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Historia interculturalis |
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« Fenêtre » Takashi Naraha Clermont-Ferrand |
Sprache und Geschichte |
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Last update: 15.8.2009 |
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„Sprachregelungen“ im „heimlichen Lehrplan“ unseres
historischen Weltbilds – Freudsche Fehlleistungen als Offenbarung des
kollektiven (Un-)Bewussten Mit dem banalen Begriff „Sprachregelung“
benannte seinerzeit der Propagandaminister des „Dritten Reiches“, Joseph
Goebbels, die täglich an die Presse ausgegebene Order, wie das politische
Geschehen darzustellen sei. Analog zum „heimlichen Lehrplan“, den kritische
Pädagogen der antiautoritären Bewegung später in den offiziellen Lehrplänen
der Bundesländer entlarvten – wobei vieles gar nicht „entlarvt“ zu werden
brauchte, da es gar nicht verheimlicht wurde –, bringen ideologisch
geprägte Weltbilder und somit auch ethnozentrische
Geschichtsvisionen halb bewusst, halb unbewusst einen sprachlichen Code hervor, der zentrale Elemente ihre Botschaft
an derselben Grenze zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit transportiert. |
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Die nachfolgende Analyse dieses
sprachlichen Codes und seiner Freudschen Fehlleistungen thematisiert nicht
nur auf den ersten Blick erkennbare interkulturelle Themen, sondern auch
Themen der ureigenen deutschen und/oder europäischen Geschichte. Eine daran
anschließende interkulturelle Fragestellung ergibt sich oft schon aus der
Problematik des Selbstverständnisses europäischer Geschichte als universellem
Modell bzw. für andere Kulturen unerreichbarem Vorbild (siehe dazu Geschichte und Weltbild). Ziel
interkultureller Hermeneutik im Bereich der Geschichte ist jedoch nicht nur
das adäquate Verständnis der fremden Kulturen bzw. die adäquate Erkenntnis
über die Beziehungen zwischen den Kulturen, sondern auch die entsprechende
Aufklärung über die eigene, vermeintlich „selbstverständliche“
Kultur. |
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In loser Folge werden wir also Elemente
dieses Codes aufzeigen und analysieren. Jedem Eintrag ist ein Thema als
historische und inhaltliche Einordnung zugewiesen (linke Spalte) sowie eines
oder mehrere Stichwörter (rechte Spalte) |
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Übersicht: |
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Kolonialismus: „Wem gehört das Land?“ Europäisch-jüdische
Geschichte: „Geldverleiher
versus Bankiers“ Staat und
Gesellschaft: „Vor 800
Jahren gründete Dschingis Khan die Mongolei“ Anthropologie /
Geschichtsphilosophie: „Gesellschaften gehen unter, wenn sie nicht intelligent genug sind.“ Okzident und
Orient: „Odysseus
zog in den türkischen Krieg“ Die
Instrumentalisierung des Antisemitismus zur Entschuldigung der Manager: „Gestern die Juden, heute die Manager“? „Nur wenige
aztekische Codices überstanden die Zerstörungswut der Spanier“ |
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Thema: Kolonialismus |
„Wem gehört
das Land? Denen, die es als erste besiedelten, oder denen, die es
wirtschaftlich erschlossen haben?“ Aus einem Bericht über die Maori-Kultur in
Neuseeland, in: Arte, „Metropolis“, 11.2.1999. Diese
an den Zuschauer gestellte, vorgeblich die Diskussion in Neuseeland selbst
widerspiegelnde Frage ist ein Musterbeispiel dafür, was man eine rhetorische Frage nennt: Allein die
Tatsache ihrer Formulierung in der vorliegenden Art und Weise bedeutet ja
schon, dass die erstgenannte der beiden möglichen Antworten nicht als
selbstverständlich gilt. Die Formulierung der zweiten möglichen Antwort
umgeht geschickt das Problem, dass es sich bei „denen, die das Land wirtschaftlich
erschlossen haben“ ja um Eindringlinge, Eroberer handelte, die nicht von den
Erstbewohnern gerufen wurden, ganz im Gegenteil! Die zivilisatorische Tat
der „wirtschaftlichen Erschließung“ soll somit als historisch-moralisches
Argument ein auch nach heutiger allgemeiner Vorstellung geschehenes Unrecht
rechtfertigen, im Sinne von: Alle hatten ja etwas davon. Dem
ist aber gar nicht so: die „wirtschaftliche Erschließung“ geschah ja nur im
Sinne und zum Vorteil der Eroberer und Siedler aus Europa und zum Nachteil
der alteingesessenen Bevölkerung, es sei denn – und das wäre die nächste
logische, dieser rhetorischen Frage aber bereits innewohnende
Schlussfolgerung – man betrachtet die Zerstörung der autochthonen sozialen,
kulturellen und ökonomischen Strukturen als einen Vorteil auch für die
autochthone Bevölkerung, die ja in Folge der Kolonisierung von den
Errungenschaften der europäischen Zivilisation profitierte. Doch worin
besteht der Vorteil, wenn man die europäische Lebensweise nicht per se als
solche dazu erklärt? Dazu nur ein kleines Schlaglicht aus dem benachbarten
Maori-Gebiet unter französischer Verwaltung, Französisch-Polynesien:
Auf Tahiti wird heute mehr Fisch als Nahrungsmittel importiert als vor Ort
selbst gefangen. Der
europäische Kolonialismus hatte historisch und ideologisch verschiedene
argumentative Instrumente zu seiner Legitimation. Neben dem rohen Recht des
Stärkeren, sozialdarwinistisch verbrämt, gab es auch eine „linke“ Variante,
die v.a. in Frankreich von der demokratischen Linken
(IV. Republik nach 1871, v.a. aber seit 1918) bis
hin zu sozialistischen Kreisen vertreten wurde und das Problem des
Widerspruchs zwischen Menschenrechtserklärung und kolonialer Unterdrückung
dadurch zu lösen versuchte, dass man den Kolonialismus als zivilisatorische
Tat zum Vorteil der Kolonisierten erklärte. Dies betraf einerseits kulturelle
(Schulbildung) wie auch sozioökonomische Aspekte: ein besseres materielles
Leben usw. Wie
der Auszug aus der genannten Sendung auf Arte zeigt, gehört diese Logik von
gestern noch keineswegs der Vergangenheit an. W. Geiger, 8.8.2006 |
Maori Neuseeland Polynesien Eroberung Besitzrechte Kolonialideologie Fortschrittsideologie Menschenrechte |
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Thema: Europäisch-jüdische Geschichte PC-Bibliothek 3.0 (2004), Bibliographisches Institut & F. A.
Brockhaus AG, Eintrag „Juden. Stellung im Mittelalter“. |
„Ungebliebte Geldverleiher“ versus
„risikofreudige Bankiers“ in der Darstellung mittelalterlicher und
frühneuzeitlicher Geschichte |
Juden Mittelalter Minderheit Vorurteile Stereotypen Pogrome Italiener Lombarden Geldverleih Bankwesen Geldwirtschaft |
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Dass
im Mittelalter (fast) alle Juden Geldverleiher gewesen seien und aufgrund des
kirchlichen Zinsverbots im Umkehrschluss (fast) alle Geldverleiher Juden, ist
eine klassische und in den meisten allgemeinen Darstellungen und Lehrbüchern
auch heute noch verbreitete stereotype Vorstellung von der Stellung der Juden
in der christlichen Gesellschaft des Mittelalters. Ein Klischee, das sich vom
Vorwurf gegenüber den Juden zum Erklärungsmuster für deren Verfolgung
weiterentwickelt aber nichtsdestotrotz seinen Vorurteilscharakter bewahrt hat
– zum Beispiel in der neuesten Ausgabe des Brockhaus: „Da
Juden vom üblichen Berufsfeld des Handwerkers und Gewerbetreibenden
ausgeschlossen waren, waren sie darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt
durch Geldgeschäfte, vor allem durch den Geldverleih gegen Faustpfänder und
Zinsen, zu bestreiten. Die hierdurch bewirkte Verschuldung breiter
Bevölkerungskreise verschärfte die bereits bestehenden Aversionen, die sich
dann von Zeit zu Zeit in furchtbaren Judenverfolgungen (Pogromen) und
-vertreibungen niederschlugen; dabei dürfte sicher sein, dass innerhalb der
Motive, die zu diesen Untaten führten, die materiellen Beweggründe der
Schuldner eine ganz zentrale Rolle gespielt haben.“ |
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Siehe dazu: Philippe Dollinger: Die Hanse, Suttgart
(Kröner) 1976, S.267. |
Das
Zitat verknüpft mehrere Unwahrheiten miteinander: Zum einen suggeriert es
eben, dass nahezu alle Juden Geldverleiher wurden, zum anderen, dass sich
„breite Bevölkerungskreise“ durch die Zinslast bei ihnen verschuldeten und
zum dritten, dass dies eine „zentrale Rolle“ für deren Verfolgung gespielt
habe. Somit konzediert der Text einen realen und nachvollziehbaren Grund für
die Judenpogrome, nämlich die Not der Verschuldung der Christen bei den
Juden, herbeigeführt durch deren Zinspraktiken. Verschuldung bei den Juden – Schuld
der Juden, zumindest als deren Mit-Schuld. Daran ändert auch nichts die
Verurteilung der Pogrome oder die Erklärung der Abdrängung der Juden in die
Nische des für die Christen verbotenen Zinsgeschäfts. Historische
Tatsache ist jedoch, dass das von der katholischen Kirche mehrfach ausgesprochene
Zinsverbot kaum eine reale Wirkung auf die Gesellschaft hatte. Die Strafe der
Verweigerung christlicher Beerdigung nach dem Tode hielt keinen
christlichen Kaufmann vom Geldverleih gegen Zins ab, wenn er darin sein Wohl
und Heil vor dem Tode erkannte, allen voran die Norditaliener, die ausgehend
von den Mailänder Bankiers generell als die
Lombarden bezeichnet wurden. In den Städten legten die Stadträte
offizielle Zinsmargen für Geldgeschäfte fest (meistens um die 5%) und es
gab mehr als eine Methode diese Beschränkung zu umgehen und für
risikoreichere Geschäfte höhere Zinsen zu verlangen, z.B. durch den als
Geschäftsbeteiligung kaschierten Kredit, italienisch commenda genannt. Jüdische Geldverleiher
durften die offizielle Zinsgrenze aufgrund der ihnen auferlegten
Sondersteuern überschreiten, doch entstanden daraus im Allgemeinen weder
gigantische Wucherzinsen noch verschuldete sich die Mehrheit der Bevölkerung
bei ihnen. Parallel zu jüdischen entwickelten italienische Fernhändler und
Kaufleute, eben die Lombarden, im Mittelalter das moderne Geldgeschäft, was
sich noch in unserer Finanzsprache niedergeschlagen hat (z.B. „Girokonto“:
ein Wort mit gleich zwei italienischen Komponenten), zeitweise wurden aus
Kaufleute als der südwestfranzösischen Stadt Cahors
als Kawertschen
in dieser Hinsicht berühmt-berüchtigt. Es
reicht die Einträge „Zins“, „Wucher“ usw. im Lexikon des Mittelalters zu lesen um sich deutlich zu machen,
dass die Juden keinesfalls die einzigen Geldverleiher waren und keineswegs
als einzige den Hass ihrer Schuldner auf sich luden. Z.B. gab es im Bereich
der Hanse im 15. Jh. einen regelrechten Kampf gegen die lombardischen
Banken und den von ihnen eingeführten „Borgkauf“, was sogar zur Schließung
etlicher Bankfilialen in Norddeutschland führte, und das, obwohl oder
vielleicht gerade weil „der Gebrauch des Kredits [...] in der hansischen Welt
seit dem 13. Jh. weit verbreitet war.“ Doch
das Ausmaß der Pogrome gegen die Juden erlangten diese Konflikte nicht, da es
nicht möglich gewesen wäre, die organisierte oder auch nur spontane Ermordung
von Christen von Seiten der Obrigkeit zu tolerieren, wie bei den Pestprogromen 1349/50 gegenüber den Juden geschah. Im
Unterschied zu ihren christlichen Konkurrenten standen die Juden zu diesem
Zeitpunkt rechtlich und kulturell außerhalb der christlichen Gesellschaft,
aus kirchlicher Sicht waren sie mit dem Stigma des Christusmordes gebranntmarkt. |
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Geschichte und Geschehen Oberstufe A 1, Klett-Verlag 1997,
2..Aufl. 2003, S.169, 197. |
So
werden in dem Geschichtsbuch Geschichte
und Geschehen für die Klasse 11 die Juden unter der Überschrift „eine ungebliebte Minderheit“ thematisiert, „weil
Geldgeber unbeliebt sind, wenn es ans Zahlen der Zinsen und Schulden geht.
Vorurteile gegen die als ‚Christusmörder’ bezeichneten Juden verbanden sich
mit der Abneigung gegen die Gläubiger.“ Entsprechend
half der kaiserliche Schutz wenig, „wenn
das Volk und vor allem die Zunfthandwerker, die oft bei den jüdischen
‚Wucherern’ Kredit aufgenommen hatten, modernd und plündern über sie
herfielen, weil sie irgendwelcher grauenhafter Verbrechen, wie
Brunnenvergiftung oder Kindermord, bezichtigt wurden.“ Gewiss,
das religöse und fremdenfeindliche Motiv der Täter
wird hier nicht links liegen gelassen, gleichwohl aber durch den materiellen
Aspekt relativiert; auch verdeutlicht das Buch durchaus differenzierend, dass
viele Juden weiterhin im Kleinhandel tätig blieben. Entscheidend ist jedoch
die Gegenüberstellung zwischen dem Thema Geldverleih
in diesem Abschnitt zu den Juden im Mittelalter und der Entwicklung des
modernen Kreditwesens im Kapitel
über die Renaissance: „Um
bei den weiten Handelswegen lange Zahlungsfristen und Lieferungsverzögerungen
zu vermeiden gingen die Kaufleute zur Vorfinanzierung, d.h. zur Verpfändung
künftiger Einnahmen über. Sie räumten Kredite ein, stellten Schecks aus,
verdrängten die bis dahin übliche Barzahlung und lösten das Geld- vom
Warengeschäft. Neben den wagemutigen italienischen Handelsherren traten
ebenso risikofreudige Bankiers. Sie wickelten ausschließlich
Geldangelegenheiten ab und leiteten bedeutende Geldinstitute. Mit ihren Handelverbindungen
fanden gewinnbringende Geschäftspraktiken und neue Bezeichnungen im Geldwesen
den Weg nach Norden über die Alpen.“ Die
Behandlung dieses Themas im Kapitel über die Renaissance entspricht der
schematischen und falschen Gegenüberstellung zwischen dem „dunklen“,
unentwickelten und stagnierenden Mittelalter und der modernen, schon im Sinne
der Aufklärung „hellen“, als „frühkapitalistisch“ empfundenen Renaissance.
Tatsache ist jedoch, dass der Beginn des italienischen Bankenwesens lange
vor der Renaissance lag, auch vor der italienischen Renaissance, denn bereits
in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts wurde der Florentiner Gulden zur
ersten Leitwährung Europas (daher noch bis zur Einführung des Euro die
Abkürzung fl. für den niederländischen Gulden). Nicht
nur in diesem Lehrbuch sondern auch in den meisten anderen findet sich daher
eine stereotype Gegenüberstellung von der angeblichen Verachtung des
Geldwesens im Mittelalter und der entsprechenden Haltung gegenüber den Juden
als „ungebliebten Geldverleihern“ und der positiven
Rolle der „wagemutigen italienischen Handelsherren“ und „ebenso risikofreudigen
Bankiers“, obwohl beide, Juden wie Lombarden, strukturell dasselbe taten und
somit gleichermaßen zur Entwicklung des Geld- und Kreditwesens beitrugen.
Doch schon die sprachliche Opposition von Geldverleih
zu Kreditwesen, Geldverleihern zu Bankiers, produziert terminologisch bereits eine dis-/qualifzierende Wertung. W. Geiger, 8.8.2006 |
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Thema: Staat und
Gesellschaft |
„Vor 800
Jahren gründete Dschingis Khan die Mongolei.“ Aus der Legende zu einem Foto aus dem
Reisebericht über die Mongolei von Bjørn Eric Sass in der ZEIT Nr.33, 3.8.2006, S.57. |
Dschingis Khan Mongolei Staatstheorie Gesellschaft Franz. Revolution Abbé Sieyes Karl Marx Neoliberalismus |
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Emmanuel Joseph Sieyes, Politische Schriften 1788-1790,
München/Wien (Oldenbourg) 1981, S.251f. |
Auch
die Rubrik Reisen der Zeit kann mit Überraschungen geschichtsphilosophischer
Betrachtung aufwarten, so die aktuelle Ausgabe von Anfang August mit einem
Reisebericht über die Mongolei. Fast banal lautet die Bildlegende zum großen
Auftaktfoto: „Vor 800 Jahren gründete Dschingis Khan die Mongolei. Heute ist
sie das am dünnsten besiedelte Land der Welt.“ Gewiss, Dschingis Khan kann
man als einen Staatsgründer
betrachten, so heißt es auch im Text, wenn auch sein Staat damals nach
heutigen Begriffen kaum den Definitionen eines Staates entsprochen hat und
das Gebiet der heutigen Mongolei nur das Ausgangsgebiet seiner Eroberungen
war, aufgrund deren er in die Geschichte eingegangen ist. Das
Deutsche kennt einen kleinen aber feinen sprachlichen Unterschied zwischen gründen und begründen, so fein, dass er sich in der Substantivierung
vermeintlich aufhebt. „Vor 800 Jahren gründete Dschingis Khan die Mongolei“
erscheint daher wie eine Art Freudscher Versprecher, in dem sich der Geist
der neoliberalen Staats- und Gesellschaftsauffassung outet:
der Staat als Unternehmensgründung. Schon Karl Marx hat diese
Staatsauffassung analysiert, im Rückblick vielleicht sogar mehr die Zukunft
antizipierend als die Realität seiner Zeit beschreibend, so wie er schon
nahezu prophetisch den Prozess der Globalisierung erkannte. Aber immerhin
hatte schon in der ersten Phase der Französischen Revolution einer ihrer
großen Denker, Abbé Sieyes, das Zensuswahlrecht der
Verfassung von 1791 damit begründet, die Steuer zahlenden „Aktivbürger“
seien „diejenigen, die zur öffentlichen Gewalt etwas beitragen, sind
gleichsam die eigentlichen Aktionäre des großen gesellschaftlichen
Unternehmens.“ Wir
erinnern uns aus der Diskussion der letzten Jahre an Begriffe wie
„Deutschland AG“, wenn es um die staatliche Wirtschafts-, Finanz- (und damit
auch Sozial-) Politik ging; an Forderungen von politischen Vertretern des Neoliberalismus
nach Anpassung der staatlichen Politik an betriebswirtschaftliche
Prinzipien; an die Idee vom Staat als Dienstleistungsbetrieb. Gewiss, die
Doppelvalenz des Begriffs „Gesellschaft“ für das geschäftliche wie für das
politische Unternehmen zeigt eben auch, dass diese Parallele von Anfang an
mitgedacht war, doch hatte sie es bislang schwer, in die
politisch-historische Betrachtung Eingang zu finden, dem Staat blieb doch
noch eine Aura des Sakralen, der moralischen, philosophischen Überhöhung,
und eben ein politischerAuftrag, was ihn vor solchen Niederungen bewahrte. Aber
vielleicht wird man in ein paar Jahren sagen: „Vor 1100 Jahren gründete Otto
der Große Deutschland“? Die nächste unausweichliche Konsequenz wäre dann, auf
Abbé Sieyes zurückzukommen und die
staatsbürgerlichen Rechte auf die Steuer zahlenden „Aktivbürger“ zu
beschränken... Beim Wahlrecht wird dies wohl nicht gehen, aber ist sie nicht
bei der Verteilung der staatlichen Gelder heute schon in der Diskussion? Mit Sieyes gesprochen: die „Aktionäre des großen
gesellschaftlichen Unternehmens“ erwarten ihre Dividenden. Durch
sprachliche Abschleifungen wie der hier zitierten, gewiss aus einem banalen
Zusammenhang gerissen, findet auch der bewusst oder unbewusst dahinter
stehende Gedanke leichter durch die Hintertür Eingang in die
historisch-politische Diskussion als wie wenn er polternd am Portal
anklopfte. W. Geiger, 12.8.2006. |
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Thema: Anthropologie /
Geschichtsphilosophie |
„Gesellschaften gehen unter, wenn sie nicht intelligent genug sind.“ Statement eines Wissenschaftlers in einer
Diskussionsrunde über den bisherigen Gang der Weltgeschichte und die
Aussichten des 21. Jahrhundert im französischen Fernsehen, La marche du siècle, am
13.3.1996. |
Anthropologie Vor- und Frühgeschichte Geschichtsphilosophie Sozialdarwinismus |
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Siehe zu dem Thema auch meinWeltbild
und Geschichte, Infos hier: >>Weltbild |
Die
Geschichtsphilosophie war einmal in Deutschland zuhause, in der neuen Sachlichkeit
und dem politischen Pragmatismus der Bundesrepublik hat sie keinen Status in
den Medien mehr bekommen, anders als in Frankreich. Trotz gelegentlicher
Auftritte im Radio hatten die Vertreter der „Frankfurter Schule“ per
Definition auch von sich aus ein gebrochenes Verhältnis zu den Medien, ebenso
wie diese zu ihnen, man erinnert sich denn auch eher an die 1963 mit Dieter
Hildebrandt verfilmte Satire von Heinrich Böll: „Dr. Murkes
gesammeltes Schweigen.“ Ein Hauch des Denkens in großen Entwürfen kam dann
von außerhalb durch die Wiederentdeckung von Marx im Zuge der Politisierung
des Jahrzehnts Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre und später in einem
neuen und anderen Anlauf im Zuge der Ökologiedebatte, sowie noch einmal
anders in einem kurzen nationalen Überschwang über die deutsche Geschichte
durch die Wiedervereinigung. In
Frankreich war und ist es dagegen keine Besonderheit Philosophen, aber auch
Anthropologen und Naturwissenschaftler in eine Fernsehdebatte über den Gang
der Menschheitsgeschichte einzuladen um einen großen Bogen von der Vor- und
Frühgeschichte bzw. der Naturgeschichte zur Zukunft der
Industriegesellschaft zu schlagen. So wurde in der hier zitierten Sendung
eines damals sehr erfolgreichen politischen Magazins ein in seiner
Eindeutigkeit kaum zu überbietendes sozialdarwinistisches Credo postuliert:
„Gesellschaften gehen unter, wenn sie nicht intelligent genug sind.“
Tatsächlich liegt diese Vorstellung der gesamten Vor- und Frühgeschichtsforschung
zugrunde, immer wieder hört man davon, dass die Neandertaler „ausgestorben“
seien, weil sie sich nicht gegenüber dem „moderneren“ Menschen „behaupten“
konnten usw. „Aussterben“ ist freilich ein aus der Biologie gegriffener
Euphemismus für die im sozialdarwinistischen Weltbild vorherrschende Ansicht,
dass sich Menschen grundsätzlich gegenseitig bekämpfen mussten (und
vielleicht noch müssen?), wobei die konkreten Beweise dafür ebenso spärlich
sind wie die Überzeugung davon verfestigt ist. Bis
wann reicht diese Naturgesetzlichkeit in die jüngere Geschichte hinein? Gilt
die These von Thomas Hobbes, dass sich der Mensch von Natur aus zum anderen
Menschen wie ein Wolf verhält? Eigentlich eine schräge Argumentation bei
Hobbes, der die Wolfsnatur nicht kannte, denn die Wölfe bekämpfen sich
untereinander ja gar nicht, sondern ordnen sich dem Leitwolf unter, doch das
genau wollte ja Hobbes mit seiner Rechtfertigung des Absolutismus. Nach
der Erfahrung von Nationalsozialismus und Holocaust mag nun niemand mehr vom
„Aussterben“ von Völkern sprechen, im Bereich der Debatte über die Vielfalt
der Kulturen und ihre Bedrohung durch die Globalisierung taucht dagegen die
Vorstellung von Kulturen, die keine Zukunft mehr haben, durchaus auf, auch
mit Bedauern und entsprechenden Initiativen zu ihrer Konservierung in
Museen, Reservaten und folkloristischen Darbierungen
für den Tourismus, der Prozess ihrer Bedrohung wird freilich trotzdem als
quasi naturgesetzlicher Determinismus verstanden. „Gesellschaften gehen
unter, wenn sie nicht intelligent genug sind“ – dies weist diesen
Gesellschaften auch die Schuld an ihrem eigenen Untergang zu und gibt damit
dem Recht des Stärkeren die höhere wissenschaftliche Weihe, denn der
Umkehrschluss lautet ja: Was sich durchsetzt, ist das Intelligentere, somit
leben wir mit Leibniz gesprochen „in der besten aller möglichen Welten“, was
seinerzeit Voltaire in Candide
so meisterhaft auf die Schippe nahm. Es war in der besagten Fernsehdiskussion
jedoch nicht nur ernst, sondern auch ganz global gemeint mit einem Fingerzeig
auf uns selbst: Passen wir uns dem Gang der Geschichte an, bewähren wir uns
in der weltweiten Konkurrenz... In
der Übertragung des Konkurrenzgedankens auf Geschichte und Politik feiert der
Sozialdarwinismus vergangener Zeiten ein unspektakuläres come-back. W. Geiger, 12.8.2006 |
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Thema:
Okzident-Orient Siehe zu dem Thema auch meinWeltbild
und Geschichte, Infos hier: >>Weltbild |
„Odysseus zog in den türkischen Krieg“ In: Deutschlandfunk, Büchermarkt, 9.1.2007,
16.18 In
der besagten Sendung wurde die Bücherreihe Mythen der Welt, ein internationales Projekt von 35 Verlagen,
vorgestellt. Es handelt sich dabei um Neuerzählungen oder Neubearbeitungen
traditioneller Stoffe aus den Weltkulturen.
Unter anderem wird auch die Bearbeitung der Odyssee durch die
kanadische Schriftstellerin Marget Atwood
besprochen, die die Geschichte aus der Sicht der zuhause gebliebenen Penelope
erzählt. In der Sendung wurde die Autorin in einem Interview zitiert und
dabei „simultan übersetzt“ (die Stimme der Übersetzung überlagerte das
Original); die Übersetzung findet sich jedoch auf der Website des
Deutschlandfunks: "In
der Odyssee kümmert sie vor allem um die drei W: sie weint, sie wartet und
sie webt. Das ist nicht gerade aufregende Lektüre. Aber sie muss eine Menge
anderer Dinge ebenfalls erledigt haben, denn niemand sonst war dafür da.
Odysseus und alle körperlich fitten Männer seines Ranges waren in den
türkischen Krieg gezogen, aus dem niemand außer ihm zurückkehrte. [...]“ „Odysseus war in
den türkischen Krieg gezogen...“! In
diesem Versprecher/Verschreiber, ob von der Schriftstellerin, dem Übersetzer,
dem Autor des Features zu verantworten oder von allen dreien – hier war der
Mythos in Reinkultur am Werk. Hinter der ins Auge springenden Groteske
angesichts der historischen Fakten kommt hierin nämlich durchaus ein tief
sitzendes kollektives Unbewusstes zum Vorschein, nämlich der Mythos vom
europäisch-orientalischen Gegensatz seit Urgedenken, die Generationen von
Historikern bereits auf mehr oder weniger subtile Weise in die Antike
hineinmanipulierten: Athens Kampf für Europa gegen Asien in den Perserkriegen
stand hier zumeist im Vordergrund, doch wundert es nicht, diese
Gegenüberstellung auf den Trojanischen Krieg zurückprojiziert zu sehen.
Übrigens ist es nicht nur absurd, vom türkischen Krieg zu sprechen, sondern
selbst die ethnische Bezeichnung „Griechen / Hellenen“ ist für die archaische
Zeit anachronistisch, weil es die Bezeichnung noch gar nicht gab (Homer
sprach von den Achäern). Natürlich waren und sind dies Rückprojektionen
jüngerer Konfrontationen, nämlich der Türkenkriege seit dem 15. Jahrhundert,
und wenn man will, kann man dies noch weiter zurückverfolgen auf die
Kreuzzüge und die Mythen des Mittelalters vom Kampf gegen die Sarazenen. Hat
der Osten nicht immer schon und immer wieder in wandelbarer Gestalt das
Abendland bedroht? So zog Odysseus eben in den „türkischen Krieg“... W. Geiger, 9.1.2007 |
Europa
und Asien / Troja und Türkei |
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„Gestern die
Juden, heute die Manager“? = Eine Instrumentalisierung des
Antisemitismus zur Entschuldigung der Manager. Die Reaktualisierung
des Vorurteils im Gewande des Anti-Antisemitismus: Hans-Werner Sinn über
Juden und Finanzmanager Siehe auf der Seite „Jüdische
Geschichte“ |
Juden
/ Antisemitismus / Finanzwelt |
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„Nur wenige
aztekische Codices überstanden die Zerstörungswut der Spanier“ So
hieß es in der Sendung Atlantis – Der geheime Code der Azteken am
15.8.2009 auf ARTE über die hinterlassenen
sogenannten Codices der aztekischen Geschichte, zusammen mit der
nachfolgenden Sendung Der Tag X – 30. Juni 1520. Der Untergang der Azteken
ein Musterbeispiel an eurozentrischem kolonialem Geschichtsblick, wenn es
auch einige Aspekte gab, die dies durchbrachen. Der Autor/Redakteur der
Sendung wusste ganz offenbar nichts über die Azteken und die Überlieferung
von deren Geschichte, denn die Azteken selbst hatten gar keine Schrift und
daher auch keine schriftlichen Überlieferungen, obwohl sie dies von den Mayas
hätten übernehmen können. Die berühmten Codices waren Aufzeichnungen aus
späterer Zeit, von Nachkommen der Autochthonen erstellt, die zum Christentum
konvertiert und Priester und Mönche geworden waren. Vom Wunsch nach
Aufzeichnung der Geschichte ihres Volkes beseelt, trugen sie ab ca. 40 Jahre
nach der spanischen die mündliche Überlieferung zusammen, die sie aus dem Mund noch zahlreicher
Augenzeugen hören konnten. Gleichwohl sind dies keine authentischen
aztekischen Überlieferungen, das Christentum und die koloniale Realität haben
zwangsläufig vieles verzerrt, vieles konnte dennoch dank detailreicher
philologisch-ethnologischer Forschung als einigermaßen authentisch
identifiziert werden. Es ist jedoch absolut bezeichnend für die Macht des europäischen
Blicks, dass diese Dokumente als vermeintlich aztekische präsentiert werden. Noch
einen drauf setzte die nachfolgende Sendung, in der aufgrund eines einzigen
Berichtes eines Spaniers im Gefolge von Cortés die
gesamte Palette des Feindbildes ausgebreitet wurde: Die Menschenopfer der
Azteken, wie man den Opfern mit Feuersteinmesser das Herzen herausriss, der
Kannibalismus des Azektenkönigs Montezuma usw.
usf., alles zum Beweis auch zu sehen in aztekischen Überlieferungen… nämlich
den berühmten Codices. Quod erat demonstrandum! Immer
mehr trägt der selbst ernannte Kultursender ARTE dazu bei in der Ära der
globalisierten Welt den Europäern ihre erschütterte Selbstgewissheit
zurückzugeben. 15.8.2009 |
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Weiteres
folgt... |
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