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Historia interculturalis |
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Thema:
Ostasien und wir |
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Last
update: 28.2.2006 |
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Übersicht |
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« Fenêtre » Takashi Naraha Clermont-Ferrand |
Hier im Anschluss auf dieser Seite: 1. China als Metapher. Versuch
über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert von Thomas Lange |
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>>Segalen
dt. |
2. Vom Reiz des
Unverständlichen. Victor Segalens Ästhetik des
Fremden von Wolfgang Geiger |
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3. Victor Segalen
et l’herméneutique interculturelle von Wolfgang Geiger Beitrag
für eine französische Zeitschrift 1992. |
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Auf der Seite Ostasien02: Alte und neue Chinoiserien 1. Yin und Yang im Klassenzimmer? China-Moden
der 80er Jahre – mit einem kurzen Rückblick auf Brecht von Thomas Lange Redaktionell überarbeiteter Artikel aus Diskussion Deutsch von 1985. Mit einer
aktuellen Einleitung als Brückenschlag über zwanzig Jahre modische
Chinoiserien. |
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Essay 2. Das westliche
Asienbild im Zeitalter der Globalisierung Aktualisierte Beobachtungen und
Notizen von 1997 von Wolfgang Geiger In
der „Gelben Gefahr“ verbinden sich alte mit neuen Stereotypen der Angst.
Aktualisierung einer Presseanalyse von 1997 |
L’image de l’Asie en Occident
à l’époque de la mondialisation |
Synopse zur politischen
Geschichte Vietnams im internationalen Kontext auf Historia universalis |
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© Thomas Lange 1985-2005 Diesen Artikel als >>Word-Datei öffnen oder speichern |
China
als Metapher. Versuch
über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert |
Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift für Kulturaustausch, Heft
3, 1986, S.341-349. |
[1] Grundlegend
dazu: Diethelm Balke: Orient und
orientalische Literaturen. In Paul Merker / Wolfgang Stammler (Hrsg.): Reallexikon der deutschen
Literaturgeschichte, 2. Aufl., 2. Bd. Berlin 1965, S. 840ff.: zu China
S. 858-865. - Horst Hammitzsch: Ostasien und die
deutsche Literatur. In: Wolfgang Stammler (Hrsg.): Deutsche Philologie im Aufriß, 2. Aufl.,
3. Bd., Berlin 1962, Sp. 599-611. - Ingrid Schuster: China und Japan
in der deutschen Literatur 1890-1925. Bern 1977. [2] s. die Angaben
bei Balke und Hammitzsch
(Anm. l).Vgl. Schuster, a. a. 0., S. 58 ff. - Georg Adolf Narciß
(Hrsg.): Im Fernen Osten. Forscher und Entdecker in Tibet, China, Japan
und Korea. 1689-1911. Frankfurt am Main 1985. - Heinrich
Schliemann: Reise durch China und Japan im Jahre 1865. (Franz. 1867) Konstanz 1984 [3] Adrian Hsia: Hermann Hesse und China (1974). Frankfurt am Main 1981. - Younosoon
Kim-Park: Die Beziehungen der Dichtung Hermann Hesses zu Ostasien. Diss., München
1977. - Antony Tatlow and TatWaiWong
(ed.): Brecht and
East Asian Theatre.
- The Proceedings of a Conference on Brecht
in East Asian Theatre, Hong Kong, 16-20 March 1981. Hong Kong / Aberdeen: Hong
Kong University Press 1982. - Günther Debon u. Adrian Hsia (Hrsg.): Goethe und China - China und Goethe. Bern/Frankfurt
am Main / New York 1985. - Günther Debon: Schiller und der chinesische Geist. Frankfurt am ,
Main 1984. - Ulrich von Felbert: China und Japan als Impuls und Exempel. Fernöstliche Ideen und Motive
bei Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Egon Erwin Kisch. (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, hrsg. von
Helmut Kreuzer und Karl Riha, Bd. 9) Frankfurt am
Main / Bern / New York 1986 [10] Georg Wilhelm
Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der
Geschichte. Zit. n.: Adrian Hsia
(Hrsg.): Deutsche Denker über China.
Frankfurt am Main 1985, S. 171. - Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurteile (1881). (3.
Buch, Nr. 206). Zit. n.: ders.: Sämtliche Werke. Kritische
Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli
und Mazzino Montinari,
Bd. 3, München 1980, S. 185. - "Herdentier" findet sich bei
Nietzsche in: Ecce Homo (1888), zit., n. ders.: Der
Antichrist. Ecce Homo. Dionysos-Dithyramben.
München o. J. (Goldmann Klassiker Nr. 7511), S. 188. - Wichtige Hinweise
bei Ernst Rose: China als Symbol der Reaktion in
Deutschland, 1830-1880. (engl. 1951). In: ders.: Blick nach Osten. Studien zum Chinabild in der deutschen Literatur des 19.
Jahrhunderts. Bern / Frankfurt am Main / Las Vegas 1981, S. 90-129 [11] Martin Buber: Die Lehre vom Tao (1910), zit. n.: Hsia: Deutsche Denker, a. a. 0., S. 292, 307 [12] Brief vom 29.
November 1918, zit. bei Schuster, a. a. 0., S. 151 [13] s. dazu
Schuster, a. a. 0., S. 90 ff., S. 147 ff. [14] Vgl. Bauer, a. a. 0., S. 182 f., 186 |
Noch bevor man in Europa genau wußte,
wo China geographisch zu lokalisieren war, beschrieb man schon, wie es dort
zuging: Ganz anders; alles schien geradezu auf den Kopf gestellt. Nicht den wahrheitsgetreuen Berichten des Marco Polo (1298), sondern
den daraus zusammenphantasierten Abenteuer des Ritters Mandeville
(1366) wurde Glauben geschenkt. Wer "China" beschrieb, wollte
seinen Lesern vor allem ein Bild von etwas anderem vor Augen führen, wollte
etwas schildern, das abschrecken oder vorbildlich sein sollte und so weit
entfernt war, daß man es mangels exakterer
Zeugnisse einfach glauben mußte - oder wollte.
China war literarische Metapher für den Kontrast zum Abendland (wie Italien
und Griechenland für die vergessenen Ursprünge, wie es Amerika für die
Zerstörung der reinen Natur war). Chinesische Themen und Motive gibt es in der deutschen Literatur
seit dem 17. Jahrhundert [1], Berichte deutscher China-Reisender (von einigen
Missionaren abgesehen) erst seit dem 19. Jahrhundert. [2] Neben vielen
anderen verwendeten auch Goethe, Schiller, Hesse und Brecht chinesische
Motive [3], doch es ist weniger aufschlußreich, bei
diesen Autoren Übereinstimmungen mit der chinesischen Gedankenwelt zu suchen
[4] als die fruchtbaren Mißverständnisse, die immer
"integrierender Bestandteil des Interesses am Fremden" sind.[5]
Denn in diesen Mißverständnissen wirken kollektive
Denkschemata, zeittypische Bedürfnisse, die unrealisierte Gedanken in
möglichst weiter Feme Gestalt annehmen lassen. In diesem Sinn sind sowohl
Goethes oft zitiertes Diktum über die Chinesen ("daß
bei Ihnen alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht") wie die ihnen
von Karl May (im "Blauroten Methusalem", 1892) zugeschriebene
"Feigheit" und "Grausamkeit" [6] sicher beides einseitige
"Mißverständnisse", die aber beide durch
die zu ihrer Zeit jeweils herrschende Überzeugung ebenso legitimiert wie auch
zugleich relativiert werden. Die Geschichte des Chinabildes bis zum 20. Jahrhundert ist von
extremen Schwankungen gekennzeichnet: Nach den fabulös-grotesken Zerrbildern
der "merkwürdigen und wunderbaren Tartarei"
, die vom späten Mittelalter bis zum Barock bestimmend waren, setzte sich
durch die Jesuitenberichte im 17. und 18. Jahrhundert das von Leibniz bis
Voltaire gepriesene Idealbild eines vernünftigen, sittlichen, gerechten und
geordneten Staatswesens durch: eine im Fernen Osten verwirklichte Aufklärung.
Im 19. Jahrhundert, zur Zeit der kolonialistischen Übergriffe und des
europäischen Fortschrittglaubens, galt China als hoffnungslos rückständig,
als "balsamierte Mumie" (Herder), und damit als realisierte Satire
des überlebten europäischen Absolutismus.[7] Das Bild vom lächerlich steifen,
bezopften Chinesen gewann erst gegen Ende des Jahrhunderts eine neue
Dimension, als (etwa seit 1895) von der "gelben Gefahr" gesprochen
wurde. Darunter stellte man sich - von Kaiser Wilhelm II. bis zum
Sozialdemokraten Franz Mehring - nach den
überraschenden militärischen Vorfällen des chinesisch-japanischen Krieges
(1894/95), des Boxeraufstandes (1900) und des russisch-japanischen Krieges
(1905/06) ein Überrollen des Westens durch japanische Industrie und
chinesische Kulimassen vor. [8] Neben dem drolligen Zopf träger etablierte sich das Klischee vom
"hinterhältigen Schlitzauge". [9] Doch insgesamt stellte man sich
Chinesen - auch das war Teil des Bildes - weniger als Individuen denn als
Kollektiv, als Masse vor: War schon für Hegel China das "Reich der
absoluten Gleichheit" mit dem Despotismus als notwendig
korrespondierender Regierungsweise, so wird daraus bei Nietzsche - wohl als
erstem - das durchaus verächtlich gemeinte Wort von den Chinesen als
"arbeitsame(n) Ameisen", eine naheliegende Assoziation zu seinem
Begriff vom "Herdentier" für die um ihre Herreninstinkte kastrierte
Masse "armselige Chineserei" .[10] Erst
zu Anfang des 20. Jahrhunderts, als der abendländische Individualitätsgedanke
mit dem Aufkommen der industriellen Massengesellschaft in eine Krise geriet,
wurde der Vorstellung vom gesichtslosen Kollektiv das Bedrohliche genommen.
Der einzelne, der sich verloren fühlte, suchte Rettung in einem Ganzen, im
Rückgang zum Primitiven, Ungeschiedenen, wie Entwicklung der Kunst und
literarische Thematisierung des Exotischen auch in anderen Bereichen belegen.
Martin Buber deutete 1910 die Lehre vom Tao als
"Wirklichkeit des wahrhaften Lebens", wo Subjekt und Objekt
ungeschieden sind, "als das Einigende, das alle Abirrung vom
Lebensgrunde überwindet, als das Ganzachende, das
alle Zersonderung und Brüchigkeit heilt".[11] Die ganz unmittelbare Tröstungserfahrung, die ein Europäer dieser Zeit in der taoistischen Gedankenwelt finden konnte, formulierte der
Lyriker Klabund, der selbst eine der gut zwei Dutzend deutschen Übersetzungen
des "Daodejing" (Tao te-king)
in diesem Jahrhundert lieferte, in einem Privatbrief: "Wäre ich nicht
ein Jünger des Tao ... wüßte ich nicht, daß die Einzelseele so gut unsterblich wie die
Gesamtseele (das Urtao), so hätte ich mir längst
eine Kugel in den Kopf gejagt."[12] Während in den zahlreichen Übersetzungen, Nachdichtungen und sinisierenden Nachempfindungen der deutschen Lyrik seit
der Jahrhundertwende romantische Stimmungen oder philosophischer Gehalt
überwogen [13], wirkten in den deutschen Romanen zwei Strömungen weiter, die
ansatzweise auch schon Goethe beeinflußt hatten:
einmal die konfuzianisch-vernünftige Sicht, zum anderen die taoistisch-pantheistische, natürlich-sinnliche
Sichtweise.[14] Aus dem 19. Jahrhundert überkam China als leicht
durchschaubare Metapher für politische Reaktion, für die Künstlichkeit
überlebter Sitten und Zeremonien und lebensferner Regierungen; dafür gibt es
literarische Belege von Heinrich Heine bis Theodor Fontane.[15] Mit den
krisenhaften Erschütterungen im Umfeld des Ersten Weltkrieges begann dann
eine Umwertung, nämlich die hoffnungsvolle Suche nach chinesischer"
Weisheit" . Dieser Übergang findet sich bei zwei Romanen [16], die zu
Anfang des Jahrunderts zugleich das Chinabild um
eine neue Komponente bereicherten: Alexander Ulars
"Die gelbe Flut" (1908) und Alfred Döblins "Die drei Sprünge
des Wanglun" (1915) rücken die chinesischen Menschenrnassen in den Rang von Romangestalten. Sie sind bei Ular schon im ersten Satz präsent: "Gleichwie
glitzernde Ameisen an ihrer Arbeitsstelle und dennoch. in vollkommener
Ordnung".[17] Döblin entwirft in sprachlich-virtuosen,
in der deutschen Literatur neuartigen Szenen das Bild einer Masse, die aus
Tausenden zu einer neuen Gestalt, einem "Riesen" oder
"tausendarmigen Buddha" zusammenschmilzt. [18] Die Beziehung der
beiden Autoren zum Thema "China" kann nicht gegensätzlicher sein:
Alexander Ular, aus Deutschland gebürtiger
naturalisierter Franzose, umtriebiger und einflußreicher
Journalist und politischer Publizist, China-Kenner und Daodejing
(Tao-te-king)-Übersetzer auf der einen Seite; auf
der anderen der Berliner Kassenarzt Alfred Döblin, der seine Kenntnisse (die
selbst kundige Rezensenten verblüfften) nur aus Bibliotheken schöpfte und der
durch die Laozi (Lao-tse)-Übersetzungen
des Sinologen Richard Wilhelm zur Beschäftigung mit China angeregt wurde.[19]
Will Ular politisch wirken, sein Konzept der im
"Panmongolismus" drohenden, gelben japanischen Gefahr und des
dagegen notwendigen Zusammengehens der Europäer mit den Chinesen wirkungsvoll
vertreten, so wendet sich Döblin in einer persönlichen Krisensituation, unter
ausdrücklicher Ablehnung der gängigen China-Mode, dem Taoismus zu. Er will
einen Roman gegen den Fortschrittsglauben (wie ihn der Futurist Filippo T. Marinetti in seinem "afrikanischen Roman"
"Mafarka" [1910] verherrlicht hatte)
schreiben, nicht einen "neuen Menschen", sondern den alten zeigen,
dem alles Handeln mißlingen muß,
auch wenn er sich wie die Sekte der "Wahrhaft Schwachen" des Wang-lun das Nicht-Handeln zum Prinzip macht:
"Stille sein, nicht widerstreben, kann ich es denn?" schließt
Döblins Roman. Auch bei Ular scheitert der Held,
ein französischer Ingenieur (allerdings am Gegensatz von westlicher Aktivität
und östlicher Passivität): Sein Plan, technischen Fortschritt zu bringen,
zerbricht am Widerstand der Chinesen, die sich gegen den Herrschaftsanspruch
der Europäer auflehnen. Ihre "freie genossenschaftliche Arbeit",
"die helfende Kraft des Gemeinschaftsgefühls" [20] würde durch den
Kapitalismus, das Profitstreben des einzelnen zerstört. |
Zur Einordnung des Textes in den
interkulturellen Aufbruch der Geisteswissenschaften, siehe dazu die
Bilanz der Forschung zum Thema
„Interkulturelle Begegnung / Interkulturelle Hermeneutik“ [4] Debon,
Schiller, a. a. 0., S. 27 ff. - Meredith Lee: Goethes
Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten. In: Debon
u. Hsia; Goethe
und China, a. a. 0., S. 37-50, hier: S. 49 [5] Wolfgang Bauer: Goethe und China: Verständnisse und Mißverständnisse. In: Hans Reiss (Hrsg.): Goethe
und die Tradition. Frankfurt am Main 1972, S. 177-197, hier: S.177. [6] Goethe zu Eckermann am 31. Januar
1827 (dem Jahr der "Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten"),
zit. n. Bauer, a. a. 0., S. 182. - Karl May zit. n. Schuster, a. a. 0., S. 57 [7] Wolfgang Franke: Chinabild. In: ders.
u. Brunhild Staiger (Hrsg.): China-Handbuch, Düsseldorf 1974, Sp. 203-209 [8] Heinz Gollwitzer:
Die gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagwortes.
Göttingen
1962, S. 26, 44, 171 [9] Schuster, a. a. 0., S. 56 ff. |
[15] Ausführlich
bei Rose, a. a. O. - Vgl. Peter Utz: Effi Brliest, der Chinese und der
Imperialismus: Eine "Geschichte" im geschichtlichen Kontext. In: Zs. f. dt. Phil, Bd. 103, H. 2,
1984, S. 212-225 [16] Ich beschränke mich auf eine
repräsentative Auswahl. Übersichten über die Fülle der Romane mit chinesischen
Themen bei Balke und Schuster, a. a. 0., S. 88 f. –
Anregungen bei Heribert Seifert: "Aber Shanghai ist ein böser
Boden". Literarische Bilder aus der Geschichte einer großen Stadt. In: Neue Zürcher Zeitung, 6. 4.1984,
Nr. 81, Fernausgabe. [17] Alexander Ular:
Die
gelbe Flut. Berlin 1908, S. 1 [18] vgl. die Analyse bei Klaus Müller-Salget: Alfred Döblin, Werk und Wirkung, Bonn 1972, S. 156 [19] zu Ular s.
Gollwitzer, a. a. 0., S. 155 ff. - zu Döblin s.
Ingrid Schuster: Die drei Sprünge des Wang-lun. In: dies.
(Hrsg.): Zu Alfred Döblin. Stuttgart
1980, S. 82-97 [20] Ular, a,
a. 0., S. 297 f. |
||
[21] Der deutsche Reisende
Alfons Paquet berichtet darüber: Li oder im neuen
Osten. Frankfurt am Main 1912 [22] Ular, a. a. 0., S. 303, 384, 417 [23] Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun. München (dtv 1641), 1980, S. 471 |
Beide Autoren greifen
tatsächliche Ereignisse auf: Döblin einen Aufstand des Jahres 1774, Ular die durch Europäer begonnene Industrialisierung
Chinas.[21] Auch wenn bei Döblin gänzlich
chinesisches Milieu vorherrscht, bei Ular dagegen
der Zusammenprall von europäischer und chinesischer Kultur thematisiert wird:
Beider China ist Metapher für ein Problem, das die europäischen
Intellektuellen jener Jahre bewegte. Mag es bei Ular
mehr die konfuzianisch-rationale Tradition, bei Döblin die neuere, taoistisch-mystische sein: Wenn bei Ular
der einzelne Chinese im "sozialen Instinkt", das "Müssen
seiner Rasse ohne Rest in ihm" aufgeht, am Schluß
die siegreichen "glitzernde(n) Ameisen in höchster Zweckmäßigkeit
gesellschaftliche Arbeit tun "[22], bei Döblin dagegen Wang-lun vor der endgültigen Niederlage sagt:
"Schwach sein, ertragen, sich fügen hieße der reine Weg. In die Schläge
des Schicksals sich finden hieße der reine Weg"[23], so ist das bei
beiden ein Bild für die Ohnmacht des Individuums. Es ist verborgene Sehnsucht
nach einer verlorenen kollektiven Harmonie, wenn bei Döblin die Wahrhaft
Schwachen das Westliche Paradies - allerdings nur im Tod - erreichen, bei Ular die Europäer von dem eigengesetzlich in sich
ruhenden sozialen Organismus der Chinesen ausgeschlossen werden. |
|
[24] vgl. Hsia; Hesse, a. a. 0., S. 97; Schuster; Döblin, a. a. 0., S.
85 [25] Richard Wilhelm: Die Seele Chinas. Berlin 1926, S. 68 f., 91, 266, 347 |
Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Suche nach
jenem scheinbar unzerstörbaren geistigen China epidemische Formen an. Die
Abwendung von Kriegs- und Nachkriegselend und von politischer Zerrissenheit,
die Trauer über den Zusammenbruch der Bildungstradition der deutschen Klassik
ist mancher China-Publikation schon in den Titel geschrieben: "Mensch,
werde wesentlich!" verdeutscht Klabund das Daodejing
(Tao te-king) (1921). An Hermann Hesses
Erfolgsroman "Siddharta" (1922) ist nur als Symptom für die
Sehnsucht ins Fernöstliche zu erinnern. Weithin wurde mystische
Selbstversenkung und Meditation nach östlichem Vorbild durch den Bestseller
des Grafen Keyserling "Reisetagebuch eines Philosophen"
popularisiert. Er erschien im gleichen Jahr (1919) wie Oswald Spenglers
"Untergang des Abendlandes" und schien gegen dessen Pessimismus
einen festen Halt in den zweitausendjährigen Lehren des Fernen Ostens zu
bieten. Keyserlings Bekanntschaft mit den östlichen Philosophen ging auf
persönliche Gespräche mit dem Übersetzer Richard Wilhelm zurück, der eine
Schlüsselfigur der deutschen China-Rezeption der zwanziger Jahre war. Seine
Übertragungen machten die philosophischen Klassiker "Yijing"
(I Ging) und "Daodejing" (Tao te-king) bekannt (die auch Hermann Hesse und Alfred
Döblin lasen). [24] Aber Richard Wilhelm wollte mehr als Übersetzer sein. Wie
der Titel seines Erinnerungsbuches an fünfundzwanzig Jahre China-Aufenthalt
sagt, wollte er "Die Seele Chinas" (1926) dem deutschen Publikum
nahebringen. Denn die "chinesische Lebensweisheit (böte) Heilmittel und
Rettung für das moderne Europa". Wilhelm lag daran, die China-Klischees
des 19. Jahrhunderts - Erstarrung und Monotonie - abzulösen, was sicherlich
gerecht gegenüber der beginnenden Wandlung "Jung-Chinas"
(wie er sich ausdrückte) war. Seine Nachrichten von der chinesischen Ruhe des
Seins, von den Gedanken der Harmonie von Gesellschaft und Individuum, von der
ausgeglichenen Erdbewußtheit, wie sie in der
chinesischen Architektur sich spiegele, trafen auf die gierige
Aufnahmebereitschaft eines Publikums, das mehr an Sinnangeboten als an
philologischen Untersuchungen interessiert war. [25] |
|
[26] Carl Gustav Jung in: Chinesisch-deutscher
Almanach. Frankfurt am Main 1931, S. 7-14, hier:
S. 13. - Erwin Rousselle: Die Mythen der
Meditation in China. In: Chinesisch-deutscher
Almanach. Frankfurt am Main 1932, S. 20-46. - Ders.:
Die
Achse des Lebens. In: ebd., Jg. 1933, S. 25-43 [27] Norbert
Jacques, Der Kaufherr von Shanghai. 1935, S. 142, 289 |
In dem von Richard Wilhelm in Frankfurt am
Main gegründeten China-Institut wurde ein „Chinesisch- deutscher
Almanach" herausgegeben (1927-35), der mit zahlreichen
Übersetzungsproben und Informationen über chinesische Kultur sicher dazu
beitrug, die Ergebnisse der deutschen Sinologie einer breiteren Öffentlichkeit
bekanntzumachen. Mitgeliefert wurde ein erwartungsgerechtes Chinabild, etwa
von Carl Gustav Jung in seiner Gedenkrede auf den 1930 verstorbenen Richard
Wilhelm (1931). Dessen plötzlichen Tod deutete Jung aus einem krisenhaften
Wiederaufleben des von Wilhelm einst in sich verdrängten europäischen
Menschen. Jung hielt der westlichen Desorientierung und Disharmonie Ideen,
die nicht nur "zum Kopf , sondern auch
"zum Herzen sprechen", entgegen, nämlich die "pflanzenhafte Naivität des chinesischen Geistes".
Ausführliche Berichte von Erwin Rousselle, dem
Nachfolger Wilhelms als Institutsleiter, über chinesische
Meditationstechniken halfen zur Verbreitung dieses antirationalistischen
Idealbildes. Es ist vielleicht kein Zufall, zumindest aber ein Symptom, daß sie gerade in den Krisenjahren 1932/33 erschienen,
als man in Deutschland von der Rationalität nichts mehr zu erhoffen schien.
[26] Natürlich gab es gleichzeitig noch ein
Weiterwirken abgeschliffener Chinabilder, besonders in populären
Unterhaltungsromanen. Als Beispiel wäre Norbert Jacques' "Der Kaufherr
von Shanghai" (1925) zu nennen, wo das "Asiatische" zum
plumpen "Zauber", zur Kenntnis geheimnisvoller Naturkräfte bei
fremden Rassen verplattet wird, und dessen Schluß lautet: "Es war alles ein böser Zauber in diesem
Land. Komm, wir fliehen. [27] Die eigentlich "Bösen" sind hier
übrigens die Japaner, denen in diesen Jahren nur selten literarische
Gerechtigkeit widerfuhr, wie etwa in Heinrich Eduard Jacobs hübschem Roman
"Jacqueline und die Japaner" (1928), in dem der Gegensatz zwischen
den Kulturen zum reizvollen ästhetischen und psychologischen Spiel wird. Als
eine reine Allegorie europäischer Probleme erscheint China in Walter Meckauers Roman "Die Bücher des Kaisers Wutai" (1928), dem Oskar Loerke schon im Vorwort
bescheinigte, daß der Verfasser hier "Sinn und
Not" der deutschen Gegenwart deutete. Vom expressionistischen
Vater-Sohn-Konflikt bis zum Zusammenstoß von Traditionsbewahrung und sozialer
Revolte werden deutsche Gegenwartsprobleme chinesisch maskiert. Auch der Schluß, das Heil in der "grünenden Erde" zu
suchen, verweist auf deutsche Motive im Kontext einer heimatsuchenden
Literatur. |
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[28] Friedrich Wolf
zit. bei Felbert, a. a. 0., S. 63; zur
proletarischen China-Literatur s. Felbert, S. 60 ff.,zu Kisch S.132 ff. [29] Über Heinz
Neumann und den Kantoner Aufstand 1927 s. Margarete Buber-Neumann:
Von
Potsdam nach Moskau. Stuttgart 1958, S. 175 ff. über Neumann
und Otto Braun s. Immanuel C. Y. Hsü: The Rise of Modern China. Hongkong 1983, S. 554, 559. - Kontakte zu Chinesen in Moskau
beschreibt Ernst Fischer: Erinnerungen und Reflexionen. Hamburg 1969, S. 350 f. Weitere Informationen über solche
Kontakte erhielt ich dankenswerterweise von den Augenzeuginnen Hedda Zinner-Erpenbeck (Berlin) und Eva Xiao
(Peking). [30] K. Baer: Gesang des chinesischen
Volkes. In: Internationale
Literatur, H. 5, 1938, S. 56 f. - Der mit einer Deutschen verheiratete
und auf dem Pariser Kongreß zur Verteidigung der
Kultur 1935 mit einer Rede hervorgetretene Chinese Emi
Sjao (Xiao) (vgl. Alfred Kantorowicz: Politik und
Literatur im Exil, 1978). München 1983, S. 208 f.) schrieb
die Erzählung: Tsian Tso-Ming schwieg. In: Internationale Literatur, H. 4,
1938, S. 72-77. - Klara Blum: Hieroglyphen an der
Kerkerwand. In: Internationale
Literatur, H. 9, 1939, S. 118. - dies.: Das
heldenhafte China. In: Deutsche Zeitung (Moskau),
9. Januar 1939, Nr. 7 (3099), S. 3 [31] Klara Blum: Die Ahnenfeier der Familie Li. In: Internationale Literatur, H. 9, 1939, S. 116 f. -dies.: Brief nach Schensi, in: Internationale Literatur, H. 8, 1940, S. 44 f. |
Solche Romane waren sicher am weitesten entfernt von dem
wirklichen Bürgerkriegs-China der zwanziger Jahre,
über das Berichterstatter wir Arthur Holitscher
("Das unruhige Asien", 1926), Egon Erwin Kisch ("China
geheim", 1933) oder auch Sinologen wie Karl August Wittfogel
("Das erwachende China", 1926) informierten. Zu einem
dokumentarischen Roman verarbeitete der sowjetrussische Schriftsteller Sergej
Tretjakov die Erlebnisse eines revolutionären
chinesischen Studenten ("Den Schihua",
deutsch 1932). Diese Autoren schreiben ganz bewußt
an einem Gegenbild zu dem total ins Geistige erhobenen China des Asien-Booms
der zwanziger Jahre. Bei ihnen lebt die jesuitisch-aufklärerische,
die jungdeutsch-despotismus-kritische Tradition wieder auf, nun mit
proletarisch-internationalistischen Vorzeichen. "China" ist wieder
das Feld für Staats- und Gesellschaftsutopien, nun aber solcher, die
weltweit und revolutionär verwirklicht werden sollen. Eingebunden in die
propagandistische Strategie der Komintern - in der
in Moskau erscheinenden Zeitschrift "Internationale Literatur"
wurde 1932 zur Auseinandersetzung mit China aufgerufen werden sozialkritische
Berichte, Agitationsdramen und -gedichte (von Hugo Huppert, Sergej Tretjakov, Friedrich Wolf) veröffentlicht. Das Interesse
am Fortschritt führt dabei manchmal (wie bei Kisch) zur Ignoranz gegenüber
den fremden Kulturen. Doch obwohl inhaltlich kaum ein schärferer Gegensatz
vorzustellen ist, hat dieses Chinabild doch eines gemeinsam mit dem der
Taoismus-Verehrer: Zur Erneuerung des Westens wird das Vorbild wieder im
Osten gesucht. Friedrich Wolfs Drama "Tai Yang
erwacht" (1930) war ausdrücklich dazu gedacht, "der deutschen gespaltenen
Arbeiterschaft am Beispiel der tapferen chinesischen Klassengenossen einen
Spiegel vorzuhalten". [28] Der abendländische Gedanke der Selbstverwirklichung, der Suche entwurzelter
Individuen nach dem Absoluten, das im Klima der zwanziger Jahre entstandene
Motiv, die absurde Existenz heroischmännlich zu besiegen, das ist auch das
eigentliche Thema der "chinesischen" Romane von Andre Malraux, die
sofort nach Erscheinen auch ins Deutsche übersetzt wurden. "Les Conquérants" (1928) erhielt den typischen Titel:
"Die Eroberer. Rote und Gelbe im Kampf um Kanton" (1929). "La
condition humaine" (1933; deutsch: "So
lebt der Mensch", 1934) konnte wegen der politischen Sympathie für kommunistische
Chinesen nur in Zürich auf Deutsch erscheinen. Das Chinesische bildet für
Malraux 'letztlich nur Kolorit für ein philosophisches Thema, für einen sehr
abendländischen, individuellen Heroismus. Als deutsches Gegenstück wäre
allenfalls der Roman "China frißt
Menschen" (1930) des Dada-Mitbegründers
Richard Huelsenbeck zu nennen. Wie in Malraux'
"Eroberern" ist ein Streik im Kanton der zwanziger Jahre das Thema,
doch Huelsenbecks Helden sind weniger revolutionäre
Aktivisten als Getriebene. Sie verlieren ihr europäisches Ich an die fremde
Exotik, und diese Bewußtseinsaufgabe wird -
häufiges Motiv in jener Zeit - durch die Opiumsucht versinnbildlicht (eine
literarisch ausgeglichene Gerechtigkeit für die reale Opium-Invasion nach
China im 19. Jahrhundert). Die emigrierten deutschen Kommunisten in
Moskau, die teilweise dort Kontakt zu chinesischen Kommunisten hatten, teils
sogar eine nicht unbeträchtliche Rolle bei den Aktionen der Komintern in China spielten, setzten auf literarischem
Feld die Ausgestaltung der Revolutionsutopie in China fort. [29] Seit sich
die Kommunisten unter Mao Zedong am chinesischen
Abwehrkampf gegen Japan beteiligten (1937), konnte China - wie Spanien - zu
einer Art Ersatzkriegsschauplatz künftiger Kämpfe werden. Leitmotivisch
wurde das heldenhafte Kämpfen und Dulden der Chinesen - eine Chiffre für den
nicht so erfolgreichen innerdeutschen antifaschistischen Widerstand? - in
Erzählungen und Gedichten glorifiziert. [30] Nur bei der rumänieneutschen
Lyrikerin Klara Blum tauchten dabei persönlichere Perspektiven und eine
engere Beziehung zu chinesischer Kultur auf. [31] |
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[32 vgl. Felbert, a. a. 0., S. 103 ff., 153 ff. |
Statt zu einer Metapher des Kampfes
stilisierte die deutsche Erfolgsautorin und freiwillige Frühemigrantin Vicki
Baum China zum literarischen Exempel der Verlorenheit und Hoffnungslosigkeit
deutscher Exilanten. In dem Roman "Hotel Shanghai" (Amsterdam 1939)
gehen Chinesen und Europäer gemeinsam an einer japanischen Bombe zugrunde,
Symbol einer bedrohlichen Situation, die nicht nur jüdischen Emigranten in
diesen Jahren ausweglos erschien. In der Literatur des Dritten Reiches kam China nur eine
Nebenrolle zu. Die Bedürfnisse nach Mystik und politischer Utopie sollten von
der offiziellen Reichs- und Rassenideologie befriedigt werden. Eine
unterschwellige Sympathie für das - ebenfalls zu Weltkriegs-Verlierern
gehörende - China bestimmte die Reisebücher solch anpassungswilliger Autoren
wie Klaus Mehnert oder Friedrich Sieburg ("Die stählerne Blume", 1939). Dagegen kann
der Roman "Opiumkrieg" (1939) des Österreichers Rudolf Brunngraber mit einem gewissen Recht der inneren
Emigration zugerechnet werden. Das Propaganda-Ministerium ließ das Buch zwar
gezielt zum Zeitpunkt des englischen Kriegseintritts (September 1939) erscheinen,
und sein Thema - die Denunziation des englischen Profitinteresses im
Opiumkrieg - schien es "für den gegenwärtigen politischen Einsatz"
(so eine Rezension) bestens geeignet zu machen. Die Art aber, wie Brunngraber seinen Gegenstand, Chinas militärische
"Öffnung" 1840 bis 42, anpackte, machte aus dem historischen einen kulturritischen und - verschlüsselt - politischoppositionellen Roman. Denn bei Brunngraber siegt Technik über Tradition und
Machtinteresse über Kultur. Dabei wird die moderne Kriegsmaschine, die nur
auf Effektivität ausgerichtete westliche Sachlichkeit deutlich ins Unrecht
gesetzt gegenüber einer alten Kultur, die zum hilflosen Opfer bestimmt ist.
In der Beschreibung dieser Kultur bedient sich Brunngraber
mancher topoi aus der deutschen Chin-Literatur,
wenn er etwa seinen Helden, den chinesischen Beamten Lin,
ähnlich wie Hesse seinen Siddharta, als Eremit zur "Einkehr der
Seele" finden läßt. Doch Brunngraber
gestaltet mit einer Mischung aus sachlichem Realismus und politischem Fatalismus
weder ein kulturelles Fluchtideal noch eine Widerstandsutopie. Die
Zerstörungskraft der schrecklich effizienten europäischen Moderne in ihrer
Kombination von Technik und Ökonomie scheint unaufhaltsam. Das breite
Leserinteresse an diesem in den vierziger Jahren sehr erfolgreichen Roman,
dessen letztlich pessimistischer Zug unübersehbar war, bliebe noch zu
interpretieren. Erst aus dem Nachlaß
bekannt wurde dagegen Bertolt Brechts im Exil entstandenes Fragment vom
"Tui-Roman". Diese bittere Satire auf die
Intellektuellen als Meinungsverkäufer steckt die Geschichte der Weimarer
Republik und der Machtergreifung 1933 in ein durchsichtiges chinesisches
Kostüm: Hitler ist "Hu-ih" und Friedrich
Ebert wird als "WeiWei" der
Lächerlichkeit preisgegeben. Brechts manchmal zynisches Fragment erschöpft
sich nicht im Hohn auf Sozialdemokraten oder die Philosophen des Frankfurter
Instituts für Sozialforschung, sondern denunziert die Indienstnahme der
Intelligenz für Machtinteressen überhaupt. Motive der deutschen literarischen
China-Tradition verwendet Brecht nicht, doch könnte man manche Passagen als
Parodie auf den barocken Sprachgestus von Döblins "Wang-lun"
lesen. [32] Nur bei den Satiren der Aufklärung oder den Staatsromanen des 18.
Jahrhunderts findet sich ein ähnlich reiner, bewußter
Charakter einer politischen Parabel im chinesischen Gewand. |
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[33] Max Frisch: Bin oder die Reise nach Peking. Frankfurt am
Main 1979, S. 87, 83 [34] Chen Huimin: Fremde Länder als Mittel der Verfremdung. Eine Studie über
ein zentrales Stilmittel in den Werken von Max Frisch. Arbeit zur Erlangung des Magistergrades der Deutschen Fakultät
des Fremdspracheninstitutes Shanghai. Guangzhou 1984 (Typoskript),
S. 40 f. [35] Chen Huimin, a. a. 0., S. 50 f. |
Auf ganz andere Art unwirklich ist das China, das Max Frisch in
seinem Prosastück "Bin oder die Reise nach Peking" (1945)
beschreibt. Er macht gerade die Sehnsucht nach einer Gegenwirklichkeit zum
Thema seines Buches, allerdings ist diese nun ganz unpolitisch gemeint.
Ausbruch aus dem Alltag, Abstreifen der sozialen Rolle sind die dominierenden
Themen: "In Peking, denke ich, können all solche Dinge nicht vorkommen,
die jeder von uns kennt, so daß sie ihm in der
Galle liegen. Hier ist alles anders." Diese Andersartigkeit meint, und
da kommen wieder bekannte Motive ins Spiel: Muße, Frieden, Höflichkeit,
Schönheit. Das chinesische Ambiente wird nur durch dekorative Gegenstände
evoziert: Bambus, Büffel, Pfirsichblute, Seide. Das Kollektivklischee von den
"Ameisen" dreht Frisch einfach um: "Ich weiß nicht, wessen
Sklaven wir sind. Wir leben wie die Ameisen, drüben im Abendland. (. . .) Wir
nennen es die Wochentage. Das heißt, jeder Tag hat seine Nummer, und am
siebten Tage läuten die Glocken; dann muß man
spazieren und ausruhen, damit man wieder von vorne beginnen kann. [33]
Charakteristischerweise kann die Sehnsucht aber kein Ende, kann ihr Ziel
nicht finden. Das Fremde entpuppt sich schließlich als schon bekanntes
Eigenes, das chinesische Haus in Peking ist vom Erzähler selbst konstruiert.
"Es wird in Bin nur gezeigt, was in einem sich zerrissen fühlenden
Schweizer Bürger vorgeht, was er wünscht, sucht und erwartet. Der Leser wird
(nicht nur) daran gehindert, sich wie in einem chinesischen Haus zu fühlen, sondern
er denkt distanziert über das auf diese verfremdende Weise Gesagte nach. [34] Geht Frisch hier auf die eine
Traditionslinie des geistigen, positiven Chinabildes ein, so nimmt er die
negativ-despotische Variante als Grundlage seiner Farce "Die chinesische
Mauer" (1947). In Übernahme von Brechts Verfremdungs- Dramaturgie (und
mit Anklängen an dessen dramatische Tui-Satire
"Turandot oder der Kongreß
der Weißwäscher") will Frisch vor der Willkür politischer Macht, vor der
Gefahr eines Atomkrieges warnen. Wie in Brechts Drama die
"chinesischen" Tugenden von Geduld und Entsagung als nützliche
Ideologie entlarvt werden, so ist für Frisch der Kaiser Hwang-ti
(Huangdi) das Urbild eines Tyrannen. Der simple Verfremdungsechanismus wird aus chinesischer Perspektive
so beschrieben: "So wie ein Europäer, der blonde Haare, blaue Augen und
eine große Nase hat, unter den Chinesen im chinesischen Milieu ganz auffällig
wirkt, sind die chinesischen Elemente (in Frischs Drama - TL) dem
europäischen Zuschauer auch fremd, auffällig, merkwürdig. Für die Europäer
sind die Figuren das Fremde, aber was sie zeigen, ihr Handeln ist das
Eigene." [35] |
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[36] Klara Blum: Die Zukunft in der Gegenwart. Ein Bericht vom "Großen Sprung
nach vorn" in Südchina. In: Neue
Deutsche Literatur, April 1959, S. 53-64. Ganz ähnlich: Franz Carl
Weiskopf: Reise nach Kanton. Berlin 1953 [37] Zum Leben
ausführlicher: Thomas Lange: Emigration nach China:
Wie aus Klara Blum Dshu Bailan
wurde.
In: Thomas Koebner, Wulf Köpke
u. Joachim Radkau (Hrsg.): Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 3. München
1985, S. 339-348 |
Die Gründung der kommunistischen
Volksrepublik China im Jahre 1949 bedeutet in literarischer Hinsicht zwar einen
Wandel, doch beileibe nicht das Ende der Metaphernbildung. Die Abschließung
des Landes vom Westen einerseits, die fortwirkende, von literarischen
Traditionen geprägte Sichtweise andererseits brachten eine politische
Akzentuierung mit sich, hinter der die alten Metaphern weiterlebten. Das
Geheimnis des Ostens war nun in das Rätsel der Massenkampagnen Maos
verlagert, und auch die Hoffnung auf politische Utopie schien sich - wieder
einmal- dort, weit weg, zu erfüllen. In den fünfziger Jahren erschienen in der
DDR zahlreiche Berichte über das neue China, die das sozialistische
Hoffnungsbild aus den Tagen des Moskauer Exils fortsetzten. Da ist immer viel
von Fortschritt, ja sogar von der "Zukunft in der Gegenwart" die
Rede. Diese realisierte Zukunft schien ohne Ausradieren der alten, seltsamen
Kultur nicht denkbar zu sein.[36] Dort schien möglich zu sein, was im
komplizierten Europa so geradlinig doch nicht denkbar war: Das gute, einfache
Volk fegt die korrupten alten Herren hinweg (so schildert es etwa Susanne Wantoch in "Na Lu. Die Stadt der verschlungenen
Wege", 1949). Beträchtlich mehr Differenierung
und Aufmerksamkeit für kulturelle Differenzen sind dagegen in Klara Blums
autobiographischem Roman "Der Hirte und die Weberin" (1951) zu
spüren. Die Autorin, die schon im Moskauer Exil Außenseiterin gewesen war
[37], stellt sich ihrer Erfahrung der Begegnung mit der chinesischen Kultur,
- und die war zur Idealisierung ungeeignet. Auf der Suche nach ihrem
Geliebten, einem chinesischen Kommunisten, der 1939 in Moskau unter
ungeklärten Umständen "verschwunden" war, kam sie 1949 nach
Shanghai. In dem einzigen deutschen Roman, der Bürgerkrieg und Sieg der
Kommunisten darstellt, schildert sie sowohl die von Intrigen vergiftete
Moskauer Exilzeit wie ihre Erfahrung, auch als
"anti-imperialistische" Schriftstellerin von den Chinesen
zurückgewiesen zu werden: Weil sie eine "Weiße" war. Gegen diese
Verweigerung ertrotzt sich Klara Blum - man muß es
so nennen die Identifikation mit dem fremden Land und mit einer Kultur, zu
der sie eine innere Verwandtschaft empfindet. Psychologisch war diese
Identifikation sicher der Versuch einer identitätsstabilisierenden
Selbstrettung; literarisch gesehen ist es eine der wenigen Bemühungen, sich
das Chinesisch-Andere im Vergleich mit dem Eigenen bewußt zu machen. |
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[38] Klara Blum: Der Hirte und die Weberin. Ein Roman aus dem heutigen China. Rudolstadt 1951, S. 80, 84, 252, 271, 279 [39] z. B. Peter Kuntze: China - Revolution in der
Seele. Frankfurt am Main 1977, S. 10. - Frank Thiess: Plädoyer für Peking. Stuttgart 1966 [40] Eine beißende
Abrechung und Analyse der "frommen Pilgerfahrten" nach China bei
Pascal Bruckner: Das Schluchzen des weißen Mannes.
Europa und die Dritte Welt. (Franz. 1983).
Berlin 1984, S. 37 ff. [41] Solche
Schwierigkeiten bei Joachim Schickel: Im Schatten Mao Tse-tungs. Chinas nahe
Geschichte. Frankfurt am Main 1982 [42] Einige typische Titel: Josephine Zöller: Das Tao der Selbstheilung (1984); Wen L. Hwang: Das große Tao Kochbuch (1981); Jolan Chang: Das Tao der Liebe (1978); Miyamoto Musashi: Das Buch der fünf Ringe (1984); Fritjof Capra: Das Tao der Physik (1975) |
Die emigrierte Jüdin fühlt sich nicht nur
als Angehörige eines unterdrückten Volkes den Chinesen nahe, sondern sie
spürt auch eine tiefere Übereinstimmung in der uralten Verhaltenskultur, die
beide Völker prägt. Klara Blums jüdische Heldin, Hanna Bilke gerät in eine
merkwürdige Doppelrolle, wenn sie von Chinesen als "weiße Frau, die
Tochter einer privilegierten Rasse" angesprochen wird.
"Nebbich!" dachte Hanna. "Meine privilegierte Rasse!".
Die Romanhandlung wird in Richtung einer altchinesischen Legende stilisiert
(auf die der Buchtitel verweist). In der Figur des geheimnisvoll im
Untergrund tätigen chinesischen Geliebten aber lebt auch das Klischee vom
"undurchdringlichen China" wieder auf. Gegen Ende des Romans gerät
der Annäherungsprozeß an China aber dann mehr und
mehr ins Fahrwasser der traditionellen politischen Utopie: China wird zur
"lebendige(n) Traumwelt". "Und wenn sie (Hanna Bilke - TL)
starb, so kam es nicht mehr darauf an, ob sie eine Heldin war oder eine
Närrin. Auf die schöne, noch unerschaffene Erde, die in ihren Träumen lebte -
auf die allein kam es an. [38] In ihrem weiteren Leben und Schaffen verlor
Klara Blum dann dieses Distanzbewußtsein. In ihren
späteren chinesischen Erzählungen ("Das Lied von Hongkong" , 1959) und Gedichten, die unter dem angenommenen
chinesischen Namen Dshu Bailan
erschienen, wurde sie unbedingte Partisanin und Propagandistin des
maoistischen China. Ein wenig erinnert dieser Anpassungsprozeß der Klara
Blum an die sinisierten Jesuitenmissionare des 17.
und 18. Jahrhunderts. |
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Klara Blum lebte mit ihrer totalen Identifikation
eine Haltung vor, die einer jüngeren deutschen Generation in den sechziger
und siebziger Jahren, während der europäischen Studentenrevolte und deren
Bedürfnis nach Identifikation mit einem politischen Hoffnungsträger,
entsprach. Die chinesischen Massen, die sechzig Jahre früher abfällig
"Ameisen" genannt wurden, werden nun von europäischen
Linksintellektuellen zum beglückenden Kollektiv verklärt. Aus der jesuitisch-aufklärerischen Utopie wurde der Modellstaat
der permanent mobilisierten Massen in der Kulturrevolution. Während im
wirklichen China der traditionelle moralische Rigorismus konfuzianischer
Herkunft in neuer Prüderie und Sittenstrenge weiterebte,
suchten die deutschen Intellektuellen dort einen "neuen Menschen"
[39], der überraschenderweise übrigens nicht nur von "linken",
sondern auch von "rechten" Beobachtern vorgefunden wurde.[40] Nach
der politischen Kursänderung von 1976 hatten alle solchermaßen engagierten
Beobachter dann Schwierigkeiten, hinter dem von der Pekinger Propaganda mitgestrickten - Symbolvorhang eine ganz andere
Wirklichkeit in China zu entdecken. [41] Freilich war auch die deutsche
Wirklichkeit eine andere geworden, so daß ein neuer
Ersatzschauplatz gesucht wurde. Es war, wieder einmal, der alte: China. Seit
Ende der siebziger Jahre inflationierte das
metaphysische Asien mit dem Schlüsselwort "Tao" den deutschen
Buchmarkt. Vom "Tao-Kochbuch" über das "Tao in der Ehe"
bis zum "Tao der Physik" blieb - Medizin und Börse eingeschlossen -
kein Lebensbereich ohne Ratschlag zu neuem "Einklang mit der
Natur". [42] Die rationale China-Metapher war noch einmal in ihr
Gegenteil umgeschlagen. |
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[43] Peter Schneider: Lenz. Eine Erzählung. Berlin 1973,
S. 29 [44] Günter Grass: Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus.
Darmstadt/Neuwied 1982, S. 47 [45] Literarische
Vorbilder wären z. B.: David Fassmann: Der auf Ordre
und Kosten seines Kaisers reisende Chinese (1721); oder: Oliver Goldsmith: Der
Weltbürger oder Briefe eines in London weilenden chinesischen Philosophen an
seine Freunde im fernen Osten (1762) [46] Adolf Muschg: Baiyun oder die Freundschaftsgesellhaft. Frankfurt am
Main 1980, S. 43 f. [47] Muschg, a. a. 0., S. 236 |
Gegenüber dieser populären Welle der Vermarktung
asiatischer "Geheimlehren" oder der abenteuerlichen Romantisierung
der "Öffnung" Chinas in internationalen Bestsellern (James Clavell: "Taipan")
wahren nur wenige Autoren etwas Skepsis. Die Absage an die linke Idolisierung Mao Zedongs und
zugleich an die darin übernommene (oder wiedergefundene) puritanische
Komponente klingt in Peter Schneiders Studentenroman "Lenz" an, in
dem Mao als "chinesischer Heiliger" [43] ironisiert wird. Günter
Grass' romanhafter Reisebericht "Kopfgeburten" (1980) sucht immer
wieder neue Annäherungen an die chinesische Gegenwart und findet sie
überraschend darin, daß dort wie hier die Mächtigen
sich verächtlich über die kritischen Schriftsteller, "die unruhig seßhaften Nestbeschmutzer", äußern. "Das war
nicht fremd oder zu weit weg. [44] Die so oft idealisierte chinesische
Vergangenheit taucht in der fiktionalen Literatur zunehmend nur als Spiel
auf: Als Entmythoogisierung des Taiping-Aufstandes in Erwin Wickerts "Der Aufstand
des Himmels" (1961) oder als Wiederaufnahme der im 18. Jahrhundert
erfundenen Kunstfigur des reisenden Chinesen, der Herbert Rosendorfer
als Prisma moralisierender Kulturpolitik dient ("Briefe in die
chinesische Vergangenheit", 1983).[45] Auch Adolf Muschgs Roman "Baiyun
oder die Freundschaftsgesellschaft" (1980) treibt dem Ernst der
europäisch-chinesischen Konfrontation ein perspektivenreiches Spiel. Was
Europäer da über China mutmaßen, sind immer auch Vermutungen über die
Europäer. China tritt als das "andere" dem Besucher fast
tautologisch entgegen. Ein Gespräch auf der Großen Mauer: "Hie China.
Dort drüben alles andere. Das Reich der Mitte. Und der Rest der Welt:
Randgebiet.... Es gibt nur einen Grund, drinnen zu bleiben, einen einzigen. -
Nämlich? Wenn man Chinese ist, sagt Samuel. [46] Die zeitgemäße Sehensweise
durch Photographie, die nur oberflächlich genauer zu sein scheint als
verbale Beschreibung, wird selbstironisch kommentiert: "Da kommen unsere
Dossiers. . . Jetzt würde sich zeigen, ob sich die Reise gelohnt hatte; ob
die Zuhausegebliebenen glauben würden, daß man in
China gewesen war, und zwar mit guten Motiven. [47] Doch so unterschiedlich
wie die Vorstellungen der Daheimgebliebenen sind auch die photographierten
Wirklichkeitsausschnitte der Reisenden. Muschgs Spiel mit den Perspektiven ist bei
der offen eingestandenen Unsicherheit über das "Wesen" Chinas und
dem (sicheren, aber anderen) Wissen über die Europäer und ihre
Wunschvorstellungen angekommen, das schon Victor Segalen
in seinem Roman "Rene Leys" (1922; deutsch erst 1982) virtuos
vorgeführt hatte. Dieses Zwischenreich scheint das lohnende Feld der
europäischen China-Literatur zu werden, nachdem die Darstellung Chinas seit
einigen Jahren durch die neuere chinesische Literatur selbst übernommen wurde. |
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Th. Lange |
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*Wolfgang Kubin (Hg.), Mein
Bild in deinem Auge – Deutsch-chinesische Spiegelungen im 20. Jahrhundert,
Kolloquium der Universität Bonn, 21.-23.5.1990, Darmstadt (WBG) 1995 |
In den 80er Jahren
wurde zunächst in Frankreich, in den USA und dann auch in Deutschland das
Werk des 1919 verstorbenen Exotismus-Schriftstellers
Victor Segalen
wieder entdeckt, bzw. überhaupt erst entdeckt weil erstmals vollständig
editiert. Eine Welle von biographischen und analytischen Studien und
Dissertationen folgte in Frankreich und den USA. Die Frage, was Exotismus in Kunst und Literatur eigentlich ist und ob
darin eine Befreiung vom eurozentrischen und damit (post‑) kolonialen
Blick überhaupt möglich sei, war u.a. Gegenstand
eines 1990 von dem Bonner Sinologen Wolfgang Kubin organisierten Kolloquiums
zum deutsch-chinesischen wechselseitigen Exotismus.*
Thomas Lange hielt dort einen Vortrag „Exotische Wahlverwandtschaften – Dshu Bailans jüdisches China“
(S.187-218) (Dshu Bailan
= Klara Blum, siehe auch im obigen Artikel von Th. Lange), Wolfgang Geiger präsentierte
„Victor Segalens Exotismuskonzeption
und ihre Bedeutung für die heutige Forschung“ (S.43-81). Vier Jahre zuvor war
der nachfolgend in überarbeiteter Fassung präsentierte Artikel in der
Zeitschrift Spuren veröffentlicht
worden. Er stellt auch heute noch eine sinnvolle Einführung in das Werk Segalens dar. Die Überarbeitung des Textes umfasst einige
redaktionelle Änderungen, eine Aktualisierung des Editions- und
Forschungsstandes wird zu einem späteren Zeitpunkt nachgeliefert. |
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©
1986/2006 W. Geiger |
Vom Reiz des Unverständlichen. Victor Segalens Ästhetik des Fremden von Wolfgang Geiger |
Der Originaltext erschien in: Spuren – Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, N°15, April-Mai
1986, S.35-36, 41-42. |
Diesen
Artikel als öffnen
oder speichern [1] Mircea Eliade, Im Mittelpunkt - Bruchstücke eines Tagebuchs, Wien 1977, Eintragung vom 15.06.1952 [2] Pierre Daix, Picasso,
Ed. Somogy, Paris, dt. Ausg. 1981,
35 [3] cf. den gleichnamigen Beitrag von Manfred Schneckenburger im Katalog zur Ausstellung Weltkulturen und moderne Kunst während der XX. Olympiade in München 1972 [4] zit.
nach Garaudys Picasso-Studie in: Roger Garaudy, Für einen Realismus ohne Scheuklappen - Picasso, Saint-John Perse, Kafka (geschr. 1963), Wien 1981, 12. |
Der rumänische Religionsforscher Mircea Eliade stellte einmal
fest, „dass nicht die Revolution des Proletariats das wichtigste Phänomen des
20. Jahrhunderts gewesen“ sei, „sondern die Entdeckung des nichteuropäischen
Menschen und seiner geistigen Welt.“ [1] Auch wenn man diese Wertung in ihrer
Rigorosität nicht unbedingt teilen mag, so ist daran jedenfalls wahr, dass
die „Entdeckung“ fremder Kulturen seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf ein
ebenso grundlegendes Problem von Geschichte und Gesellschaft auf Weltebene
aufmerksam gemacht hat, wie dies die weitgehend immanent entstandene Kritik
des Kapitalismus durch Marx, Engels und ihre Nachfolger tat. Noch bevor sich
die „Neue Ethnologie“ den fremden Kulturen widmete, sorgten jedoch vor allem
Künstler zu Beginn des 20.Jahrhunderts für Aufsehen: durch ihre Rezeption
der „Negerkunst“ und die Anwendung ästhetischer Prinzipien der „Primitiven“
in ihrer eigenen Kunst haben die Vertreter der künstlerischen Avantgarde das
europäische Weltbild an einem entscheidenden Punkt infrage gestellt: dem der
Reproduktion von Wirklichkeit. Dies hat für die Kulturgeschichte eine
ähnliche Bedeutung wie die Zerstörung des geozentrischen Weltbilds in der
modernen Naturwissenschaft durch Kopernikus und Galilei. Allerdings mit dem
Unterschied, dass dadurch das reale Verhältnis zwischen Europa und dem „Rest
der Welt“ nicht grundlegend verändert wurde. Und trotzdem: Außer der
Emanzipationsbewegung der Kolonisierten selbst spielte die von Künstlern,
Schriftstellern und Wissenschaftlern seit Beginn des 20.Jahrhunderts
eingeleitete Bewusstseinsveränderung in Europa vielleicht eine entscheidendere Rolle, als ihnen bisher zugedacht worden
ist. In diesem Kontext muss man den
„ungeheuerlichen Vorgang“ werten, dass damals „zivilisierte“ Menschen
anfingen, „wie die Wilden“ zu malen. Die Avantgarde wurde zum Schrecken des
Bildungsbürgertums. In Picassos „Demoiselles“ zum
Beispiel sah man allenthalben „Negerköpfe“, wo gar keine waren, denn die lebendigen
Vorbilder besagter Damen waren in Avignon zuhause und ebenso französisch wie
der entsetzte Betrachter dieser Bilder - Picasso hatte ihre Gesichter nur im
Stil afrikanischer oder ozeanischer Masken gemalt. Die Proportion stimmte
nicht mehr. Damit hatte er das Sakrileg begangen, gegen die „konventionelle
Darstellung eines nach dem Ebenbilde Gottes geschaffenen Menschen“
vorzugehen, wie es Pierre Daix treffend
charakterisierte [2]. Mit der „afrikanischen Proportion“ [3] sollte das Dogma
des Realismus in der abendländischen Kunst bekämpft werden – und mit dem
Realismus wollte man auch die Realität einer als dekadent empfundenen
bürgerlichen Welt umkrempeln. „Unsichtbares sichtbar machen“, wie es Paul
Klee einmal formulierte – Ent-fremdung durch
Ver-fremdung visualisieren, dies war ein
Programm, das Grundlegendes infrage stellte. Zu keiner Zeit zuvor hatte Kunst
einen so politischen Anspruch und zu keiner Zeit hat sie wohl mehr bewirkt.
Man stelle sich vor, wie Carl Gustav Jung nach der Analyse einer Picasso-Ausstellung
in Zürich folgende „Diagnose“ über Picassos Kunst traf: „Typischer Ausdruck
einer Schizophrenie.“ [4] |
|
[5] Schneckenbutger, op. cit., 485 [6] Fritz Kramer, Verkehrte Welten - Zur imaginären Ethnographie
des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M.
1981, 29 |
Die Künstler, die sich so für die
„primitive“ Kunst begeisterten, um sich deren Expressivität anzueignen,
kamen freilich erst allmählich zum echten Verständnis für den kulturellen
Hintergrund der fremden Völker, die diese Kunst hervorgebracht hatten. Selbst
für den aufgeschlossenen Europäer der damaligen Zeit, dessen Vorstellung von
der rechten Proportion in der Kunst eine „Verschmelzung von Anatomie und
Idealität“ war [5], musste die Welt unverständlich sein, aus der solch eine
afrikanische oder ozeanische Maske kam. Die europäische Kunst hatte es bis
dato nicht einmal fertig gebracht, die Fremden nach dem eigenen ästhetischen
Maßstab – dem europäischen –, nämlich realistisch darzustellen! Es
bedurfte dazu eines Malers, der von Europa Abschied genommen hatte: Paul
Gauguin. „Gauguin ist es zum ersten Mal gelungen, die polynesische
Physiognomie und Gestik darzustellen.“ [6] |
|
[7] Victor
Segalen, Die Ästhetik des Diversen - Versuch über den Exotismus, Frankfurt/M. und Paris 1983, 55 [8] Kramer, op. cit.,
97 [9] Brief vom 29.11.1903, in: Victor Segalen, Paul Gauguin in seiner letzten Umgebung/Die zwei Gesichter des
Arthur Rimbaud,
Frankfurt/M. und Paris 1982, 16 |
Einer der ersten europäischen Schriftsteller
– vielleicht sogar der erste, der sich vornahm, fremde Kulturen im
doppelten Sinn des Wortes zu „erfahren“ und diese Erfahrung in Literatur
umzusetzen ohne sich wie die Kolonialschriftsteller zum „Zuhälter des Exotismus“ zu machen [7], war der französisch-bretonische
Marinearzt Victor Segalen. In ärztlicher Mission
1903 in die Südsee gekommen, wurde er mit dem Elend der untergehenden Kultur
der Polynesier konfrontiert: Die Maori waren im Begriff nicht nur psychisch sondern auch physisch
zugrunde zu gehen – an europäischen Krankheiten, europäischem Alkohol,
der Zerstörung ihrer traditionellen Lebensgrundlagen durch die Europäer und
nicht zuletzt aus dem daraus resultierenden mangelnden Lebenswillen der Maori
selbst. Aber Segalen empfand mehr als nur Mitleid
und schlechtes Gewissen als Europäer. Wie eine Offenbarung traf ihn Paul
Gauguins Nachlass, dem sich Segalen, wenige Wochen
nach Gauguins Tod auf den Marquesas angekommen,
annahm. Gauguin hatte sich nicht nur persönlich und politisch gegenüber den
Kolonialbehörden für die Maori eingesetzt, sondern auch versucht, ihre Welt
in seiner Kunst, den Gemälden und Holzskulpturen, wieder zum Leben zu
erwecken. Sein künstlerisches Werk ist daher nicht nur ein Meilenstein auf
dem Weg zur modernen Kunst des 20. Jahrhunderts (in Europa), sondern auch
zum authentischen Verständnis fremder Völker. Man kann Gauguins Versuch, sich
ästhetisch in die polynesische Kultur einzufühlen und einzuführen,
„rückblickend in der Perspektive der ethnographischen Erfahrung
interpretieren“. [8] Wichtiger noch war für Segalen
jedoch Gauguins schriftliche Hinterlassenschaft: „Ich kann behaupten“,
schrieb Segalen in einem Brief, „von diesem Land
und den Maori nichts gesehen zu haben, bevor ich nicht Gauguins Skizzen
durchgeblättert und gleichsam nacherlebt habe.“ [9] |
Victor Segalen und Polynesien |
[10] dt. Die
Unvordenklichen, 1986. [11] Gustav Landauer, Skepsis und Mystik - Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik
(1903), Münster/
Wetzlar 1978, 3 |
Segalen beschloß,
den Gauguinschen Ansatz aufzunehmen und literarisch umzusetzen. Aus allen
mündlichen und schriftlichen Zeugnissen, derer er vor Ort und in den
Bibliotheken habhaft werden konnte, versuchte er während seines Aufenthalts
in der Südsee 1903/04 und in den Jahren danach die Kultur der Polynesier,
ihre geistige und materielle Welt von vor der Kolonialisierung zu
rekonstruieren. Neben einer Studie über die Maori-Musik, Essays über Gauguin
und die Maori und kleineren Novellen entsteht daraus vor allem ein Roman, der
bis heute seinesgleichen sucht: Les Immémoriaux („Die Unvordenklichen“ oder „Die
Gedächtnislosen“) [10]. Darin wird der Beginn der geistigen und materiellen
kolonialen Unterwerfung Tahitis aus der Sicht eines Tahitianers erzählt.
Außer dem Verhalten der Europäer auf Tahiti werden auch die „vergessenen
Zeiten“ der Maori erzählt, vermittelt über die „vergessenen Worte“, die
orale Erzähltradition, deren System in die Erzählstruktur des Romans direkt
eingearbeitet ist. In dieser Erzähltradition konzentrierte sich die ganze
kulturelle Identität der Tahitianer, der Roman rekonstruiert diese
Maori-Welt zum Zeitpunkt ihrer Erschütterung von innen und außen; die
Europäer treffen nämlich auf eine bereits krisenhafte Kultur. Dies äußert
sich unter anderem darin, dass der Held, Terii, ein
angehender Priester (haere-po), sich beim
rituellen Rezitieren der Genealogien der Inselgeschichte verheddert – das
heißt, die „Worte verliert“. Mit dem Verlust der Worte gerät alles in
Unordnung. Die Moral, die Segalen seinem Roman
zugrunde gelegt hat und auch sein späteres Werk bestimmt, erscheint so
einfach wie bestechend: die Menschen können ihrer Kultur nur wirklich
entfremdet werden, wenn diese selbst schon geschwächt ist. Hätte Cortes mit
seinen hundert Soldaten das Aztekenreich so einfach zerstören können, wenn
ihn der unglücklichste Zufall der Weltgeschichte nicht zum Gott Quetzalcoatl gemacht hätte, den man just in dem Moment inbrünstig
erwartete, als die spanische Flotte kam. Hätte Pizarro das riesige Inkareich
so schnell erorbern können, wenn die herrschende
Dynastie dort nicht gerade in einem tödlichen Bruderkampf gelegen wäre? Dem
verderblichen Einfluß von außen stellt Segalen jedenfalls eine innere Schwäche als Pendant gegenüber;
da die Geschichte und Identität der Tahitianer nur in ihrer oralen Form
bestand, stirbt sie mit dem Gedächtnisverlust und der Akkulturation
ihrer Priester - „denn wenn das Wort getötet ist: was soll dann noch stehen
bleiben?“ Diese von Gustav Landauer in seinem Essay über Mauthners
Sprachphilosophie [11] zufällig zum selben Zeitpunkt formulierte Frage, als Segalen auf Tahiti war, könnte direkt als Epigraph über Segalens Roman stehen. |
|
[12] cf. Erich Scheurmann, Der Papalagi -
Die Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiayea
(1920), Zürich 1977 [13] Segalen, Ästhetik des Diversen, op. cit., 46 [14] Brief an Georges-Daniel de Montfreid, 12.06.1906, zit. nach: Henry Bouillier, Victor Segalen, Paris 1961, 94 |
Segalens Roman ist mehr als
nur ein vorweggenommener „Papalagi“, er richtet
sich nicht nur an den europäischen Leser wie die „Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea“ [12], der
nur formal zu seinen Landsleuten spricht. Immerhin hat die Académie Tahitienne Segalens Buch in tahitianischer
Übersetzung an herausragender Stelle in ihr Programm zur „Verteidigung der
Sprachen und Kulturen Französisch-Polynesiens“
aufgenommen; auch wenn darin gleich mehrere neokolonialistische Purzelbäume
geschlagen wurden, muß man Segalens
Roman und seine damit verfolgte Absicht als gelungen betrachten. Segalen hat seinen Anspruch an einen anti-:kolonialistischen
„Exotismus“ als „direkte Darstellung des
exotischen Stoffes mit Hilfe einer Übertragung der Form“ [13] meisterhaft
eingelöst. „Ich habe versucht“, stellte er fest, „die Tahitianer so zu
beschreiben', wie Gauguin sie sah, bevor er sie malte: in sich selbst, und
von innen nach außen.“ [14] So daß es hier
schwerfällt, an dieser Stelle eine Passage aus dem Buch einfach aus ihrem
Zusammenhang zu reißen. Zur besseren Erläuterung eines der im Roman
angesprochenen Themen erscheint es dennoch angebracht. |
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[15] Victor
Segalen, Les Immémoriaux, Plon, Paris 1982,
23f. [Übers.
W.G.]. |
„Als er wieder zu seinem fare (seiner
Hütte) zurückkam, bemerkte Terii hinter dem
Bambusgitter flüchtig einen ängstlichen Schatten, den seine Ankunft in die
Flucht schlug. Er erkannte, daß seine Frau sich
wieder einmal von sich aus irgendeinem Piritane (einem
Briten) hingegeben hatte. Denn sie hielt eine funkelnde Axt in Händen, die
sie als Preis für ihre Umarmungen gefordert hatte, und über deren raschen
Erwerb sie sich freute: ihre Mutter ging den Männern mit der bleichen Haut
schon für eine Handvoll Nägel nach. Aber der haere-po
war verstört. Bisher stand es ihm zu, nach seiner Maßgabe darüber zu
verfügen, wo sich seine Gefährtin herumtrieb: und Tau-mi,
beschmutzt durch diese unerlaubte Herumtreiberei,
konnte nun keine Trägerin der Lose mehr sein. Er schlug sie also heftig und
drohte ihr mit Angst einflößenden Worten. Sie lachte, erjagte sie davon.
Nachdem er seine Wut und seinen Verdruß auf diese
Weise deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, beruhigte sich Terii. Dann machte er sich auf die Suche nach einer neuen
Braut für die Nacht und für noch viele weitere Nächte.“[15] |
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[16] Louis-Antoine de Bougainville, Voyage
autour du monde ..., folio, Paris 1982, 276; cf. auch : [17] [17] Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick - Das Bild vom Guten
Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Berlin 1981, 213 |
Diese Passage ist Teil des ersten Kapitels, wo die Briten auf
Tahiti Fuß fassen. Mit sehr viel Fingerspitzengefühl gelingt es Segalen, das älteste Südseeklischee auf eine Weise
anzugehen, die nicht von der europäischen Sicht auf Moral und Sexualität
befangen ist. Die Ankunft der Missionare veranlasst Terii
und seinen Meister Paofai, verschiedene
Zauberrituale zu zelebrieren, um die Fremden und ihre Götter wieder zu
vertreiben. Unter anderem soll Taumi, Teriis Frau, von Paofai mit
einem Zauber ausgestattet, sich den Fremden hingeben und sie dadurch bannen.
Die oben zitierte Passage erzählt, wie Taumi dieses
Vorhaben vereitelt, sie kann dadurch nicht mehr „Trägerin der Lose“ sein. Segalens Beschreibung der
Beziehungen zwischen Maori und Europäern offenbart eine sehr tiefgründige
Analyse. Während es am Tage die christliche Moral verbietet, die Gastfreundschaft
der tahitianischen Frauen wahrzunehmen, die an die
Fremden zunächst in bester Absicht herangetragen wird, kommt die wahre
„Moral“ der Europäer nachts zum Zuge: Es ist der Kauf der Ware Frau bzw.
deren Dienstleistung, der den Verkehr zwischen Einheimischen und Europäern
bestimmt. Segalen läßt aufTahiti keineswegs die „Freizügigkeit des Goldenen
Zeitalters“ [16] herrschen, wie es sich die Seefahrer seit Bougainville in
ihren Tagträumen ausgemalt und in der Nacht erkauft haben und wie es sich im
immer noch aktuellen Südseemythos niedergeschlagen hat. „Gerade mit dieser
Erklärung des Verhaltens der Tahitianerinnen“, schreibt Karl-Keinz
Kohl über Bougainville, „verdeckt er das auch von ihm wahrgenommene, seinem
eigenen Wunschbild einer von äußeren Zwängen befreiten Sexualität aber offensichtlich
zuwiderlaufende und daher unterdrückte eigentlich Anstößige des Vorgangs, daß es sich bei ihm nämlich um nichts anderes handelte
als um eine den Frauen von den
Männern aufgezwungene Form der Prostitution, deren Ziel es war, in den
Besitz der begehrten europäischen Waren zu gelangen.“ [17] |
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Die eben erwähnte
Szene von der Prostitution Taumis findet ihre
Entsprechung gegen Ende des Romans. Terii heißt
jetzt Iakoba und ist vom heidnischen Priester zum
christlichen Pfarrer geworden, hat also seine Machtstellung bewahrt und ist
jetzt glühender Verfechter des „neuen Gesetzes“. Dieses umgeht er jedoch, als
er seine Tochter Erena zum Schiff der Farani (der Franzosen) schickt, damit sie sich dort für
eine Packung Nägel anbiete, welche Terii für die zu
erbauende neue Kirche benötigt (sic!). Terii
verstößt damit nicht nur gegen die Prinzipien seiner inzwischen von ihm
selbst verleugneten eigenen Kultur, sondern auch gegen die christliche
Moral, die er formal jetzt auf Tahiti vertritt. In Wirklichkeit jedoch, das
kommt hier deutlich heraus, hat aber eben nicht das Christentum auf Tahiti
Einzug gehalten, sondern die Gesetzmäßigkeit des bürgerlichen Warentausches
und der Verdinglichung der menschlichen Beziehungen – dies ist die wirkliche
Religion, die die Europäer auf Tahiti eingeführt haben. Segalen war kein Soziologe
und schon gar kein „Linker“; er war „nur“ ein scharfsinniger Beobachter mit
einer tiefen Ablehnung jeder Form von Kolonialismus. Sein Anliegen, sich
nicht zum „Zuhälter des Exotismus“ machen zu
lassen, das Fremde nicht zu verkaufen, bekommt im Licht des eben
besprochenen Themas der Immémoriaux einen noch bedeutenderen Gehalt als nur den
symbolischen: es ist wortwörtlich gemeint. |
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[18] Victor Segalen, Der Sohn „des Himmels - Chronik der Tage des
Herrschers, Frankfurt/M.
und Paris 1983 [19] Victor Segalen, René Leys, Frankfurt/M. 1982 |
Seine zweite große Erfahrung mit einer
fremden Kultur machte Segalen in China, wo er 1909
bis 1914 lebte und das er dann noch einmal kurz 1917 besuchte. Als
Dolmetscherschüler nach Peking gekommen, machte er ebenso schnelle
Fortschritte im Erlernen der chinesischen Sprache und ihrer Schrift wie im Sich-Eindenken in die chinesische Philosophie, vor allem
in die Weltsicht des Taoismus. Der fünfjährige Aufenthalt im Reich der Mitte,
den Segalen mit einer großen, das ganze klassische
China der 18 Provinzen durchquerenden Reise 1909/10 begann und mit einer
zweiten, durch den Kriegsausbruch in Europa 1914 an der Grenze zu Tibet abgebrochenen
Reise unfreiwillig abschloß, wurde zur literarisch
fruchtbarsten Periode im Leben Segalens, der
bereits 1919 im Alter von 40 Jahren starb. In China schrieb er zwei große
Romane, die auf unterschiedliche Weise den Niedergang des chinesischen
Kaisertums thematisieren - zum einen aus der Sicht des letzten volljährigen
Kaisers, der „während der Periode Kuang-Siü
herrschte“ (moderne Transkription: Guangxu) und
1908 durch eine Intrige seiner Mutter umkam, in Der Sohn des Himmels [18]; zum anderen aus der Sicht des
Europäers Victor Segalen, der sich selbst zum
Erzähler seines (fiktiven) Tagebuchromans René
Leys [19] machte und dort in einem komplexen Spiel aus Realität und
Fiktion den Sturz der Dynastie 1911 erzählt, vermittelt über die Entschlüsselung
des Geheimnisses von Segalens Sprachlehrer, eines
jungen, in China lebenden Belgiers namens René Leys, der sich als Geheimagent
der Krone und Geliebter der Kaiserin-Witwe (das heißt der Gemahlin des
verstorbenen Kaisers aus „Der Sohn des Himmels“) entpuppt. |
Segalen und China |
[20] Brief an Claude Debussy,
Peking, 06.06.1910, in: Segalen et Debussy, Monaco 1961, 113 [21] Brief an Henry Manceron,Tien-tsin, 23.10.1911, in: V. Segalen, Die Ästhetik des Diversen, op. cit., 76 |
Daneben hat Segalen eine reichhaltige
„Reise-Literatur“ hinterlassen in der er ebenfalls versucht, von der alten,
klischeehaften Reiseliteratur des Kolonialexotismus
abzugehen und China, seine Landschaft und seine Menschen, vor allem aus
sich heraus zu verstehen und zu beschreiben. Zur Meisterschaft seines
über die Form vermittelnden Exotismus ist Segalen jedoch zweifellos in seinen Prosa-Gedichten
gekommen. Seine Stèles
sind in verschiedener Hinsicht repräsentativ für sein Exotismusverständnis
und seine Haltung zum alten und neuen China. Die Form dieser Gedichte hat er
den Inschriften altchinesischer Grabstelen entlehnt, ihre
Erstveröffentlichung durch Segalen 1912 in Peking,
also ein Jahr nach dem Sturz der Monarchie, machen sie zur symbolischen
Grabstele des alten China, dem letzten Land, in dem Segalen
noch die Behauptung des Autochthonen gegen den Zugriff der Kolonialmächte
sah, zumindest, was das Innere des Landes betrifft; so schrieb er unter
anderem 1910 an Claude Debussy: „Legt man an der Küste Chinas an, ist man zunächst in England:
Hongkong. Es ist schön, aber nicht das rechte. Man fährt weiter und kommt
nach Shanghai, immer noch irritiert Jetzt ist es ein bißchen
Amerika. Man fährt den Yangtse auf komfortablen house-boats hinauf und glaubt, in den 'gelben Kontinent
einzudringen', und dann kommt Han-keu; obwohl sich
auf der gegenüberliegenden Seite eine chinesische Provinzhauptstadt befindet,
ist man dort wieder in England und Deutschland, das bekannte Lied.“ [20] Und seinem Freund Henry Manceron, der
ihm nachfolgen wollte, erteilte er im Jahr darauf den Rat: „Verschwende keinen Augenblick an der Küste.
Vergiß Shanghai und die Häfen am Unterlauf des
Stroms. Chinas Ränder sind 'verdorben' wie die Schale einer gequetschten
Frucht, aber das Innere ist noch schmackhaft.“ [21] |
|
[22] V.
Segalen, René Leys, op. cit.,
200 und 202 |
Aus Segalens
bedingungsloser Verteidigung einer jeden Kultur und ihrer Unversehrtheit ist alleine seine politische
Haltung zur bürgerlichen Revolution von 1911/12 zu erklären: gegen die
Republik, für die Mandschu-Dynastie. Mit dem Sturz des Kaisertums, das Segalen vollkommen idealisierte (obwohl er sich dessen
innerem Niedergang bewusst war), sah er die vollständige Europäisierung
Chinas kommen, und entsprechend lässt er in seinem Roman René Leys den Franzosen Jarignoux
aufatmen angesichts der Ausrufung der Republik: „Es macht Freude zu sehen,
wie ein schönes, reiches Land sich der Vernunft des Fortschritts öffnet.“ Und
die Auspizien verraten es auch den Chinesen: „Zeichen hat man am Himmel
gesehen: einen Drachen ohne Kopf mit einem schwarzen Filzhut in Form einer
Wassermelone, und eine gelbe, aus ihrem Panzer geschälte Schildkröte, die
einen europäischen Anzug trug.“ [22] Deswegen wandte sich Segalen
der Vergangenheit Chinas zu, die er, ähnlich wie bei den Maori, künstlerisch
in die Gegenwart zurückholen und die Schildkröte, Symbol der Erde und der
Dauer, wieder wie früher zur Trägerin der Gedenksteine machen wollte.
Deswegen auch geht Segalens archäologisches Interesse
an der Ausgrabung der alten, von den zeitgenössischen Chinesen vergessenen
Monumente mit der ästhetischen Rekonstruktion der geistigen Welt des alten
China einher. Eine „Stele“, die dem in besonderer Weise gerecht wird, ist
folgende: Tisch der Weisheit Stein - im
Gebüsch versteckt, vom Schlick verzehrt, von Rissen
entweiht, von Würmern und Fliegen
bestürmt, jenen unbekannt, die eilen, von
dem verachtet, der anhält, Stein - zu Ehren des vorbildlichen Weisen
errichtet, nach dem der
Fürst überall suchen ließ im Glauben
an einen Traum, aber den
man nirgendwo entdeckte, Außer an diesem Ort, wo die Übeltäter verweilen: (vergessliche Söhne, rebellische Untertanen, Leute, die jede Tugend beleidigen), Unter denen er
bescheiden lebte, um seine besser' zu verstecken. |
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[23] Victor Segalen,
Stèles, herausgegeben und kommentiert von Henry Bouillier, Paris 1982, „Table de Sagesse“ [24] cf. Victor Segalen,
Chine - la grande statuaire, Paris 1972; dieses Buch über die archäologische
Seite von Segalens Chinareisen ist bei Qumran auf deutsch erschienen. Zu diesem
Thema auch: Günter Metken, Zwischen Wissenschaft und Fiktion - Victor Segalen als Archäologe, in: Akzente 4/1984. [25] Außer der o.g. kommentierten Ausgabe der Stèles
gibt es in Frankreich und den USA zahlreiche detaillierte Analysen der Bezüge
zur chinesischen Literatur bei Segalen, die hier
im Einzelnen nicht aufgeführt werden können. [26] zit. Brief an Manceron, in: Ästhetik..., op. cit.,
79 |
Diese „Stele“ [23] ist die letzte, die von Segalen verfasst wurde, sie war für die zweite Ausgabe
der auf 64 „Stelen“ erweiterten Sammlung bestimmt, die Segalen
1914 herausgab. An ihr lässt sich seine Vorgehensweise gut exemplifizieren.
Von einer Anekdote bezüglich eines Traums des Kaisers U-ting
(1324 -1266 v. Chr.) aus den chinesischen Geschichtsbüchern ausgehend, hat Segalen in mehreren Versionen etappenweise den konkreten
Bezug eliminiert und die Aussage verallgemeinert. Das im Feld untergehende
Steinmonument - mit dem es Segalen auf seinen
archäologischen Expeditionen stets zu tun hatte [24] - versinnbildlicht die
Lage Chinas, wie Segalen sie vorfand,
beziehungsweise, wie er sie wertete. Dem entspricht der Weise, der unerkannt
unter dem gemeinen Volk lebt. Dass der Fürst nach ihm suchen lässt um ihn in
seine Verwaltung zu berufen, ist nicht nur eine historische Vorlage für
dieses Gedicht, sondern war in China immer wiederkehrende Praxis und
dementsprechend auch ein Topos der Literatur. Das Thema des sich der Macht
verweigernden Philosophen ist also sehr politisch. Am weitesten gingen darin
die Taoisten mit ihrer radikalen Kritik an Staat
und Zivilisation. Der chinesische Epigraph, den Segalen
jeder „Stele“ beigesellt hat, bedeutet hier: „Niemand kennt ihn“. Es ist das
wörtliche Zitat eines Textes über den taoistischen
Philosophen Lie-tzu (Liä Dsü, 4. Jh. v. Chr. – nicht zu verwechseln mit Lao-Tse), der sich, ähnlich wie sein historischer
Vorgänger, auf den das Gedicht anspielt, vierzig Jahre lang vor dem Fürsten
und seinen Offizieren im Volk versteckte [25]. Man sieht also an diesem
Beispiel - dessen Detailanalyse man natürlich noch viel weiter treiben könnte
-, wie vielfältig und eng Segalen seine Dichtkunst
mit der chinesischen Tradition verwoben hat. Natürlich wird dies dem normalen
Leser nicht so bewusst, aber neben der denotativen
Informationsebene des Textes wird ihm durch die Form dieser „Stele“
unbewusst ein Stück China vermittelt. So hat Segalen
zum Beispiel auch den letzten Satz des Gedichtes gezielt chiffriert, damit
der Leser nach der Referenz des Wortes „seine“ sucht; in einer früheren
Fassung stand noch: ,,... der seine Tugend versteckte“. Mit dem für den Leser
zunächst überraschenden Schluss bricht Segalen die
gewohnte Lesehaltung auf und zwingt den Leser, auf der Bewusstseinsebene die
Verbindung zwischen „seine“ und „Tugend“ herzustellen. Dieses Verfahren
ähnelt den Rätseln, mit denen die taoistischen
Philosophen und mehr noch die späteren Meister des Zen
ihre Schüler aus der gewohnten Denkhaltung herauslocken wollten. Selbst im
kurzfristigen „Nicht-Verstehen“ des Gedichts, bzw. seines Schlusses, liegt
also bereits ein Stück Verstehen. In dieser Dichtung sind „die Grenzen
zwischen dem chinesischen Reich und dem Reich des Ich fließend“ [26], die
Referenzen auf die chinesische Tradition und die Form der Gedenksteine sind
nicht Selbstzweck, sondern Angelpunkte für Segalens
eigene Botschaft, die sich hinter dem unbestimmten lyrischen Ich der
verschiedenen „Stelen“ verbirgt: man hört Mandarine, Philosophen, Chronisten
und Kaiser sprechen, und zwischen ihnen, manchmal versteckt, manchmal
offensichtlich, einen ideellen Dichter, durch dessen Mund Segalen selbst spricht. Es handelt sich also um eine
Synthese zwischen dem Ich und dem Fremden; dass diese Synthese keine
„Chinoiserie“ ist, keine oberflächliche und verfälschende Adaption – weder
hier noch andernorts bei Segalen –, haben unter
anderem asiatische Leser und Analytiker von Segalens
Werk eindrucksvoll bestätigt. |
|
[27] Victor Segalen, Aufbruch in das Land der Wirklichkeit, Frankfurt/M. und Paris 1984, 8f. |
Eine andere Synthese zwischen dem Ich und dem Fremden hat Segalen in seiner „Reiseliteratur“ gefunden. Obwohl er
dieses Genre von vorneherein für „suspekt“ hielt, muss man die literarischen
Tagebücher seiner beiden Chinadurchquerungen 1909/10 und 1914 als solche
bezeichnen. Den letzten Teil seiner „Feuilles de
route“ von 1914 hat Segalen zu einer höheren Stufe
des Literarischen verarbeitet, wo nicht mehr nur die Reise, beziehungsweise
deren letzte Etappe durch das Hochland von Setchuan,
sondern auch die Reflexion über die Reise Gegenstand der Beschreibung geworden
ist. In Equipée
(dt. Aufbruch in das Land der Wirklichkeit“]
wollte Segalen aus den imaginären Gefilden seiner
vorangegangenen dichterischen Arbeit wieder mit dem Greifbaren, dem
Wirklichen konfrontiert werden und eine Haltung des Reisenden entwickeln,
die Phantasie und Realität nicht gegeneinander ausspielt, sondern
dialektisch verknüpft. „Dieses Buch versteht sich also nicht als das Gedicht einer
Reise, noch als das Logbuch eines in die Ferne schweifenden Traumes. Dieses
Mal, da der Widerstreit in den Augenblick des Handelns selbst hineingelegt
wird, wo am Fuß des Berges nicht zwischen Dichter und Bergsteiger, auf dem Fluß nicht zwischen Schriftsteller und Seemann und in der
Ebene nicht zwischen Maler und Feldmesser, noch zwischen Pilger und
Topographen unterschieden werden soll, in dem Vorsatz, in ein und demselben
Augenblick den Jubel in den Muskeln, in den Augen, in den Gedanken, im Traum
zu erfassen, kann es hier nur darum gehen, danach zu forschen, in welchen
geheimnisvollen Höhlen des menschlichen Innern diese verschiedenen Welten
sich verbinden und gegenseitig zur völligen Entfaltung bringen können. Oder aber, ob sie sich tatsächlich schädlich
sind, ob sie sich zerstören, bis sich gebieterisch die Wahl zwischen ihnen
aufdrängt - ohne vorab zu bestimmen, wer sie gewinnt -, und ob es nach der
Rückkehr von diesem Aufbruch in die Wirklichkeit auf das so verführerische
Doppelspiel zu verzichten gilt, ohne das der lebendige Mensch nur mehr Leib
oder nur mehr Geist ist.“ [27] |
|
[28] Victor Segalen;
Dieser Tag
ganz und gar im Wirklichen (Aus den „Wegeblättern“ 1914), in: Akzente 4/August 1984, 353 [29] Victor
Segalen, Voyage au pays du réel, Ed. Le Nouveau Commerce, Paris 1980, 68. (Dieser
Teil von Segalens Reisenotizen ist nicht identisch
mit der unter [27] zitietien literarischen
Fassung.) [30] V. Segalen, Aufbruch..., op. cit., 28f. |
Segalen versucht auch als europäischer
Reisender durch China, die chinesische Landschaft in chinesischen Kategorien
zu beschreiben, ihre Elemente in dialektische Paare aufzugliedern, in Berg
und Fluß, Hochland und Ebene, ganz wie es sich in
der chinesischen Sprache selbst niedergeschlagen hat: “Wenn die Chinesen
'Landschaft' ausdrücken, sagen sie chanchuei,
Gebirge und Gewässer. Das ist wahr. Das ist da“, hält er in seinem
Reisetagebuch fest [28]. So richtet sich Segalens
topographische Erfahrung zwangsläufig gegen die Gewohnheiten der
europäischen Geographen und Forschungsreisenden, in deren Berichten das Land
in Zahlen und Begriffen eingeteilt wird. Segalens
Blick in den Raum, den er beschreibt und gleichsam beschreibend malt, ist
dem geschulten, besitzergreifenden,
naturwissenschaftlichen Blick des Europäers und der „Grobheit der
Topographie“ geradezu entgegengesetzt, deren Schein-Objektivität Segalen immer wieder kritisiert: „Das mit Träumen reich bevölkerte Unbekannte in Bekanntes
umsetzen! Legendäre Gipfel durch das Metermaß ersetzen! Die reine Luft der
hohen Grate durch den Höhenmesser aufwiegen! Und wofür? Nicht einmal, um dem
künftig vorbeikommenden Reisenden von Nutzen zu sein. Denn ein
Kilometer bedeutet hier gar nichts. (...) Nur das li
ist geschmeidig genug.“ [29] Dieses chinesische Wegemaß, das li,
misst die Wegstrecke über die dazu erforderliche Zeit und passt sich
somit der Landschaft an. In ähnlicher Weise verfährt Segalen,
wenn er die Landschaft über seine Eindrücke beschreibt, seine Wahrnehmung
ästhetisiert und dabei versucht, alle Sinne in einer synästhetischen
Wahrnehmung zu vereinigen: Er spürt die Welt unter seinen Füßen in dem
Moment, wo er sie auch sieht, sein Gewicht ändert sich nicht nur mit der
Steigung der Strecke, sondern auch mit der Fülle des Wahrgenommenen, der „plénitude“, die bei Segalen
nicht nur eine Empfindung, sondern ein überwältigender Zustand von
Trunkenheit ist, ein „Höhenrausch“ im doppelten Sinne, der die Grenze
zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit niederreißt: „Der Blick über den Paß
hinweg ist nichts anderes als ein kurzer Blick; - aber so gesättigt mit
Fülle, daß man den Triumph in den Wörtern, die ihn
aussprechen, nicht trennen kann vom Triumph in den gesättigten Muskeln, das
Geschehene nicht von dem Eingeatmeten. Ein Augenblick -ja, der aber alles umfaßt. (...) Ein magischer Augenblick: das Hindernis ist
gefallen. Man behandelt die Schwerkraft von oben herab. Der Berg ist erstiegen,
die Mauer geschleift. Der umschränkte Ort hat plötzlich keine anderen
Schranken mehr als die fiktive Verlängerung des Horizonts. Würdevoll sind
zwei Hänge zur Seite gewichen, um in einem bis zu den Grenzen reichenden
Dreieck den Hintergrund einer Hinterwelt zum Vorschein kommen zu lassen.“
[30] |
|
[31] Victor
Segalen, Peintures, Gallimard, Paris 1983, „Paysage“, 45 [32] cf. Princesse Marsi
Paribatra, Victor Segalen - Un
exotisme sans mensonge, in: Revue de littérature comparée,
Oct.-Déc. 1956, 500 [33] Victor Segalen, Présentation
de „Peintures“, in. Den., Stèles, Peintures, Equi-pee,
Annexes, Ed. Club du Meilleur Livre, Paris 1955, 564 |
Wie bei den „Stelen“ wäre es auch hier
vermessen, über kurze Auszüge einen wirklichen Einblick in Segalens Reise-Buch vermitteln zu wollen, das den Leser
Kapitel für Kapitel in das Fremde und die ungewohnte Sicht darauf initiiert.
Es ist die Initiation in eine in Worte gefasste Landschaftsmalerei, welche
auch die Landschaft nicht als tote Materie, sondern als belebtes Wesen
betrachtet; je mehr Segalen in die Begegnung mit
dieser Landschaft und ihren Bewohnern eintaucht, desto deutlicher werden die
Gesichter der Menschen selbst zu Landschaften und die Landschaft ihrerseits
zum Gesicht eines Makanthropen, dessen Archetyp das
mythische Urwesen P'an-ku
(alte Schreibweise) ist, der Demiurg, der die Welt schuf, indem er, der einst
so groß war, dass er Himmel und Erde verband, sich schließlich selbst
opferte: aus seinem Körper entstanden Berge, Flüsse, Meere, Vegetation und
Gestirne. „Genau betrachtet ist die Landschaft nichts anderes als die von den
Sinnen durchbrochene Haut eines riesigen menschlichen Gesichts.“ [31] Diese
Vision von der Belebtheit der Natur, die die Tradition der chinesischen
Landschaftsmalerei verinnerlicht hat, nimmt Segalen
auf und vervollkommnet sie in seinen Peintures (erschienen 1916). Diese „erzählten Gemälde“
sind ein einzigartiges Phänomen in der Literaturgeschichte. Segalen fuhrt darin seine „geistige Karawane“ auf eine
neue Reise, weg von der Konfrontation mit dem Wirklichen und Gegenwärtigen,
zurück zum Imaginären und Vergangenen. Die Beschreibung dieser Gemälde führt
den Leser in eine imaginäre Landschaft ein. Die Augen des Lesers werden durch
diese Landschaft geführt, wie die Augen des Betrachters suchend über ein Bild
gleiten. Im Gegensatz zur abendländischen Malerei bietet sich nicht sofort
eine Zentralperspektive an, die Elemente des Bildes, gerade auch die
Menschen, werden von der immensen Weite des Dargestellten absorbiert, sie
sind Teil des Ganzen, Teil der Landschaft, Teil der Natur. Die Themen der Peintures lehnt
Segalen ebenso an die chinesische Tradition und
Geschichte an wie bei seinen Stèles, ohne die Vorgaben einfach zu imitieren. Zu einem
guten Teil sind es auch von Segalen erfundene
Bilder, aber im chinesischen Stil erfunden. „Sogar wenn Segalen
träumt, träumt er chinesisch“, kommentierte einmal eine asiatische Leserin Segalens Exotismus [32]. Sich
auf diese fiktiven Gemälde einzulassen, auf ihre in mehrfacher Weise andere
Ästhetik, erfordert mehr denn je bei der Rezeption Segalens,
dass sich der Leser einem fremden Denken öffnet und die gewohnte Vorstellung
der abendländischen (Rezeptions- und Produktions-) Ästhetik, die Trennung
zwischen dem visuellen (abgebildeten) Raum und dem fiktiven (erzählten) Raum
hinter sich lässt. „Die in diesem Buch eingenommene literarische Form ist
neu“, schrieb Segalen in einer zu Lebzeiten unveröffentlichten
Präsentation seines Buches. „Durch einen deutlichen Bruch mit der
Vorgehensweise eines Romans, wo Personen in Dialog treten oder zu leben
vorgeben, zur Freude oder zur Langeweile des Lesers, geht der Autor hier auf
den Leser, oder zumindest den 'Betrachter', zu und macht ihn zum 'Komparsen',
zum 'Komplizen'. Es gibt ein wechselseitiges Echo.“ [33] |
|
[34] V Segalen, Peintures (1983), 10ff. [35] V. Segalen, Ästhetik..., op. cit., 41 [36] a.a.O., 44 [37] a.a.O., 93 |
In der Einleitung zum Buch wird der
Leser auf diese neue Lektüre vorbereitet: „(...) Und ganz bestimmt, rechnen Sie
mit keinem vorgesehenen 'Effekt'; keines der flüchtigen Trugbilder, womit die
abendländische 'Perspektive' spielt und gesichert entscheidet, ob sich die
Parallelen im Unendlichen schneiden oder nicht... (im recht mäßigen
Unendlichen, das zwei Striche auf einem Punkt aufspießen) - oder ob die
gezeichneten Personen eineDi-mension im Raum
einnehmen oder zwei oder drei... (ach! überlassen wir das dem guten
Maßschneider!). Meine Rolle Ihnen und diesen Gemälden
gegenüber ist eine andere, nämlich die, Sie nur sehen zu lassen. Es
sind gesprochene Gemälde. (...) Lassen Sie sich also durch dies überraschen,
was kein Buch ist, sondern ein Spruch, ein Aufruf, eine Beschwörung, ein Schauspiel.
Und Sie werden bald damit einig gehen, daß
sehen, wie es hier verstanden wird, heißt, an der Zeichenbewegung des Malers teilzunehmen, heißt, sich irrt ausgemalten
Raum zu bewegen, heißt, sich in jede der gemalten Handlungen hineinzuversetzen.,,“
[34] Reflexionen Segalens über seine eigene Arbeit und über eine Theorie
des Exotismus sind im Vergleich zur Fülle seines in
wenigen Jahren geschriebenen oder entworfenen literarischen und
wissenschaftlichen Werks spärlich und fragmentarisch geblieben. Neben vielen
Projekten, die Segalen begonnen hat, aber durch
seinen frühen Tod im Alter von 40 Jahren nicht vollenden konnte, ist auch
sein Essai sur l'Exotisme als eine „Esthétique
du Divers“ – was soviel heißt wie „Ästhetik des Verschiedenen, Andersartigen“
– im Stadium der Konzeption geblieben. Neben mehreren Entwürfen für eine Einleitung,
in der Segalen scharf mit der Kolonialliteratur
abrechnet, enthält die Sammlung eine Reihe interessanter Reflexionen zum Teil
aphoristischen Charakters sowie Auszüge aus Briefen. Die Ästhetik des
„Diversen“ ist die Ästhetik des Anderen, die eine andere Wahrnehmung
impliziert. Unter Exotismus versteht Segalen den „Begriff des Anders-Seins, die Wahrnehmung
des Diversen, das Wissen, dass etwas nicht das eigene Ich ist, und die
Fähigkeit (...), anders aufzufassen.“ [35] Diese andere Auffassung
bereitet dem Leser von Segalens Literatur nicht
selten Schwierigkeiten; darin liegt aber auch der Reiz, denn „der Exotismus ist (...) keine Anpassung (...). nicht das
vollkommene Begreifen eines Nicht-Ich, das man sich einverleiben könnte, sondern
die scharfe, unmittelbare Wahrnehmung einer ewigen Unverständlichkeit.“ [36]
Im Lesevorgang vollziehen wir Segalens Prozeß der Initiation in das Unverständliche nach und
müssen dementsprechend unsere gewohnte Erwartungshaltung ändern, „nicht die
Unverständlichkeiten beklagen, sondern sie im Gegenteil aufs höchste loben“.
[37] |
„Exotismus“: Wahrnehmung des Anderen durch eine andere
Wahrnehmung |
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Auf deutsch ist von Victor Segalen
in den 80er Jahren eine unvollständige Werkausgabe bei Qumran
(Frankfurt/M. und Paris) erschienen, später bei Fischer Taschenbuch reeditiert. Bei Suhrkamp (Frankfurt/M.) erschienen René
Leys und bei Insel Die Unvordenklichen (Les Immémoriaux). Eine Einführung in Biographie und Werk mit zahlreichen Textproben
bietet das Schwerpunktheft der Akzente zu Victor Segalen
(Heft 4/August 1984). |
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Eine Aktualisierung des Editions-
und Forschungsstandes zu Victor Segalen sowie
weitere Analysen werden hier zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung
gestellt. |
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W.
Geiger |
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