mack:
Otto Böckel und die antisemitische Bauernbewegung in Hessen 1887 - 1894. In:
Neunhundert Jahre, S. 377 - 410; hier: S. 397. [30] Programm in:
Hessische Reform vom 1. 3. 1900. |
Die Agitation, die
in Hessen der Böckel-Bewegung zu so spektakulären Erfolgen verhalf, bot im
Zerrbild "des Juden" ein einfaches, hauptsächlich durch immer
wiederholte Vorwürfe bekräftigtes Feindbild: die Juden beherrschen den gesamten Handel, die Börse, die öffentliche
Presse, sie haben durch Handel,
Schacher und Wucher gewaltige Reichtümer zusammengescharrt. Mit Schacher war gemeint die erfolgreiche
Anwendung neuer Produktions- oder Geschäftsmethoden (z.B. der Konfektionsschneiderei
oder Einbau von Schaufenstern)[28] durch jüdische Kaufleute; Wucher nahm den uralten Vorwurf
überhöhter Zinsen auf, der vor allem auf dem Land einprägsam wirkte, da es
hier oft jüdische Viehhändler waren, die verschuldete Bauerngüter aufkaufen
oder versteigern ließen. Diese Agitation hatte auch sozialrevolutionäre Züge.
Der Antisemitismus wirkte als Mobilisierungs-
sowie Integrationsideologie für die Schichten, die sich im rasanten
Industrialisierungs- und Modernisierungsprozeß
der Kaiserzeit als Verlierer sahen. Böckel polemisierte denn auch gegen Junker und Kapitalisten, organisierte
Einkaufs- und Absatzgenossenschaften sowie Spar- und Darlehenskassen auf
dem Land.[29] Das in der Darmstädter Zeitschrift
"Hessische Reform" - Monatsblatt
für den deutsch-christlichen Mittelstand - Für Deutschthum, Thron und Altar!
- veröffentlichte Programm der Deutsch-sozialen
Reformpartei etwa richtete sich gegen falschen wirthschaftlichen Liberalismus
sowie kapitalistisches Faustrecht. Seine
Forderungen sind protektionistisch (Schutz
der Landwirtschaft gegen ausländische Konkurrenz; Beseitigung der zügellosen Gewerbefreiheit), nationalistisch (Verhinderung gemeingefährlicher
Einwanderung) und sehen das einfache Allheilmittel in der Aufhebung
der Gleichberechtigung der in Deutschland lebenden Juden und Stellung
derselben unter ein besonderes Fremdenrecht, namentlich Ausschluß
der Juden aus allen amtlichen und einflußreichen
Stellungen.[30] Nur 33 Jahre später wurden diese Programmpunkte aus dem
Jahr 1900 in Deutschland tatsächlich Gesetz. |
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[31] Berding, Antisemitismus, S. 101 ff. [32] Der
Landwirth und Bienenzüchter. Süddeutsche antisemitische Zeitschrift, 20.2.
1892. [33] Mack,
Böckel, S. 393. [34] Volz, Reinheim, S. 55. [35] Nach einem
Gedicht im "Reichsherold", der von Böckel herausgegebenen Zeitung,
vom 23. 6. 1891; zit. bei Geibel, Neustadt,
S. 149. [36] Z.B. der am
6. November 1897 nach Nieder-Ramstadt angekündigte;
Hessische Reform, 1.10. 1897. [37] Hessische
Reform, 1. 12. 1894. [38] Hessische
Reform, 1. 11. 1894. [39] Hessische
Reform, 1. 10. 1895. [40] Mitteilungen
aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus (= Abwehrblätter), 8.8. 1906, S.
247. [41] Bertsch,
Juden in Seeheim, S. 96, 98. [42] Neue
Hessische Volkszeitung, 1.1.1892; Hessische Reform 1.1.1901. |
Um die
Jahrhundertwende entsprach den bei lautstarken Veranstaltungen mobilisierten,
hochgehenden Emotionen der Böckel-Bewegung auf der organisatorischen Seite
Unfähigkeit, in der politischen Praxis Ziellosigkeit. Das zeigte sich nicht
nur in dem gänzlichen parlamentarischen Versagen der antisemitischen Reichstagsabgeordneten
[31], sondern auch darin, daß die in Hessen vollmundig
propagierten judenfreien Viehmärkte
- in Reinheim fand einer am 12. März 1892 statt[32] - nach wenigen Jahren
mangels Erfolges von selbst einschliefen und die erprobten jüdischen Viehhändler
ihre urspüngliche Funktion wieder übernahmen.[33]
Mode waren eine Zeitlang auch antisemitische
Volksfeste, die vor allem der internen Stimmungsverstärkung dienten.
Anfang Juni 1891 fand ein solches Fest auf dem Ohlschen
Berg bei Groß-Umstadt mit 1.800 Besuchern statt [34], am 28. Juni desselben
Jahres ein anderes in Sandbach im Odenwald, wo das deutsche Redeschwert gegen den jüdischen Vampyr
geschwungen werden sollte.[35] Das gleichgesinnte Erleben stand wohl
auch im Mittelpunkt der zahlreichen Agitationsausflüge,
die die Ortsgruppe Darmstadt des antisemitischen Deutschen Reformvereins aufs Land führten und die regelmäßig mit
einem gemüthlichen Beisammensein endeten.[36] Immer
wieder hielten die Darmstädter Parteigenossen Versammlungen auf dem Land ab,
wobei in dem Parteiblatt "Hessische Reform" als Treffpunkt Groß-Umstadt, Groß-Gerau und Reichelsheim
sehr häufig, aber auch Griesheim, Nieder-Ramstadt
und Wixhausen genannt werden. In Groß-Umstadt fand
am 28. Oktober 1894 der erste Parteitag der Hessischen Reformpartei mit 114
Delegierten aus 41 Orten statt.[37] In der Jugendorganisation der Partei
waren Delegierte aus Messel, Groß-Gerau und Ober-Ramstadt vertreten.[38] Bei einem antisemitischen Bauernfest am 15.
September 1895 in König hetzte der Delegierte Grünwald aus Lengfeld gegen mammonistischen
Geist wie gegen Juden und Sozialdemokraten.[39] Aus den
Geschäftsanzeigen von Kaufleuten und Gaststätten - so inserierte das judenfreie Hotel Kölner Hof in Frankfurt
in der Hessischen Reform, oder der
Käsefabrikant Jakobi in Trebur pries Prima
Mainzer Handkäse, echt antisemitische Bauernware an - kann man auf ein kleinbürgerliches
antisemitisches Milieu schließen. In Entsprechung zu dem notorischen judenreinen Bade Borkum wird 1906
Trautheim in einer Liste antisemitischer Bade-, Kur- und Erholungsorte
genannt.[40] Anklang an die religiöse Praxis zur Zeit der Reformation erweckt
dagegen ein Fest der Judenmission,
zu dem der Pfarrer von Seeheim am 21. August 1900 einlud, und auf dem wohl
der Berliner Hofprediger Adolf Stöcker sprechen sollte, der Ende der siebziger
Jahre die erste antisemitische Partei gegründet hatte.[41] Die Stärke der
Bewegung wird dadurch deutlich, daß zu
Versammlungen mit Böckel oder dem in gleicher Richtung agitierenden
Liebermann von Sonnenberg in Darmstadt leicht immer über 1.000 Personen kamen
[42], während der 1890 in Berlin gegründete Verein zur Abwehr des Antisemitismus (im Jargon der Antisemiten:
"Judenschutztruppe") mit seiner Abteilung Darmstadt gerade mal 50
Mitglieder versammeln konnte.[43] Die von ihm bevorzugte Methode: Sachliche Widerlegung der antisemitischen Lügen war wohl
nicht geeignet zur Bindung starker Emotionen und zahlreicher Anhänger.[44] |
[43] Landwirth
und Bienenzüchter, 1.12.1891, die Ortsgruppe Darmstadt des Abwehrvereins
hätte 50 Mitglieder. [44] Abwehrblätter,
41. Jg., März 1931, S. 7. |
[45] Landwirth und
Bienenzüchter, 1.10.1891. [46] Berding, Antisemitismus, S. 152. [47] Berding, Antisemitismus, S. 152; Nipperdey,
S. 402. [48] Hessische
Reform, 1.11. 1899, S. 82; Franz, Juden, S. 135. [49] Amtliches
Handbuch der zweiten Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen. 33.
Landtag, 1905/1908. Darmstadt 1906, S. 270. [50] Barkai, Jüdische Minderheit, S. 132. [51] Protokolle
der 2. Kammer des 33. hessischen Landtags 1905/08, Nr. 102, Sitzung vom 25.
März 1908; 4. Bd., S. 2871. |
Antisemitismus als
"kultureller Code": eine unsichtbare Schranke Der Antisemitismus
artikulierte sich im Alltag in vielfacher Weise, ohne immer gleich physisch
handfest oder bürokratisch aktenkundig zu werden. Manchmal waren es nur
groteske Variationen von Neid. So verlor die in Darmstadt herausgegebene
antisemitische Zeitschrift "Landwirth und Bienenzüchter" viele
Worte darüber, daß ein Viehhandel in Roßdorf nicht
am Samstag, dem jüdischen Feiertag, sondern am Sonntag, dem christlichen
Feiertag durchgeführt wurde. Es ist ziemlich durchsichtig, daß hinter der Tirade auf die Sonntagsheiligung wohl eher
Ressentiment auf ein entgangenes Geschäft steckte.[45] Ebenso wird immer
wieder breit über Gerichtsverfahren, auch Bagatellfälle, berichtet, bei
denen Juden wegen Betrug u. ä. angeklagt waren. Die Einstellung "des
Staates", d.h. der Beamten in Schlüsselpositionen in bezug
auf Juden war durch eine gewisse Schizophrenie gekennzeichnet. Gesetzlich
korrekter Schutz gegen Ausschreitungen oder Benachteiligungen wurde in
strenger Unparteilichkeit zumindest verbal garantiert, doch gaben die
Beamten in der eigenen Sphäre die Neutralität
praktisch auf und benachteiligten die Angehörigen der jüdischen
Religionsgemeinschaft massiv.[46] In
Volksschule und Gymnasium gab es kaum jüdische Lehrer, gar keine in den
Prestigelaufbahnen des Diplomatischen Korps oder der aktiven Offiziere. Im
Justizdienst herrschten beträchtliche Unterschiede zwischen den deutschen
Einzelstaaten: In Baden, Hamburg oder Elsaß-Lothringen
konnten Juden auch in höhere Positionen gelangen, in Hessen wie auch in
Preußen, Sachsen, Württemberg und Braunschweig waren sie durch eine unsichtbare Schranke vom höheren
Justizdienst, vor allem von der Staatsanwaltschaft faktisch ausgeschlossen.[47]
Als die "Frankfurter Zeitung" 1899 diese verfassungswidrige
Diskriminierung in Hessen-Darmstadt kritisierte, klagte die hessische
Staatsregierung dagegen. Doch mußte Justizminister
Dittmar im Prozeß
eingestehen, daß bei der antisemitischen Stimmung auf dem Lande eine Anstellung von
jüdischen Amtsrichtern nicht ohne Bedenken
sei. Die Vorurteile gegen das Judentum
seien weit über die eigentlichen antisemitische Kreise hinaus verbreitet. Er war davon
überzeugt, daß viele Richter sich beschweren
würden, wenn man ihnen einen jüdischen
Vorgesetzten geben würde.[48] Auf gleichartige Äußerungen des Staatsministers
Finger bezog sich ausdrücklich der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete
Heinrich Fulda bei seinen Angaben zur Biographie im Amtlichen Handbuch der zweiten Kammer der Landstände von 1905, wo
er über sich drucken ließ: Israelit.
[...] War vier Jahre Gerichtsassessor und ging, da er - im Widerspruch zur
Verfassung! - nach Erklärung des nationalliberalen Staatsministers Finger
Aussicht auf Anstellung im Staatsdienste seines religiösen Bekenntnisses
wegen nicht hatte, zur Anwaltschaft über.[49] Damit beschrieb Fulda ein
Faktum, das den relativ hohen Anteil von Juden an der Rechtsanwaltschaft
erklärte. Im deutschen Reich waren 1907 knapp 15% der Rechtsanwälte Juden, in
Darmstadt vor 1914 17 von 40.[50] Fulda stand für Emanzipation und Gleichberechtigungsstreben
der Juden sehr selbstbewußt ein und warf der Regierung
in einer Landtagsdebatte 1908 indirekt vor, zu viel Rücksicht auf die seiner
Ansicht nach nicht so gefährliche antisemitische Bewegung zu nehmen: Als ich noch Gerichtsassessor war, bin ich während der
antisemitischen Hochflut von der vorgesetzten Behörde in Gegenden geschickt
worden, in denen der Antisemitismus ganz besonders blühte, z.B. nach Trebur, Groß-Um-stadt und
anderen Gegenden; ich glaube, auch ich sehe nicht allzu christlich-germanisch
aus - [an dieser Stelle verzeichnet das Potokoll Heiterkeit]
- so daß ich
also wohl Anfechtungen hätte ausgesetzt sein können. Es ist mir aber nie-mals das geringste passiert. Man
soll deshalb doch nicht allzu ängstlich sein.[51] |
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[52] Franz,
Juden S. 129f. |
Fulda gehörte zu den
Juden, die nicht durch eine christliche Taufe eine Vorab-Anpassungsleistung
erbringen wollten, sondern vielmehr auf tatsächlicher Gleichberechtigung als
jüdische Staatsbürger bestanden und sich daher ausdrücklich gegen den
juristischen Schutz aussprachen, der in dem schon erwähnten Erlaß des Oberstaatsanwalts Schlippe von 1890 den Juden
vor Beleidigungen gewährt wurde. Dessen Auswirkung war im übrigen
höchst zweifelhaft. In der Vorweihnachtszeit 1893 wurden vom Darmstädter Reformverein Handzettel
mit den Parolen Kauft Eure
Weihnachtsgeschenke nur in christlichen Geschäften! [...] Kauft nicht bei
Juden! verteilt. Dagegen klagten 24 Darmstädter Geschäftsleute und die
Staatsanwaltschaft, doch sowohl das Darmstädter Landgericht wie das
Reichsgericht (als Revisionsinstanz) wiesen die Klage ab, was die Antisemiten
als Erfolg verbuchen konnten.[52] |
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[53] Abwehrblätter,
14. 11. 1906, S. 357. [54] StAD G 24 Generalstaatsanwalt Nr. 248. [55] Franz,
Juden, S. 135. |
Den Schlippe-Erlaß in Anwendung
sah die "Hessische Reform" auch bei einem Vorfall, dessen
Hauptperson der Darmstädter Amtsrichter Dr. Mahr war. Mit drei anderen Darmstädtern,
die als Rechtsanwalt, Oberrechnungsrevisor und Hofbuchhändler ebenfalls zur gebildeten Schicht zählten, belästigte
er während einer Fahrt von Mainz nach Darmstadt am 7. August 1902 einen
zugestiegenen jüdischen Fahrgast. Die nach einem Rheinausflug angetrunkenen Herren griffen bei ihren Witzeleien
auf antijüdische Klischees ("Knoblauch", "Riechkolben",
"Beschneidung") zurück, sollen auch gröber von ins Wasser werfen und Revolver
geredet, Mahr sogar mit einem Messer herumgefuchtelt haben. Sie wurden wegen
Beleidigung verurteilt. Die "Hessische Reform" konstruierte nun
eine Verschwörungstheorie und stellte den beleidigten jungen Mann als Werkzeug des Judentums zur Vernichtung der Angeklagten dar; die Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des
Antisemitismus dagegen meinten, etwas realistischer, daß
künftig alle jüdischen Bürger diesen Amtsrichter als befangen ablehnen
müßten. Amtsrichter Mahr blieb übrigens im
hessen-darmstädtischen Justizdienst und gehörte weiterhin zu den führenden
Figuren der antisemitischen Bewegung: am 14. November 1906 sprach er auf
einer antisemitischen Versammlung zusammen mit dem bekannten Agitator Liebermann
von Sonnenberg.[53] 1910 wurde er wegen Beleidigung des jüdischen
Rechtsanwalts Dr. Mainzer zu einer Disziplinarstrafe verurteilt.[54] Im
gleichen Jahr wurde indessen mit Dr. Max May der erste Jude in
Hessen-Darmstadt zum Amtsrichter ernannt.[55] |
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[56] Hessische
Reform, 1. 12. 1902, S. 90-91; Abwehrblätter 19. 11. 1902, S. 361/2. [57] 33. hessischer
Landtag 1905/08, Drucksachen, 3. Bd.; Antrag des Abgeordneten Köhler vom 16.
12. 1906, Nr. 330. 5. Bd., Antwort von Justizminister Ewald, 6.5.1907; Nr. 729, s.a. Nr. 730. [58] Protokolle
der 2. Kammer des 31. hessischen Landtags,
Nr. 93, 11. März 1902, S. 2477. [59] Protokolle
der 2. Kammer des 33. hessischen Landtags, Nr. 102 vom 25. März 1908, S. 2869
(Fulda); 31. Landtag, Nr. 93, 11. März 1902, S. 2488 (Köhler). |
Die "Hessische Reform" verwendete übrigens in ihren
Berichten über den Mahr-Zwischenfall von 1902 jene Formen von Ironie, die so
typisch für antisemitische Pöbeleien waren: von dem beleidigten jungen Mann
hieß es z. B., sein Aussehen zeigte, daß die Wiege seiner Vorfahren in heißeren Klimaten
gestanden hatte.[56] Diese
perfiden Umschreibungen von
Andersartigkeit am Rande der strafbaren Ausdrucksweise "funktionieren" nur in einem
Umfeld, das so weit vorgeprägt ist, daß
Anspielungen wie biologische Schlüsselreize wirken. Auch in den parlamentarischen
Diskussionen um den Schlippe-Erlaß war dies zu
bemerken. 1894, 1902 und 1908 wurde darüber debattiert, diesen Erlaß, der justizintern geblieben war, zunächst bekannt
zu machen und dann beantragt, ihn als Ausnahmerecht
aufzuheben. Die großherzogliche Regierung lehnte das 1907 ab, nicht zuletzt
mit Hinweis darauf, daß eine förmliche Aufhebung [...] der Mißdeutung
ausgesetzt wäre, daß die Regierung den im Schlippe'schen Erlasse enthaltenen wohlberechtigten
Grundgedanken preisgegeben habe.[57] Im Landtag stritt
man darum, ob dieser Grundgedanke,
den Rechtsfrieden zu schützen, indem Beleidigungen
der Israeliten als solcher von Amts wegen verfolgt würden, nicht ein
Ausnahmerecht konstituierte, das die Bevölkerung noch um so erbitterter auf die Juden mache.[58] Zwar argumentierte
sogar auch der jüdische Abgeordnete Fulda gegen den Erlaß,
weil er die Juden als gleichberechtigte
Staatsbürger und nicht als mittelalterliche
Schutzjuden sehen wollte. Doch zeigten die vom Präsidenten nicht gerügten
verbalen Entgleisungen der antisemitischen Abgeordneten in der öffentlichen
Debatte im Hessischen Landtag, wie tief schon der rassistische Antisemitismus
in manchen Köpfen verankert war: so lehnte der Abgeordnete Wolf auch
getaufte Juden als Richter ab, denn
Jude bleibt er doch. Der Abgeordnete Köhler, der zu den engen
Mitarbeitern Böckels gehört hatte, schwadronierte
davon, daß rassereine
Menschen die Herrschenden in der Welt in allen Zeiten sein werden. Also darum
Schutz dem reinen Deutschthum und Ausschluß alles
Fremden, insbesondere semitischen Blutes! Als er bezüglich des
Schlippe-Erlasses die Justiz der Voreiligkeit zieh: sie hätte warten können, bis ihr einmal ein totgemachter Jude auf dem
Präsentierteller gebracht wurde; aber den konnte sie von uns nicht bekommen,
da registrierte das Protokoll Heiterkeit.[59]
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[60] Weizmann,
Memoiren, S. 53. |
Im Lichte der
Ereignisse, die sich 30 Jahre später zutrugen, können diese Äußerungen nur
makaber wirken. Der aus einem intakten orthodox-jüdischen Milieu im
zaristischen Rußland kommende Chaim Weizmann - der
vierzig Jahre später erster Staatspräsident Israels werden sollte - empfand
den deutschen Antisemitismus als einen gründlichen
und pedantischen, der bereits im
deutschen Volk tief Wurzel geschlagen habe. Er urteilte so, nachdem er um
1900 kurze Zeit an einer jüdischen Privatschule in Pfungstadt gelehrt hatte.
Die deutschen Juden, die sich als Deutsche
mosaischen Glaubens definierten, schienen ihm moralische Feiglinge und Kriecher zu sein. Sie unterschätzten den
deutschen Antisemitismus und verleugneten zugleich, daß es überhaupt ein jüdisches Volk gäbe. Das Minderwertigkeitsgefühl der deutschen Juden stieß den bewußten Zionisten Weizmann ab, zumal er spürte, daß viele Deutsche die assimilatorischen Anstrengungen
der Juden ablehnten. In seinen nach 1945 veröffentlichten Erinnerungen wirkt
es prophetisch, als er dem Leiter der Pfungstädter
Schule, Dr. Barneß, auf dessen Ansicht, man könne
den Antisemitismus bekämpfen, indem man den Deutschen nur die Augen für die hervorragenden Eigenschaften der Juden öffnen
müßte, antwortete: Herr Doktor, wenn jemand etwas im Auge hat, so ist es ihm sehr
gleichgültig, ob es ein Staubkörnchen oder ein Goldkörnchen ist. Er möchte es
nur herausbekommen.[60] -
Dr. Heinrich Fulda, der sich wegen des Antisemitismus nicht ängstigen wollte, war 1918/19 kurze Zeit hessischer
Innenminister und blieb danach als Rechtsanwalt in Darmstadt; am 1. Juni 1943
wurde er in Auschwitz ermordet. |
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Jüdische Patrioten ohne
Gegenliebe: offener und versteckter Antisemitismus in der Weimarer Republik |
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[61] Keim,
Dieburg, S. 235. [62] Berding, Antisemitismus, S. 168f. [63] Bruno
Italiener: Waffen im Abwehrkampf. Berlin: Philo-Verlag 1921 (3. Aufl.),
Vorwort. [64] Jochmann, Gesellschaftskrise,
S. 141 ff. |
Am ersten Weltkrieg
nahmen selbstverständlich auch die jüdischen Wehrpflichtigen teil. In
Groß-Umstadt, Reinheim und Groß-Bieberau
zählten je zwei jüdische Soldaten zu den Gefallenen, in Pfungstadt drei, in
Dieburg vier. Als dort 1935 ein Denkmal für die Weltkriegsgefallenen
errichtet wurde, unterschlug man die Namen der Juden.[61] Dieses reale Verschwindenlassen des jüdischen Beitrags zur nationalen
Sache, als die der Weltkrieg von den meisten Deutschen gesehen wurde, war nur
die Konsequenz einer einseitigen Wahrnehmung, die schon im Krieg begonnen
hatte. 1916 wurde in den deutschen Streitkräften eine statistische Erhebung
über die Dienstverhältnisse der Juden
angeordnet. Anlaß waren Beschwerden
, die auf der Behauptung gründeten, daß
Juden kaum in vorderster Front, vielmehr in der sicheren Etappe dienten. Als
diese Judenzählung zu Ergebnissen
kam, die die mit den Beschwerden unterstellte Drückebergerei der jüdischen
Soldaten eindeutig als Vorurteil enthüllte, verhinderte das Kriegsministerium
die Veröffentlichung. Trotzdem wurde die bloße Tatsache einer solchen
Erhebung - die größte statistische
Ungeheuerlichkeit einer Behörde bis dahin - ungeachtet ihrer Inhalte
schon als antisemitisches Argument verwendet.[62] So hat die gemeinsame
Kriegsteilnahme gerade nicht erreicht, was der Darmstädter Rabbiner Bruno
Italiener in seinen Feldpredigten an jüdische Soldaten als Erwartung
formuliert hatte: Eure Opfer würden
nicht vergeblich sein und dabei helfen, das Jahrhunderte alte Vorurteil gegen uns Juden in unserem deutschen
Vaterlande zu beseitigen. Er fand es dagegen nötig, schon 1919 ein Buch
mit dem Titel "Waffen im Abwehrkampf" zu veröffentlichen, das die
Propaganda-"Argumente" des neu aufgeflammten Antisemitismus
widerlegen sollte.[63] Denn gerade bei den Soldaten war, oft gezielt durch
Offiziere gefördert, der Antisemitismus auf fruchtbaren Boden gefallen.
Verstärkt durch die Verunsicherung eines nach 1918 geminderten sozialen Prestiges
der Armee, wurde er dann mit den demobilisierten Soldaten in die zivile
Gesellschaft zurückgetragen.[64] |
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[65] Franz,
Juden, S. 145 f.; Berding, Antisemitismus, S. 180;
Jochmann, Gesellschaftskrise, S. 148. [66] Buxbaum, Erinnerung, S. 178. [67]
Abwehrblätter 1921, S. 75. |
Die Antisemiten
organisierten sich 1919 im "Deutschvölkischen Schutz- und
Trutzbund", der reichsweit bald über 200 000 Mitglieder zählte und auch
in Darmstadt 1920 öffentliche Versammlungen abhielt. Auffallend war der sehr
hohe Anteil an Akademikern (knapp 40%), darunter viele Gymnasiallehrer und
Pastoren, die auch, als der Bund 1922 nach dem Mord an Außenminister
Rathenau verboten worden war, ihre antisemitischen Ansichten vor allem in die
Jugend weitertragen konnten. Oberschüler und Studenten waren Träger antisemitischer
Aktionen Anfang der zwanziger Jahre auch in Darmstadt.[65] Auch als Mitte der
zwanziger Jahre der laute Antisemitismus etwas abflaute, war er im
akademischen Milieu gleichwohl latent immer vorhanden. Das bekam auch Henry Buxbaum zu spüren, ein in Friedberg aufgewachsener Jude,
der vor dem Krieg die Sommerferien stets bei seinem Onkel Mayer in Seeheim
verbracht hatte. Bei seinem Medizinstudium in Frankfurt konnte er nie sicher
sein vor abfälligen oder spöttischen Bemerkungen [...] während des Essens in der Mensa, bei der
Toilettenbenutzung oder sogar im Vorlesungssaal.[66] Seltener waren Vorfälle wie der aus dem
Jahr 1921, als deutsche Studenten in Gießen einen jüdischen Kommilitonen
verprügelten, der dann in der Universitätsklinik nicht behandelt wurde.[67] |
|
[68] Franz,
Juden S. 146; 258-261; vgl. auch Klein/Kosmala,
Jüdische Schüler, S. 22 ff. [69] Buxbaum, Erinnerung, S. 173 f. |
Offen artikulierte
sich der Antisemitismus dann z. B. 1926 im Hessischen Landtag, als der Abgeordnete
Ferdinand Werner die Ernennung des Privatdozenten Dr. Julius Goldstein zum
außerplanmäßigen Professor am Pädagogischen Institut der TH Darmstadt zum Anlaß nahm, gegen den
mir schädlich scheinenden Einfluß des Judentums zu
polemisieren. Dabei vollzog er in typischer Weise die Trennung zwischen der
Person - ist mir persönlich vollkommen
unbekannt - und der Sache, also
dem, was Werner für die jüdische Überzeugung
Goldsteins hielt (der sich z.B. mehrfach publizistisch gegen den
Antisemitismus geäußert hatte).[68] Hier kam eine kaum nachvollziehbare
Abspaltung zum Ausdruck - man war nicht gegen einzelne Menschen, aber gegen
die Gruppe als ganze, - die vielfach zu beobachten war. So berichtet auch
Henry Buxbaum, daß er auf
einer Bahnfahrt etwa 1920/21 in einem dunklen Zugabteil antisemitische
Ausbrüche gleichaltriger junger Leute anhören mußte;
im Licht des Bahnhofs erkannte er in einem der Hetzer einen Fußballspieler
aus dem gemeinsamen Friedberger Verein, der aber strikt seine Worte
ableugnete.[69] Das Trennen zwischen konkreter Person und abstrakter
Ideologie, also zwischen dem Juden XY und
dem Judentum also solchen, mutet
schizophren an; diese Haltung bereitet Einstellungen von Nicht-Wissen-Wollen
und Bewußt-Wegsehen vor, die offenbar nach 1933 -
und mehr noch nach 1945 - als typisch angesehen werden können. |
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[70] Goldmann,
Flucht, S. 19. [71] Aus einen
Gutachten des Gießener Provinzialrabbiners Dr.
Sander zu dem Namensänderungsantrag des Kaufmanns Moses Katz in Kestrich, 24. Juni 1912; StAD G
11 Nr. 41/1, fol. 140. |
Gewisse Formen der
Diskriminierung wurden in den zwanziger Jahren eher unterschwellig
praktiziert. Dazu gehörte z. B. die Behandlung von Anträgen auf
Namensänderung. Hier setzte sich nach 1918 nahezu bruchlos eine Praxis fort,
die schon im 19. Jahrhundert begonnen hatte. Seit 1808 bestand eine
Vorschrift zur Annahme fester Familiennamen für Juden, wobei diese neuen
Namen vielfach der deutschen Sprachform angeglichen wurden (s. den Beitrag
von E. G. Franz). Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden dann von den Juden
gezielt statt traditionell jüdischer Namen besonders "deutsch"
klingende wie "Siegfried" oder "Hermann" gewählt [70], um
die Assimilation an die umgebende Gesellschaft zu dokumentieren. Dabei paßte man alte Familiengebräuche,
wie z.B. den, die Kinder nach den Namen
der verstorbenen Großeltern zu benennen, den neuen Zeiten an: Die alten biblischen oder sonstige in alter Zeit üblichen
Namen werden in ähnliche klingende, in der Neuzeit allgemein übliche Rufnamen
umgewandelt, sodaß bisweilen nur noch ein schwacher
Anklang an den Namen des verstorbenen Ahnen wahrzunehmen ist, also etwa eine
Übereinstimmung im ersten Konsonanten besteht.[71]
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[72] Zit. Bering, Stigma, S. 150f. [73] Vgl. Bering,
Kampf um Namen. [74] Bering,
Stigma, S. 361 [75] Nipperdey, Geschichte, S. 401. |
Die im Staatsarchiv
Darmstadt erhaltenen Aktenvorgänge zu solchen Anträgen bilden auf indirekte
Weise einmal die oben geschilderte Entwicklung der antisemitischen Bewegung
zwischen den neunziger Jahren und dem 1. Weltkrieg ab, andererseits
vermitteln sie etwas von der Wirkung des Antisemitismus als kulturellem Code (Volkov) im ersten
Viertel des 20. Jahrhunderts. Das ist jene Mentalität, jenes Gewebe von
Vorurteilen, Vorbehalten, Herabsetzung gegenüber Juden, das zum geistigen
Allgemeingut der Zeit gehörte, ohne daß sie sich
immer in gemeiner Polemik oder offener Beschimpfung manifestierte. Nur auf
diesem Hintergrund konnten z.B. jüdische Witze, die jedermann (Jude und
Nichtjude) kannte, auch verstanden und belacht werden. Das ging soweit, daß im entsprechend antisemitisch aufgeladenen Kontext es
genügte, überhaupt jüdische Namen zu nennen, um Lachen zu erzeugen, wie es
etwa in einer Debatte des Preußischen Landtags am 14. Februar 1900 geschah: Meine Herren, Levy und Schmuhl sind
wunderbar schöne Namen, sagte der Abgeordnete Werner und das Protokoll
verzeichnet Große Heiterkeit. Das
Lachen war rassistisch: die im deutschen Kontext dieser Zeit erkennbar
jüdischen Namen waren ihrer
individualisierenden Kraft beraubt und [...] zum Garanten von jenen Eigenschaften
[geworden], die rassisch fundierter
Antisemitismus den Juden zudiktierte. Der Sprachwissenschaftler Dietz
Bering, der diese Vorgänge analysiert hat, kommentiert die zitierte Debatte:
Und wenn schon die parlamentarischen
"Eliten" so reagierten, wessen konnte man dann wohl gewärtig sein
für die Stammtischrunden auf dem platten Land?[72] Allein mit dauernden
Varianten der Zuschreibung des Namens "Isidor" führte Joseph
Goebbels Ende der zwanziger Jahre eine demagogische Dauerkampagne gegen den
jüdischen Vize-Polizeipräsidenten von Berlin, Bernhard Weiß.[73] Er
unterminierte so dessen Autorität, ausgehend von dem nahezu allgemein
akzeptierten Vorurteil, daß Juden militärisch unfähig
und weder zum Soldaten noch zum militärischen (oder polizeilichen)
Vorgesetzten geeignet seien. Wenn im preußischen Heer formuliert wurde, daß kein
Vorgesetzter einen von Offizieren und Mannschaften nicht allgemein geachteten
Namen tragen dürfe, so waren natürlich jüdische Namen gemeint.[74] Im
Deutschen Reich konnten (in Friedenszeiten) Juden weder Offiziere werden
noch die gesellschaftlich so wichtige Position eines Reserveoffiziers
erlangen (von einigen Ausnahmen in Bayern abgesehen).[75] |
|
[76] Antrag vom
24. 9. 1897, abgelehnt 10. 11. 1897; StAD G 11 Nr.
41/3. [77] Antrag vom
14. 4. 1902, Ablehnung am 8. 8. 1902; StAD G 11 Nr.
41/3 |
Die
hessen-darmstädtischen Namensänderungsanträge waren an das Justizministerium
zu richten und wurden bis 1918 immer auch dem Großherzog persönlich
vorgelegt, der den (in der Mehrzahl) ablehnenden Empfehlungen seiner
Ministerialbeamten folgte (während Amts- und Landgerichte als vorherige
Instanzen dagegen oft die Anträge befürworteten). Die Anträge häuften sich
in den neunziger Jahren, also zeitgleich zum Anwachsen der antisemitischen
Bewegung. So begründete 1897 Dr. phil. Alfons Kohn, Assistent an der
Technischen Hochschule zu Darmstadt, seinen Antrag auf Änderung des
Nachnamens in "Körner" mit der jetzigen
Zeitstimmung, aber sie liege auch im
Interesse meiner Carriere und dies bedürfe wohl keiner Erläuterung.[76] Diese Zeitstimmung geht auch aus einem anderen Antrag hervor, in dem
der Darmstädter Hoflieferant und
Hauptkollekteur der Gr. Hess. Landeslotterie,
Friedrich Paul David seinen Wunsch auf Namensänderung aus der Tatsache ableitet, daß er trotz seines biblischen Namens nicht jüdisch sei.
Er betonte, daß er zwar nicht antisemitischer Gesinnung sei, daß aber
er und seine Familie gesellschaftlich
und geschäftlich von Christen, geschäftlich aber immer von Juden gemieden
werde. Er habe nicht nur wirtschaftlichen Schaden erlitten, sondern erhalte
auch laufend Schmähschriften. Die
Ablehnung des Antrags erfolgte hier ganz unter der Fiktion vollzogener
Gleichberechtigung: die jüdische Seite
müßte eine Namensänderung so auffassen, als würde
die Regierung der Auffassung sein, christliche Staatsbürger müßten davor geschützt werden, für Juden gehalten zu
werden.[77] |
|
[78] Antrag vom
20. 2. 1908, abgelehnt 25. 5. 1908; StAD G 11 Nr.
41/2. [79] Antrag vom
17. 6. 1911, Ablehnung 31. 8. 1911; StAD G 11 Nr.
41/2. [80] Antrag vom
23. 4. 1919, Ablehnung vom 16. 5. 1919; StAD G 11
Nr. 41/2. [81] Antrag vom
12. 1. 1926, Ablehnung 5. 3. 1926; StAD G 11 Nr.
41/1. [82] Gesuch vom
12. 2. 1924, Ablehnung vom 18. 6. 1924; StAD G 11
Nr. 41/1. |
Götz Zimmermann
begründete 1908 sein Gesuch um Änderung des Namens seines Sohnes
"Aron" in "Albert" damit, daß
dieser bei demnächstiger
Erfüllung seiner Militärdienstpflicht befürchte, sich mit dem Namen
"Aron" lächerlich zu machen.[78] Moses Speyer besorgte 1911, daß sein Vorname sein berufliches Fortkommen erschweren könne und vielfach zu spöttischen und beleidigenden Bemerkungen herausfordere.[79]
Die Antragsbegründungen waren auch in Zeiten der Republik noch ähnlich, doch
wurden nun die Ablehnungen (gelegentlich) geradezu hämisch. Auf das 1919
gestellte (von der Kanzlei des Rechtsanwalts Heinrich Fulda vertretene)
Gesuch des cand. med. Moses Chaim Lippmann, den Vornamen Manfred annehmen zu dürfen: Der Name Moses kommt in jüdischen Kreisen bekanntlich sehr häufig
vor, er ist weder auffallend noch anstößig. Dass er gelegentlich wegen
dieses Namens gehänselt wird, mag richtig sein, das Gleiche kann ihm aber
auch bei einem anderen jüdischen Vornamen [! -TL] passieren. [...] Einen berechtigten Grund zur Namensänderung
können wir nicht anerkennen, zumal wir befürchten, dass zahlreiche weitere
Gesuche die Folge der Genehmigung sein könnten.[80]
Die
allgemeine antisemitische Stimmung spiegelte sich auch in dem knapp
begründeten und ebenso knapp abgelehnten Antrag des Kaufmanns Isaak Goldstein
aus dem Jahr 1926 wider, aus
politischen und wirtschaftlichen Gründen seinen Namen in Julius
umzuändern: Die möglicher Weise sich
ergebende Erschwerung im Handelsbetrieb ist kein ausreichender Grund.[81]
Fast schon höhnisch wirkt die Formulierung, mit der Isaak Lang 1924 die
Umbenennung in "Otto" untersagt wurde: Wenn Gesuchsteller erklärt, "er besitze berechtigten
kaufmännischen Stolz auf das lange Bestehen seiner Firma und das Ansehen von
dessen Namen", so läßt er doch jeden Stolz auf
den ihm zukommenden jüdischen Vornamen Isaak und die Pietät auf den nahen
Verwandten, zu dessen Erinnerung er nach seiner Angabe den Vornamen Isaak
erhielt vermissen.[82] Der Beamte läßt denn
auch gleich eine ganze Liste mit Namen israelitischer
Geschäftsleute folgen, die sich ohne behördliche Genehmigung ihnen nicht zustehende Vornamen
beigelegt haben (Artur statt Abraham, Jean statt Chaim usw.). |
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[83] Bering,
Kampf um Namen, S. 161. [84] StAD G 11 Nr. 41/3. [85] Landwirth
und Bienenzüchter, 1. Mai 1891. [86] Hessische
Reform, 1. April 1900. |
Der rassistische Charakter
der antisemitischen Argumentation ging auch aus einem Erlaß
des preußischen Innenministers aus dem Jahr 1900 hervor. Darin werden Personen jüdischen Glaubens oder jüdischer
Herkunft nicht mehr unterschieden und
damit eine rassistische Argumentation eingeführt (die es übrigens vierunddreißig Jahre später den Behörden
leicht machte, Bürger als Voll-, Halb- und Vierteljuden auszusortieren).[83]
In ähnliche Richtung zielte ein Beschluß des
großherzoglich hessischen Justizministeriums vom 19. 7. 1917 (der sich an
ähnliche preußische und badische Verfügungen anlehnte), daß Gesuchen von Israeliten um Namensänderung, die im angeblichen
Interesse eines besseren Fortkommens begehrt wird, in der Regel nicht
willfahrt wird. Hierbei kann auch dem Umstand, daß
der Gesuchsteller zum Christentum übergetreten ist, keine Bedeutung beigemessen werden.[84] Damit
hatten auch Regierungsstellen jene ethnisierende
Verschwörungstheorie übernommen, die die Juden für eine fremde orientalische Nation erklärte [85], und in ihnen
Angehörige eines internationalen
Judenstaats sahen, einen geheimen
Feind, der mit geheimen
Sondergesetzen sich als außerhalb
unserer Gesetzgebung stehend betrachte, eine Bedrohung des Staates und seiner Bürger darstellte.[86] |
|
[87] Jochmann, Gesellschaftskrise, S. 172, 183. [88] Jochmann,
Gesellschaftskrise, S. 162. [89]
Abwehrblätter, 20. 10. 1925. |
Wenn die offiziellen
Institutionen der Weimarer Republik sich eindeutig gegen den Antisemitismus
engagierten, dann war dies auch ein Stück republikanischer
Selbstverteidigung, denn in der politischen Tendenz war der Antisemitismus
zugleich auch immer antirepublikanisch. Nur wenige der politischen Parteien
standen bedingungslos zur demokratischen Staatsform: die linken bemängelten
die fehlende soziale Revolution, die rechten waren von Anfang an
grundsätzlich antidemokratisch. Juden galten als Vorkämpfer und Wegbereiter der ungeliebten Demokratie [87],
wurden mit ihr identifiziert, was sie durch ihr Engagement für die Deutsche
Demokratische Partei wie die verschiedenen Schutzformationen der Republik
auch bestätigten. Sozialdemokraten argumentierten zwar gegen den
Antisemitismus (wie schon 1920 Carlo Mierendorff,
der spätere Mitarbeiter des hessischen Innenministers Wilhelm Leuschner, in
seiner Schrift "Arisches Kaisertum oder Judenrepublik"), doch
politische Aktivitäten, gar der Einsatz staatlicher Machtmittel gegen
antisemitische Agitation unterblieben.[88] Als im Herbst 1925 der hessische
Staatspräsident Carl Ulrich in einer Ansprache vor dem 1919 gegründeten
"Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" die antisemitische
deutsch-völkische Bewegung eine Schande
des deutschen Volkes nannte, löste dies öffentliche Empörung und eine
parlamentarische Anfrage im hessischen Landtag aus.[89] |
|
[90]
Mitteilungsblatt des Landesverbandes der israelitischen Religionsgemeinden
Hessens, Oktober 1927, S. 7/8. |
Die jüdischen
Organisationen warnten bis zum Ende der Weimarer Republik vor einer Dramatisierung,
obwohl die widersprüchliche Situation, in der die Juden leben mußten, ihnen wohl bewußt war.
1927 hieß es im "Mitteilungsblatt des Landesverbandes der israelitischen
Religionsgemeinden Hessens": In
einer hessischen Gemeinde begegnete es mir kürzlich, daß
ich auf meine Erkundigung zu gleicher Zeit die Antworten erhielt: "Wir
merken hier überhaupt nichts vom Antisemitismus" und
"Antisemitismus war hier immer und wird immer hier sein". Das offizielle Organ der hessischen
jüdischen Gemeinden folgerte daraus, man solle den Antisemitismus nicht mit seinen oberflächlichen Erscheinungen
gleichsetzen. Man müsse sich ebenso
fernhalten von einem Nichtsehenwollen wie von
einer Überempfindlichkeit, die aus Bagatellen Staatsaktionen macht. Das
einzige Heilmittel sei Aufklärungsarbeit.[90] |
|
[91]
Mitteilungsblatt, Juli 1930. [92] Mitteilungsblatt, August 1930, S.1-3. [93]
Mitteilungsblatt, Juni 1931, S. 5. |
Mainz. Eine 600 Mann starke Abordnung des
"Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten" erinnerte mit einem Hoch auf das deutsche Vaterland und
dem Absingen des Deutschlandliedes sowie anschließendem strammem Marsch durch die Stadt Mainz
an den jüdischen Beitrag zum Krieg. Wir
hoffen und geben dem Wunsche Ausdruck, daß diese
Einigkeit der festlichen Stunden [...] insbesondere der jüdischen
Bevölkerung die niederdrückenden Auswüchse unberechtigter, verhetzender
und zersplitternder Agitation, wie sie bedauerlicherweise an vielen Orten
unseres deutschen Vaterlandes in den letzten Jahren sich bemerkbar machte,
hier in dem besetzten Gebiet erspart
bleiben mögen [91], lautete die vom Landesverband der israelitischen
Gemeinden formulierte Hoffnung. Schon ein Jahr später aber wurde, veranlaßt sowohl durch die steigende Arbeitslosigkeit wie
die zunehmende antisemitische
Verhetzung für die "Israelitische Gartenbauschule
zu Ahlem" bei Hannover geworben. Dort sollten
durch produktive Berufsumschichtung
zu Hand- und Fabrikarbeitern Zugleich stellten die deutschen Juden ihren
Patriotismus demonstrativ heraus. Über den Abzug der französischen Besatzung
aus Rheinhessen 1930 wurde im "Mitteilungsblatt" ausführlich
berichtet unter der Überschrift: Zur
Befreiung unserer Heimat von fremder Besatzung.[92] Zahlreiche hessische
jüdische Gemeinden innerhalb und außerhalb des Besatzungsgebietes schickten
Abordnungen zu den Feiern nach, zu Handwerk und Landwirtschaft Juden
Arbeitsplätze finden können wie auch dem
Antisemitismus eine seiner Hauptwaffen - nämlich das Argument, daß die Juden zu körperlicher Arbeit
untauglich seien - entzogen werden.[93] |
|
[94]
Hessenhammer 20. 6. 1929; 24. 4. 1930; 27. 6. 1929. [95]
Hessenhammer 24. 10. 1929; 11. 12. 1931; 17. 4. 1930; 5. 2. u. 5. 6. 1931. |
Auf diesen Klischees
baute das seit 1929 zuerst in Worms, dann
in Darmstadt erscheinende nationalsozialistische Hetzblatt
"Hessenhammer" seine Agitation auf, die aber insgesamt in drei
Richtungen zielte: die eigenen Leute als Opfer darstellen, sozialen Neid schüren und Schuldige anbieten, nämlich Sozialdemokraten,
Marxisten und selbstverständlich Juden. Mit immer wieder neuen
"Enthüllungsberichten" etwa über die bevorzugte Einstellung von
Sozialdemokraten sollte den Lesern klargemacht werden, daß
die Regierung in Darmstadt auf Bonzenthrönchen
sitze, während weite Teile der Bevölkerung benachteiligt und ausgegrenzt
seien: Frontsoldaten: Was geht euch
diese Republik noch an, in der ihr doch nur überflüssig seid? Sozialneid und Rassismus ließen sich
besonders einschlägig kombinieren. So wurde die Einstellung einer Kriminalkommissarin so kommentiert: Jüdinnen machen Karriere, während
christliche Familienväter stempeln gehen. Noch wüster heißt es zur
Anstellung eines offenbar farbigen Verkäufers in einem Darmstädter
Schuhgeschäft: Der Nigger wird
eingestellt, während deutsche Volksgenossen hungern.[94] Der
Kampf gegen die soziale Not wurde
politisch umgemünzt als Kampf einer unterdrückten Minderheit gegen den Terror
der Marxisten in Eberstadt, den
roten Terror in Seeheim oder überhaupt die rote Diktatur in Hessen. Zumindest in den Anfangsjahren waren die
Nationalsozialisten in manchen Arbeitergemeinden zahlenmäßig unterlegen, was
dazu einlud, die Opferrolle herauszustellen: Schamloser Überfall in Ober-Ramstadt (einem SA-Mann wurde
Uniform, Spielmannspfeife und Brotbeutel von Reichsbannerleuten entwendet),
oder: Rote Meute fiel in Eschollbrücken über 23 SA-Leute her.[95] |
|
[96]
Hessenhammer 3. 10. 1929; 30. 6. u. 8. 5. 1930. [97]
Hessenhammer 16. 5. u. 20. 6. 1929; 8. 5. 1930; 26. 3. 1931; 12. 6. 1930; 27.
5. 1932. |
Die antisemitische
Agitation spielte mit Vorurteilen, die bei den Lesern dieses Blattes sicher
vorausgesetzt werden konnten. Man unterstellte Feigheit: Zur Abwehr gegen
arabische Angriffe sollten Jüdische
Frontsoldaten nach Palästina, wozu es hämisch hieß: Der Andrang wird fürchterlich sein. Sachliche Darstellungen etwa
der sozialen Ursachen der eingeschränkten
jüdischen Berufstätigkeit - z.B. daß ihnen
der Handel mit Zunftartikeln oder die Ausübung von Handwerksberufen verboten
war - wurden kommentiert mit jener typischen Häme des instinktiv
Besserwissenden: Da lachste
dich kaputt. Abwehrversuche von Juden konnten nur Jüdische Frechheit sein. Das bezog sich hier auf einen Brief der
Israelitischen Religionsgemeinde Ober-Ramstadt, die dem Wirt des Gasthauses
"Elisenbad" mitteilte, daß sie nicht mehr
sein Lokal betreten würden, da er NS-Versammlungen dort Platz geboten hatte.
Auch könne der Wirt nicht mehr mit Aufträgen für das Installationsgeschäft
rechnen, das er wohl noch nebenbei betrieb, was im "Hessenhammer"
natürlich gleich als jüdische
Boykottdrohung aufgeblasen wurde.[96] In
welche Tiefenschichten seelischer Verunsicherung - sei es Destabilisierung
sozialer Rollen oder Erschütterung moralischer Standards - die antisemitische
Agitation reichte, zeigt sich daran, daß die im
"Hessenhammer" anfänglich noch vorhandenen Berichte über Ritualmorde
abgelöst wurden von solchen über angeblich jüdische Mädchenhändler sowie
über jüdische Seelenverwüstung [...]
zur Zerstörung deutschen Charakters (gemeint war die Einstellung
jüdischer Psychologen als Erziehungsberater, auch in Hessen) oder angeblich unzüchtiges Treiben [...] zweifelhafter
Weiber (gemeint war hier ein Zeltlager der sozialistischen Arbeiterjugend
bei Reinheim).[97] |
|
[98] Mitteilungsblatt,
Dezember 1931; Hessenhammer 30. 10. 1931. [99] Kasseler
Volksblatt 29./30.1931; zit. nach einem Brief von Dirk Walter an das
Hessische Staatsarchiv Darmstadt, 30. 9. 1996. |
Schon 1931 trat der Antisemitismus
in der Gesellschaft immer offener hervor. Das zeigte sich im Volksstaat z. B.
darin, daß ein Angeklagter in Darmstadt den
Amtsgerichtsrat Dr. Marx ablehnte,
weil dieser Jude sei. Diese beim Gericht zunächst erfolgreiche Beschwerde
wurde freilich vom hessischen Justizminister zurückgewiesen.[98] Im August des
gleichen Jahres kam es in Nordhessen nahe der Burg Ludwigstein zu einem
schwerwiegenden Zwischenfall, als Schüler der Deutschen Kolonialschule
Witzenhausen mehrere Mitglieder des jüdischen Wanderbundes
Brith Haolim in ihrem
Nachtquartier überfielen und zusammenschlugen. Vier der Täter wurden wegen
Landfriedensbruch bestraft.[99] |
|
[100] Zu den
Mitgliedschaften s. den Beitrag von Steffens; zu Lehmann: Volz, Reinheim S. 81. – Siehe dazu auch den Beitrag von Steffens in dem Band. [101] Kaufmann,
Landjuden, S. 5 [102] Richarz,
Bd. 3, S. 27. [103]
CV-Zeitung 17. 6.; 1. u. 22. 7. 1927. |
Die Ausprägung des
alltäglichen Antisemitismus bzw. das Maß und die Art der Sozialkontakte
zwischen Juden und Christen auf dem Land, z.B. in den Orten des heutigen
Landkreises Darmstadt-Dieburg, ist schwer zu
rekonstruieren. Juden waren praktisch in allen Gemeinden in Sport- und
sonstigen -vereinen aktiv, und wenn etwa in Reinheim bei der
Handballabteilung des TV 88 der jüdische Mitspieler Arthur Lehmann einen
Patzer machte, hieß er zwar gleich der
Dreckjude, aber er blieb nach wie vor gleichberechtigter Mitspieler.[100]
In manchen Darstellungen ist einerseits
von gutnachbarlichen Beziehungen
die Rede, vom Mitmachen der Juden bei Fastnacht, der Kerb und
Familienfesten [101]; andererseits wird differenziert zwischen den eher
unproblematischen Kontakten in der Oberschicht oder der Intelligenz und
einer stärkeren Abschließung in unteren Schichten.[102] Aufschlußreich
für die innerjüdische Verunsicherung ist eine Diskussion zwischen jüdischen
Leserbriefautoren vor allem aus Hessen, die 1927 in der CV-Zeitung, dem Organ des Central-Vereins deutscher
Staatsbürger jüdischen Glaubens über die Lage der Landjuden geführt wurde. Der Heidelberger Ludwig Basnizki, der seine Jugend im Kraichgau verlebt hatte,
schilderte, daß die Dorfjuden dann hohes Ansehen
genössen, wenn sie sich in die gesellschaftlichen Aktivitäten von der
Kirchweih bis zum Weihnachtsfest einfügten
und auf keinen Fall demonstrativ zur
Moderne - Bubikopf, Lippenstift
und Foxtrott - bekannten. So sei ein wesentliches
Stück Arbeit im stillen gegen den Judenhaß zu
leisten. Dr. Keller aus Egelsbach widersprach heftig: Bubikopf und Jazz seien
bei Christen wie Juden verbreitet, die Dorfjuden aber meist bettelarm, ihr
Gemeindeleben ein Trümmerhaufen, für die Bekämpfung des Antisemitismus nicht
viel zu erwarten. Daran, daß Karl Simon aus Langen dem heftig
widersprach, kann man die sehr unterschiedliche Lage schon in gar nicht weit
entfernten Orten erkennen. Jedenfalls dürfte die soziale Situation der
Landjuden von Dr. Goldschmidt aus Homberg/Kassel
wohl zutreffend geschildert sein, der den enormen Anpassungsdruck plastisch
schilderte, der auf den Landjuden lastete: Wehe, wenn der Jude auf dem Land es sich einfallen ließe, gleich
seinem christlichen Nachbarn Exzesse in Alkohol zu begehen oder in sittlicher
Hinsicht Flecke aufzuweisen oder sein Dienstpersonal schlecht zu behandeln:
er wäre öffentlich gebrandmarkt und wirtschaftlich verloren.[103] |
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[104] Neu,
Otzberg-Bote, 20. 10. 1988. - Interview des Verf. mit Siegbert Lorch, 14. 8.
1995. [105] Kaufmann,
Landjuden, S. 6. [106] In: Lötzsch/Wittenberger, S. 87. [107] Goldmann,
Flucht, S. 18, 20. |
Ausgewanderte Juden
haben ihr Dorf aus den zwanziger
Jahren meist als Ort freundschaftlicher Kontakte im
Gedächtnis. Lisel Neu erinnert sich in den
achtziger Jahren: Unsere Nachbarn und wir
waren sehr freundlich miteinander [...] meistens hat man sich genauso
befreundet mit den Nachbarn und anderen Leuten in Lengfeld, die nicht jüdisch
waren. Für Siegbert Lorch war
es bis 1933 in Dieburg selbstverständlich, daß er
mit den christlichen Kindern
spielte, nur Freitagabend und samstags
haben wir nur mit jüdischen Kindern gespielt.[104] Außerhalb ihrer
anderen Religion und Bräuche fielen Juden vielleicht dadurch auf, daß sie oft die Moderne ins Dorf brachten: das erste
Telefon, das erste Radio oder Auto wurde oft von Juden angeschafft, die auch
für ihre Kinder nach besserer Schulbildung strebten.[105] Es mögen diese
Kleinigkeiten gewesen sein, die der 1921 in Babenhausen
geborene Willi Blümler dahin zusammenfaßte:
Es war eine gewisse Distanz in der
Bevölkerung. Die Juden wurden gehänselt. Man hat sie als eine andere Klasse
Menschen beurteilt, aber es war keine Feindseligkeit.[106] Robert Goldmann
charakterisiert dies Verhältnis als eine unausgesprochene,
aber klar verstandene Trennung zwischen Juden und Nichtjuden. Er
schreibt über die jüdischen Metzger, Kurzwarenhändler oder
Tankstellenbesitzer in Reinheim: Sie
waren in Ordnung, und ihre Dienstleistungen waren gut und wichtig. Man
schätzte sie als ehrliche Geschäftsleute und als gute Bürger, auch wenn man
sie niemals zu sich eingeladen hätte.[107] |
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[108]
Hessenhammer 2. 10. 1930; 2. 4. u. 14. 5. 1931. [109]
Hessenhammer 11. 9. 1931; 26. 2. u. 18. 3. 1932. |
Im
"Hessenhammer" läßt sich die Steigerung der
nationalsozialistischen Agitation verfolgen. Schon im Oktober 1930 wird
triumphierend gemeldet, daß Darmstadt die stärkste
Ortsgruppe der NSDAP in Hessen besäße und daß im
Kreis Darmstadt keine rote Hochburg mehr ohne
Stützpunkt sei. Ortsgruppen bestünden in Ober-Ramstadt, Roßdorf, Nieder-Ramstadt, Traisa, Griesheim,
Weiterstadt, Hahn und Pfungstadt. Ab 1931 häufen sich die Berichte über
Versammlungen, die fast wöchentlich in Südhessen stattfanden. Dabei wurden
offensichtlich die Parteimitglieder und SA-Leute von Ort zu Ort
transportiert, um zu Hunderten Stärke zu demonstrieren, denn der Zweck war
nicht inhaltliche Überzeugungsarbeit, sondern, wie mit 800 Teilnehmern beim
"Deutschen Tag" am 9. u. 10. Mai 1931 in Reinheim, um zu zeigen: wir sind da, Hitlers Idee
marschiert.[108] Erfolge
in höheren Schulen wurden besonders hervorgehoben, so als der Kultusminister
1931 den Gymnasiasten in Darmstadt den Besuch nationalsozialistischer
Versammlungen verbot oder als 1932 bei Gelegenheit eines Schulleiterwechsels
in dem immer wieder als Versammlungsort genannten Groß-Umstadt gemeldet
wird: 8 von 14 Lehrkräften bekennen
sich zur Hitler-Bewegung, wie auch der größte Teil der Schüler.[109] Auf andere Art war der Erfolg der
NS-Bewegung daran ablesbar, daß die Seiten mit den
Geschäftsanzeigen sich zwischen 1929 und 1932 von einer auf vier vermehrten. |
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Der politische
Umschlag in den Gemütern, die Radikalisierung läßt
sich an Wahlergebnissen ablesen: 1924 und 1928 lag die NSDAP bei den
Reichstagswahlen in den Kreisen Darmstadt und Dieburg unter 2%, die
(antisemitische) Bauern- und Landvolkpartei aber hatte über 10% (Darmstadt)
bzw. über 20% (Dieburg) der Stimmen. Bei den Landtagswahlen 1931 gewann die
NSDAP im Kreis Darmstadt 34%, in Dieburg gar 39%, während die Landvolkpartei
bedeutungslos geworden war. Auf vergleichbare Stimmenanteile kam nur die
Sozialdemokratie im Kreis Darmstadt (35%), während im Kreis Dieburg Zentrum
und Kommunisten noch 18% bzw. 12% gewannen. Bei der Reichstagswahl im
November 1932 schließlich lag die NSDAP nur im Wahlkreis Dieburg-Nord unter
40% (exakt: 31,5); in Dieburg-Süd holte sie 52%, in Darmstadt-Land 46%. (S.
auch weitere Belege im Beitrag von Steffens) Daß
die "Mitteilungen des Landesverbandes der Israelitischen Religionsgemeinden Hessens" den leichten Rückgang der
nationalsozialistischen Stimmen im Reich als Beleg dafür sahen, daß die Menschen kritisch geworden seien, daß es unter den Parteien keine antisemitische Mehrheit
gäbe, war eine Selbsttäuschung. Im Volksstaat Hessen regierte zwar noch eine
SPD-geführte Koalition, doch im Landtag stellten die Nationalsozialisten seit
November 1931 die stärkste Fraktion und bauten in der vom hessischen
Staatsgerichtshof angeordneten Wiederholungswahl im Juni 1932 diese Mehrheit noch
aus, als sie 47% der Stimmen erhielten. |
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[110] Goldmann,
Flucht, S. 20. [111] Brief vom
1. 3. 1995, wiedergegeben in Stoklossa, Juden in
Dieburg, S. 88, übers. vom Verf. |
Noch hatte sich in den
kleinen Orten nichts geändert, es war wohl wie in Reinheim: Viele im Dorf sympathisierten mit den Nazis, dabei waren
sie aber nicht aktiv. [...] der Antisemitismus war in dem sozialen Gefüge
der Reinheimer heimisch, machte
aber nicht die wesentliche Anziehungskraft der Nazis aus.[110] Das, was dann die eigentliche
Katastrophe ausmachte, waren Erlebnisse wie die, die Siegbert Lorch als
typisch für die Mehrheit der Deutschen erschienen, selbst wenn einzelne
Deutsche sich zumindest individuell anders verhielten. Das Erlebnis des Vierzehnjährigen
steht für das, was er als Betrug
durch die Deutschen empfand. Siegbert Lorchs bester Freund hatte bald nach
dem 30. Januar 1933 aufgehört, mit ihm auf offener Straße zu sprechen. An
einem frühen, dunklen Wintermorgen des Jahres 1934 trafen sich beide zufällig
am Bahnhof. Karl kam zu mir herüber und
sagte: "Es tut mir so leid, daß ich nicht
länger mit dir sprechen kann." Worauf
ich erwiderte: "Karl, wenn du zu mir nicht bei Tageslicht
sprechen kannst, dann tu es bitte auch nicht bei Dunkelheit.[111] |
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Literaturverzeichnis |
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Wolfgang Geiger: Zwischen
Scham und Vorurteil. Das Thema Israel im Schulunterricht –
und nicht nur da |
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Artikel erschienen
in: BEGEGNUNGEN - Zeitschrift für Kirche und Judentum Nr.2 / 2009 Gleichzeitige
Online-Veröffentlichung im COMPASS Infodienst für
christlich-jüdische und deutsch-israelische Tagesthemen im Web Online
Extra Nr.97 |
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