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Historia interculturalis
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Takashi Naraha
Clermont-Ferrand
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Thema:
Unser
Weltbild, unsere Geschichte...
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Last
update:
19.3.2006
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Übersicht
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1. Interkulturelle
Geschichte: Infos, Links... (gleich im
Anschluss)
2. Info zum
Buch :
Wolfgang
Geiger, Geschichte und Weltbild.
Plädoyer für eine interkulturelle Hermeneutik, 2002
3. Hinweis mit einem Abstract auf: Wolfgang
Geiger,„Interkulturelle Geschichte und monokulturelles Weltbild“, in: Handlung Kultur Interpretation,
Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften, 2/2005.
4. Beantwortung der Frage:
Die Zukunft von der Vergangenheit befreien?
Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?
Beitrag zu einem Essay-Wettbewerb von Wolfgang Geiger
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>>Info Buch
>>Abstract Artikel
>>Essay
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>>Gesamtübersicht
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1.
Interkulturelle Geschichte: Infos, Links...
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im Aufbau...
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An dieser Stelle sollen zukünftig grundlegende Informationen a)
zur Realität der interkulturellen
Geschichte Europas seit dem Altertum sowie b) zu einer entsprechenden
geschichtswissenschaftlichen und geschichtsdidaktischen Konzeption zusammengefasst und durch
bibliografische Hinweise sowie entsprechende Links zu Webseiten ergänzt
werden.
Für einzelne Themenbereiche gilt weiterhin die allgemeine
Übersicht von historia interculturalis.
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2. / Info zum Buch :
Wolfgang Geiger, Geschichte und Weltbild. Plädoyer für eine interkulturelle
Hermeneutik, Frankfurt a.M. (Humanities Online) 2002.
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>>Humanities Online
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Erhältlich als Print-Ausgabe sowie
als Download (pdf-Datei).
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>>Kontakt W.Geiger
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Kurzpräsentation:
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Die Untersuchung ist dem Zusammenhang zwischen Geschichte und
Weltbild gewidmet und versteht sich als Plädoyer für eine interkulturelle
Hermeneutik dahingehend, daß das eurozentrische
Welt- und Geschichtsbild durchforstet wird im Hinblick auf die Dialektik
zwischen Eigenem und Fremdem, die Darstellung bzw. Ausblendung des Fremden,
des Anderen, all des nicht in unsere spezifische Logik von Geschichte und
Entwicklung Hineinpassenden, und zwar in einigen Kapiteln grundsätzlicher
theoretischer und epistemologischer Erörterung sowie in anderen, die sich mit
Fallbeispielen befassen.
Die Frage nach der interkulturellen Hermeneutik soll nicht zuletzt auch
deswegen im Zusammenhang von Geschichte und Weltbild untersucht werden, weil
die hermeneutische Methode selbst zunächst am historisch Fremden, das heißt
zeitlich Fernen, ansetzte und gerade diese Dimension in der Diskussion um die
Interkulturalität bislang zu wenig beachtet wurde, während wiederum die
Geschichtswissenschaft dieses Thema erst seit kurzem für sich zu entdecken
beginnt. Last but not
least möchte die vorliegende Untersuchung daher auch ganz konkret auf Fragen
der Vermittlung interkultureller Geschichte in der Schule antworten, was
explizit in einem Exkurs zur Sprache kommt.
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Inhalt:
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Vorwort 9
I. Interkulturelle Hermeneutik:
Ein Problemaufriß 15
1. Ausgangspunkt: Globalisierung, Fremdheit,
Verständigung 15
2. »Künstliche Dummheit«: Zum Ursprung der modernen
Hermeneutik 35
3. Interkulturelle Hermeneutik und Ethnologie 54
4. Das Eigene und das Fremde aus philosophischer und historischer
Perspektive 65
5. »Sprechen mit gespaltener Zunge«: Zum Problem von Verstehen und
Verständnis zwischen Hermeneutik, Kommunikation und Ethik 99
II. Historische Methode, Universalgeschichte und
monozentrisches Geschichtsbild 111
1. »Allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher
Absicht« 111
2. Überlieferung und selektives Wissen(-Wollen) oder: Woher kommen
wir? 129
2.1. Schrift und Sinn 129
2.2. Die (Re-)Konstruktion der griechischen Antike 144
2.3. Das Konstrukt der abendländischen Tradition 157
2.4. Konstruktionen der menschlichen Vor- und
Frühgeschichte 171
3. Diffusionismus und zentrisches
Geschichtsbild 183
3.1. Diffusionismus I: Kulturverbreitung
durch Migration 183
3.2. Diffusionismus II: Kulturelle
Ausstrahlung, »Chronologik« und monozentrisches
Geschichtsbild der Moderne 199
III. Zur Hermeneutik der Entdeckungsreisen:
Drei Fallstudien zu Weltbild, Fatalität und Zufall 209
Einleitung 209
1. Logik des Zentrums, Logistik der Peripherie: Der Beitrag der
deutschen Kartographie zur Abbildung der Welt im 15. und 16.
Jahrhundert 212
2. Die Suche nach dem Paradies im Westen: Eine
geistesgeschichtliche Prämisse der Kolumbusreise 231
3. Warum die Welt nicht chinesisch wurde … Die chinesischen
See-Expeditionen nach Westen im 15. Jahrhundert 263
IV. Philosophie, Wissenschaft und Weltbild der Moderne 277
1. Die Mystifizierung der Vernunft 277
1.1. Einleitung 277
1.2. Wissen und Glauben 283
1.3. Freiheit und Bestimmung 294
2. Szientismus und Rassismus gestern und
heute 297
2.1. Einleitung 297
2.2. Ernest Renan und der Ursprung des
»modernen« Rassismus 307
2.3. Determinismus und Darwinismus heute 333
V. Zum Schluß: »Aus der (eigenen)
Geschichte lernen« –
auch zum Thema Interkulturalität 349
Literatur 368
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Vorwort:
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Hermeneutik ist
die Kunst zu verstehen, was ein anderer meint, wenn er etwas sagt oder
schreibt oder tut. Interkulturelle Hermeneutik bedeutet, nicht nur das ganz
Andere, sondern auch das ganz Eigene verstehen zu wollen: das
eine, weil es vermeintlich unverständlich, das andere, weil es vermeintlich
selbstverständlich ist. Denn beide vermeintlichen Gewißheiten
bestätigen sich wechselseitig und konstituieren somit den dialektischen
Teufelskreis mangelnder Verständigung durch mangelndes Verständnis, den kein
hermeneutischer Zirkel im klassischen Sinne, sondern nur eine hermeneutische
Horizontüberschreitung aufzulösen vermag.
Daß es sich dabei um keine
realitätsferne (pseudo-)philosophische Thematik handelt, zeigt die
Herausforderung der Weltpolitik, für die das Datum des 11. September 2001
steht. Angesichts einer augenscheinlichen Bestätigung der Prophezeiung Samuel
Huntingtons vom »Kampf der Kulturen« mutet heute der Ruf nach einem »Dialog
der Kulturen« wie ein schwaches Alibi des Gewissens an. Als ein weitaus
stärkeres Alibi gegen das eigene Gewissen – nämlich wider besseren
Wissens – erscheinen demgegenüber apodiktische Thesen wie jene: Dieser
Terrorismus habe nichts mit dem Islam zu tun, ja, dies habe »nichts, aber
auch gar nichts mit Religion zu tun.« Wer mit der gewiß löblichen Absicht, keine Feindbilder aufzubauen
oder zu bestätigen, das Problem so dekontextualisiert
weil dekulturalisiert, wie es analog auch in der
Abwehr der Huntingtonschen These zum Ausdruck kam, entledigt sich bequem der
Frage nach dem Warum. Was die Attentäter und ihre Auftraggeber
motivierte und ihnen auch Sympathie in gewissen Bevölkerungskreisen sichert,
hat nämlich sehr wohl etwas mit Religion zu tun. Religion äußert sich immer
auch in ihren extremen und fanatischen Varianten: Kreuzzüge, Glaubenskriege, Djihad, Inquisition und Scharia
gehören ebenso dazu, und selbst dann, wenn sie quantitativ nur marginale
Erscheinungen gegenüber der Mehrheit der Ökumene oder umma,
der Gemeinschaft aller Gläubigen, sind. Religionen und ihre Interpretationen
sind kulturelle Phänomene, die man als solche analysieren muß, wenn man ihre extremen Ausprägungen verstehen will.
Einst waren die Kreuzzüge natürlich ebenfalls ein religiöses Phänomen, wenn
auch nicht nur, aber selbst dann übrigens, wenn sie kein vom Papst direkt in
Auftrag gegebenes Unternehmen gewesen wären und wir darin gewiß
keinen Ausdruck christlicher Werte zu erkennen vermögen.
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Zu einer
adäquaten kontextuellen Analyse solcher Phänomene gehört jedoch nicht nur die
Berücksichtigung des intra kulturellen Kontextes (also im
aktuellen Fall des islamischen), sondern natürlich auch des interkulturellen
Kontextes, in den solche Konflikte eingebettet sind. Folglich geht es dabei
auch um eine Selbstanalyse des westlichen Anteils dieses global play. Deswegen ist interkulturelle Hermeneutik in
Krisenzeiten mehr denn je eine dringliche Herausforderung an Wissenschaft,
Bildung und Politik. Dabei ist zunächst eine enorme Kluft zwischen der
Verwendung der Begrifflichkeit und der Anwendung ihres Inhalts festzustellen.
In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ist das Adjektiv »interkulturell«
schon zum Modewort verkommen, es unterliegt in den meisten geistes- und kulturwissenschaftlichen
Disziplinen einem geradezu inflationären Gebrauch und einer entsprechenden
semantischen Abnutzung: interkulturelles Lernen, interkulturelle
Kommunikation, interkulturelle Theologie… – alles, was sich nicht nur mit dem
Anderen, dem Fremden, sondern überhaupt mit Kultur befaßt,
wird tendenziell »interkulturell«. Darin zeigt sich zunächst das positive
Resultat eines Prozesses der Bewußtwerdung und
Berücksichtigung kultureller Unterschiede, der in den späten siebziger Jahren
in einer Nische der geisteswissenschaftlichen Disziplinen begann, dann im
Laufe der achtziger Jahre einen interdisziplinären Impetus bekam und parallel
zur politischen Debatte um die multikulturelle Gesellschaft seine derzeitige Omnipräsenz errungen hat. Heutzutage betont der Verweis
auf kulturelle Identitäten und Prozesse interkultureller Begegnung – worunter
gegenseitige Abgrenzung wie auch Beeinflussung zu verstehen sind – geradezu
gegenläufig zur allseits postulierten Globalisierung die Unterschiede in
einer Welt, die zwar immer enger zusammenrückt, sich aber um so fremder
erscheint, wie sie sich näher kommt, denn geographische ist nicht kulturelle
Nähe. Das geographische, kommunikative, verkehrstechnische Zusammenrücken
bringt nicht unbedingt nur sich Angleichendes zueinander, sondern rückt auch
das sich fremd Bleibende näher. In diesem Schauspiel der Dialektik der
Globalisierung – analog zur von Horkheimer und
Adorno analysierten Dialektik der Aufklärung – spielt daher hierzulande auch
das wiederkehrende Gespenst von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und
Neonazismus eine entscheidende Rolle, so wie auf der anderen Seite der
parallele Prozeß von religiös-kulturell begründeten
Fundamentalismen.
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(Kultur-)anthropologisch
gesehen, ist zunächst einmal die Auseinandersetzung mit dem Anderen – dem
Nicht-Ich –, das erstmalig ja immer als Fremdes auftritt, nichts
Außergewöhnliches, sondern schlicht die Grundlage jeglichen Lernprozesses.
Lernen heißt stets, etwas Neues, also Fremdes, kennenzulernen. Lernen ist
also per se eine permanente Horizonterweiterung und damit kontinuierlich
vollzogene Horizontüberschreitung, doch handelt es sich zunächst um die
Erweiterung eines individuellen Horizonts hin zu einem kollektiven Horizont
innerhalb eines kulturellen Bezugssystems. Anders als für frühere
Generationen gibt es jedoch seit der Globalisierung der Information durch die
Massenmedien, vor allem durch die Bildmedien, kaum noch wirklich »Fremdes« im
Sinne von Unbekanntes. Von allem, was uns an kulturell Fremdem begegnet,
haben wir schon irgendein Vorwissen und ihm gegenüber oft ein Vorurteil, das
nicht wie früher auf Unwissen, sondern auf Halbwissen beruht. Das Fremde
ist für uns längst zum allgegenwärtigen Anderen geworden, das uns herausfordert,
nicht weil es fremd im Sinne von unbekannt wäre, sondern weil
es (mehr oder weniger) bekannt, aber anders ist. Das Unverständliche
an ihm bleibt dann durch die Differenz zwischen Verstehen-Wollen
und Verstehen-Können bestehen. Es gibt daher auch
keine unvoreingenommene Erstbegegnung mehr, jedes Urteil muß erst Vorurteile ausräumen.
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1 Cf. Pierre-André Taguieff, La force du préjugé. Essai sur le racisme et
ses doubles, Paris: La Découverte, 1987, Gallimard
(coll. »tel«), 1990.
2 Cf. Victor Segalen, China
– Die große Statue,
Frankfurt a.M.: Campus (Ed. Qumran), 1984. [Chine, La grande statuaire, Paris: Gallimard, 1972. – Verfaßt 1917–19].
3 Assimilation mehr als Anspruch denn
als Resultat verstanden; hundertprozentige Assimilation ist ohnehin
praktisch unmöglich.
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Am Beispiel der
zahlreichen Varianten von Xenophobie wird deutlich,
wie komplex die interkulturelle Thematik ist. Ganz unterschiedliche, ja sogar
vermeintlich gegensätzliche Haltungen gegenüber dem Fremden sind oft paradoxerweise
auf gleiche Motive zurückführbar und vermeintlich gleiche Haltungen auf
gegensätzliche Motive, während gegensätzlich gemeinte Haltungen gegenüber dem
Fremden, wie Ausgrenzung oder Integration durch Assimilation, wiederum
identische Abwehrreaktionen hervorrufen können. Daraus hat André Taguieff seine Taxonomie der
rassistischen Haltungen (1) entwickelt: Es gibt einen xenophoben
und einen xenophilen, einen mixophoben
und einen mixophilen Rassismus, diese Haltungen
können aber auch Resultat einer subjektiv antirassistischen Einstellung sein.
Victor Segalen zum Beispiel, ein französischer Arzt
und außergewöhlicher Exotismus-Schriftsteller
(gestorben 1919), war xenophil, aber mixophob, seine Liebe zum Fremden wollte das Fremde vor
jedem äußeren Einfluß, vor jeder Entfremdung,
bewahrt sehen, deswegen denunzierte Segalen in
jeder kulturellen Beeinflussung schon eine Verfremdung des Autochthonen. Das
ging so weit, daß für ihn das Vordringen des
Buddhismus nach China bereits eine Degeneration des originären chinesischen
Genies in Geist und Kultur mit sich brachte.(2) Hier wird deutlich, wie eng
die Gegensätze – Rassismus und Antirassismus (im weitesten politischen Sinne
verstanden) – beieinander liegen, denn auch der xenophobe
Rassist wird auf der Trennung der Kulturen bestehen. So gibt es auch eine mixophobe und eine mixophile Xenophobie: Beide stört die Präsenz des Fremden, die
erste Haltung will es ausgrenzen, ghettoisieren,
Vermischung verhindern, die andere durch assimilatorische Integration (3) als
Fremdkörper auflösen; beide gehen dabei Kompromisse ein: die erste darin, daß das Fremde nicht wirklich verschwindet, letztere
darin, daß durch die Assimilation des Fremden auch
ein Stück des Eigenen verloren geht.
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Ähnlich ist es mit
der Hermeneutik, deren Spannungsfeld zwischen der Assimilierung des Fremden
durch Rückführung auf Bekanntes und der Verfremdung des Fremden zum »ganz
Anderen« schwankt. Kann das Fremde jedoch per definitionem nie ganz
durch das Raster des jeweils Eigenen erklärt werden – sonst gäbe es letztlich
ja keine Fremdheit –, so ist auf der wissenschaftlichen Meta-Ebene der
Analyse dieses Verhältnisses die Wahrnehmung des Fremden nicht zu verstehen
ohne die Analyse des jeweiligen eigenkulturellen Vorverständnisses und des
Weltbildes, das aus dem Selbstverständnis in Konfrontation mit der
Begrenztheit des Selbst, also der Konfrontation mit der Welt, dem Fremden,
dem Nicht-Ich entsteht. Die Voraussetzung des eurozentrischen Weltbildes wie
auch jeder anderen ethnozentrischen Sicht beruht
auf der Wir/Ihr-Dichotomie, die auch durch eine
moralisch begründete Verurteilung von radikalen Ansichten und
Verhaltensweisen (Gewalt) gegenüber dem Fremden nicht automatisch aufgehoben
wird; denn ihre Voraussetzung beruht auf Grundlagen unseres allgemeinen
Weltbildes, das sich entschieden als ein historisches definiert, aber bislang
von keiner »offiziellen« Historiographie als ganzes, sondern allenfalls nur
partiell hinterfragt wurde. Doch alle Kulturen und Geschichten dieser Welt sind
längst zu einer Universalgeschichte zusammengefaßt,
haben ihren Platz in unserem universellen Welt- und Geschichtsbild.
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Im Kern geht es
dabei um die Vorstellung von einer »eigenen« Geschichte (die europäische Geschichte),
wonach allein aus einer inneren Dynamik heraus die der eigenen Kultur
innewohnenden Anlagen zur Entfaltung gebracht worden seien, gleichsam als
unsere und nur unsere alleinige »Leistung«. Dies ordnet sich in ein
universalgeschichtliches Weltbild ein, das nicht nur im engeren Sinne ethnozentrisch, sondern weit darüber hinaus durch eine monozentrische
Geschichtsauffassung mit universalhistorischem Anspruch geprägt ist. Es
wird im folgenden zu zeigen sein, daß unsere eigene
Geschichte jedoch nicht unsere »eigene« Geschichte in dem Sinne ist, daß sie nur uns gehöre, nur von uns für uns »gemacht«
worden sei, daß sie sich nur aus sich selbst
heraus, also endogen oder intrakulturell,
entwickelt hätte. Vielmehr ist die abendländische oder europäische
Geschichte von Anfang an und bis heute eine interkulturelle
Geschichte, das heißt, sie ist ohne den exogenen Beitrag durch ständigen
Kontakt mit anderen Kulturen gar nicht zu denken – und dies im Positiven wie
im Negativen: durch gegenseitigen Austausch wie durch gegenseitige
Abgrenzung. Ein wichtiger Aspekt der vorliegenden Untersuchung besteht darin
zu zeigen, daß, wo scheinbar Abgrenzung herrschte,
in Wirklichkeit Austausch stattfand. Der Ansatzpunkt ist daher nicht primär
die Suche nach dem Fremden im allgemeinen Sinne, also all dem, was uns als
Fremdes gegenübertritt, sondern die kritische Überprüfung dessen, was uns
vertraut erscheint.
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Die vorliegende
Untersuchung ist somit dem Zusammenhang zwischen Geschichte und Weltbild
gewidmet und versteht sich als Plädoyer für eine interkulturelle
Hermeneutik dahingehend, daß dieses etablierte
Welt- und Geschichtsbild durchforstet wird im Hinblick auf die Dialektik
zwischen Eigenem und Fremdem, die Darstellung bzw. Ausblendung des Fremden,
des Anderen, all des nicht in unsere spezifische Logik von Geschichte und
Entwicklung Hineinpassenden, und zwar in einigen Kapiteln grundsätzlicher
theoretischer und epistemologischer Erörterung sowie in anderen, die sich mit
Fallbeispielen befassen. Die Frage nach der interkulturellen Hermeneutik soll
nicht zuletzt auch deswegen im Zusammenhang von Geschichte und Weltbild
untersucht werden, weil die hermeneutische Methode selbst zunächst am
historisch Fremden, das heißt zeitlich Fernen, ansetzte und gerade diese
Dimension in der Diskussion um die Interkulturalität bislang zu wenig
beachtet wurde, während wiederum die Geschichtswissenschaft dieses Thema erst
seit kurzem für sich zu entdecken beginnt. Last but
not least möchte die vorliegende Untersuchung
daher auch ganz konkret auf Fragen der Vermittlung interkultureller
Geschichte in der Schule antworten, was explizit in einem Exkurs zur Sprache
kommt.
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3. / Hinweis mit einem Abstract auf:
Wolfgang Geiger,„Interkulturelle
Geschichte und monokulturelles Weltbild“, in: Handlung Kultur Interpretation, Zeitschrift für Sozial- und
Kulturwissenschaften, 2/2005, S.319-342.
Die Zeitschrift wird von Mitgliedern des Instituts für
Psychologie der Universität Hannover herausgegeben und verfolgt eine
interdisziplinäre kulturwissenschaftliche Zielsetzung, sie erscheint bei Humanities Online, dort findet sich eine
ausführlichere Präsentation mit Inhaltsangabe des gesamten Hefts.
In meinem Beitrag greife ich zentrale Aspekte meines
Buches Weltbild und Geschichte (s.o.) auf
und führe den Ansatz der These von der interkulturellen
Geschichte weiter, die einen Anspruch nicht nur auf Erweiterung unseres Geschichtsbildes
im Hinblick auf andere Kulturen darstellt, sondern vielmehr auf Erweiterung
unseres Blickes auf die eigene Geschichte, da diese selbst zu allen Zeiten
von der Antike übers Mittelalter bis heute nicht nur durch interkulturelle
Konfrontation, sondern auch und viel mehr durch interkulturellen Austausch
bestimmt war. „Unsere Geschichte“ in Europa ist nicht nur unsere „eigene
Geschichte“, die moderne europäische Wissenschaft sowie die Eroberung der
Welt durch die Europäer wären ohne diesen Austausch mit der nah- und
fernöstlichen Welt gar nicht möglich gewesen. Dieser Anspruch auf Anerkennung
interkultureller Geschichte als historischem Faktum stellt ein tradiertes monokulturelles Weltbild in Frage, das
sich in vielfältigen nicht nur populären sondern auch wissenschaftlichen
Stereotypen zur Legitimation einer eurozentrisch geprägten Vorstellung
universeller Geschichte etabliert hat.
In dem Artikel wird dies an den zentralen identifikatorischen Schnittstellen europäische Geschichte
aufgegriffen: am Mythos vom „dunklen Mittelalter“, dem die Realität des Wissenschaftsaustausches mit dem
Islam und dessen Vermittlung antiken aber auch orientalischen Wissens als
Vorbereitung von Renaissance und Moderne gegenüber gestellt wird, sowie am
Mythos des Ursprungs dieser Wissenschaft in der griechischen Antike und dem
damit postulierten Traditionssprung zur Renaissance, dem der interkulturelle
Kontext der Antike, d.h. der Austausch mit den orientalischen Wissenschaften,
entgegengehalten wird. Eingeleitet werden diese Analysen mit der Widerlegung
der These vom (Früh-)Kapitalismus als Voraussetzung des Kolonialismus durch
den Nachweis des umgekehrten Kausalverhältnisses: erst der Kolonialismus
ermöglichte die Entstehung des industriellen und damit eigentlichen Kapitalismus.
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© W.
Geiger 2004
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4. / Beantwortung der Frage:
Die Zukunft von der Vergangenheit
befreien?
Die Vergangenheit von der Zukunft
befreien?
von Wolfgang Geiger
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Einleitung
I. Die Zukunft der Vergangenheit
II. Die Vergangenheit der Zukunft
III. Fatalität
und Individualität in der Geschichtsschreibung und im »kollektiven
Gedächtnis« heute
IV. Was daraus
folgt…
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Der nachfolgende Text entstand 1999 als
Beitrag zum Essay-Wettbewerb der Zeitschrift
Lettre international und der Intitiative Weimar
1999, der nicht reüssierte. Ich nahm später die meisten Gedanken daraus
in mein Buch Geschichte und Weltbild
auf.
In
dem Text geht es um die Frage, ob Geschichte einen „Sinn“ hat, das heißt einem bestimmten Sinn folgt, und welchen Sinn die Beschäftigung mit Geschichte
hat. Es geht also um die Frage nach Fatalität und Zufall in der Geschichte,
um die Analyse unseres heutigen Geschichts- und Weltbildes im Rückblick auf
seine Entstehung und Entwicklung.
Dem Stil des Essays gemäß wurden Fußnoten
auf das absolut Notwendige beschränkt. Der Text wurde leicht überarbeitet,
die damalige Rechtschreibung unverändert beibehalten.
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Alles lehrt, indem sie älter wird,
die Zeit.
Der gefesselte Prometheus
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Einleitung
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Die moderne Forschung bemüht sich gegenwärtig um den
Nachweis dessen, was die Altvorderen auf ihre Weise schon seit langem wußten: daß Bewußtsein
durch Erinnerung entsteht. Erst mit der Fähigkeit, den Horizont des Hier und
Jetzt zu überwinden, beginnt die Scheidung von Sein und Bewußtsein.
Doch was der Menschheit mit ihrer ersten Erinnerung bewußt
wurde, und was die Erinnerung an die Erinnerung in den verschiedenen
Kulturen auf die eine oder andere Weise festgehalten hat, wird für den
modernen Menschen erst zur Gewißheit, wenn er es
bewiesen hat, das heißt, wenn der unfaßliche
psychische Vorgang physisch greifbar wird, wenn bestimmte materielle
Träger immateriellen Wissens, seit Richard Dawkins
Meme
genannt, gleichsam dingfest gemacht werden. Als liege in den Memen erst die Gewißheit der Mnemosyne: Am Anfang war Erinnerung. Doch statt der Kulturwissenschaft
naturwissenschaftlich zur Seite zu stehen, zielt diese Forschung – oder
jedenfalls eine bestimmte und bestimmende Tendenz –, darauf ab, das Phänomen
Kultur auf soziobiologische Determinanten zu
reduzieren und damit ad absurdum zu führen, als sei Bewußtsein
sozusagen nur eine Halluzination der Materie.
Mit der
Erinnerung entsteht jedoch nicht nur das Bewußtsein
von Vergangenheit, sondern auch das von Zukunft, und damit auch die Frage
nach dem Sinn unserer Existenz. Die Gegenwart, im unbewußten
Dasein zeit- und ortlos, schrumpft durch das
Gedächtnis zur Flüchtigkeit des Augenblicks, den man nicht festhalten
kann; dies zu wollen – Verweile doch,
du bist so schön! – gleicht einem Pakt mit dem Teufel, wenn man im
Fortschritt der Geschichte ihren Sinn erkennt. Als Francis Fukuyama 1989 das Stichwort vom »Ende der Geschichte«
lancierte, angesichts der historischen Revision der Revolution, die 1917
eine Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft in Aussicht gestellt
hatte, rief er bezeichnenderweise gerade bei jenen Zeitgenossen Widerspruch
hervor, auf deren Zuspruch er eigentlich gesetzt hatte. Denn die
historische Verirrung jener Utopie, die eine andere Zukunft als diejenige
versprach, die aus der schieren Fortsetzung der Gegenwart entstünde, vermag
uns gleichwohl nicht so einfach mit der Vorstellung zu versöhnen, daß deswegen die gegenwärtige die beste aller möglichen
Welten sei. Auch wenn man jetzt wieder mit Hegel das 1789 eingeläutete
Zeitalter als »das letzte Stadium der Geschichte« begreift, so liegt doch
auch der Geschichtsvision dieses Zeitalters eine Teleologie zugrunde,
die über das Vorhandene hinausweist und uns die Vorstellung, alles
bleibe im Prinzip so, wie es ist, und sei folglich nicht beeinflußbar,
geradezu unerträglich macht, solange wir Menschen sind, die Geschichte
nicht nur erleiden, sondern auch machen wollen. So fällt es uns schwer,
wie Karl Löwith in Weltgeschichte und Heilsgeschehen schrieb, die Zukunft nicht in
Kategorien von »Erwartung und Hoffnung« zu denken, was natürlich bedeutet:
Erwartung und Hoffnung auf etwas anderes, als was ist. Und weil wir diese
Erwartung und Hoffnung haben, schauen wir auch zurück, denn wir sind trotz
aller Desillusionierungen des zuendegehenden Jahrhunderts
im Grunde immer noch jene »historischen Menschen«, die einem »okzidentalischen Vorurteil«, gar einem »verzehrenden historischen Fieber« verfallen
sind, wie Nietzsche in Vom Nutzen und
Nachteil der Historie für das Leben kritisierte: »Der Blick in die
Vergangenheit drängt sie zur Zukunft hin, feuert ihren Mut an, es noch
länger mit dem Leben aufzunehmen, entzündet die Hoffnung, daß
das Rechte noch komme, daß das Glück hinter dem
Berge sitze, auf den sie zuschreiten.« Doch auch die Utopie der Gesellschaft,
die sich als die siegreiche erwies, scheint uneinlösbar zu bleiben: Wir glauben
nicht mehr naiv, daß das Fortschreiten der
Geschichte zwangsläufig einen Fortschritt zur Vernunft darstellt, denn
Freiheit ist wohl eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung
für Vernunft. Nicht die Vollendung gesellschaftlicher Entwicklung zur
Freiheit, sondern die Gefahr, die wir in ihrem freien Lauf erkennen,
bringt uns allenfalls dazu, Geschichte anhalten zu wollen. Moratorien zu
bestimmten Forschungen und Verzicht auf Anwendung des technisch Möglichen
sind Versuche, unwünschbare Entwicklungen aufzuhalten; Versuche, deren
Grad an Zaghaftigkeit mit dem unserer Skepsis über den Stellenwert von
Moral in der heutigen Welt konkurriert. Und so ist am Ende des 2. Jahrtausends
christlicher Zeitrechnung die Geschichte keineswegs am Ende, denn die Zukunft
erscheint ungewisser als je zuvor. Es war und ist wohl solche Ungewißheit oder – in Begriffen von Lukács und Fromm –
jene »transzendentale Heimatlosigkeit« unseres säkularisierten Weltbildes,
die uns seit mehr als zwei Jahrhunderten aus »Furcht vor der Freiheit« in
neue Determinismen flüchten läßt. Die gestellte
Doppelfrage »Die Zukunft von der Vergangenheit
befreien? Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?«
setzt zu Recht die Idee einer wechselseitigen »Gefangenschaft« zwischen
Vergangenheit und Zukunft voraus, zumindest in unserem Geschichtsverständnis.
Im folgenden soll dies im historischen Rückblick vor
aktuellem Hintergrund beleuchtet werden; die sich daraus ergebenden
Konsequenzen beantworten die Frage.
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I. Die Zukunft der
Vergangenheit
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[1] Johann Gustav Droysen: Texte zur Geschichtstheorie, herausgegeben
von Günter Birtsch und Jörn Rüsen,
Göttingen 1972. [Verf. 1857]
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Entsteht individuelles Bewußtsein
durch Erinnerung, so schafft gesammelte Erinnerung kollektives Bewußtsein durch Überlieferung. In den Traditionen mündlicher
Überlieferung wird die Erinnerung von Mensch zu Mensch weitergegeben, und
wenn sich auch die Details von Erzählungen im Laufe der Generationen
verändern, so bleibt doch meistens der Sinn erhalten, denn die »Moral von
der Geschicht’« ist die Botschaft, um die es geht.
Mit der Erfindung der Schrift wird jedoch die mündliche Überlieferung
suspekt, nämlich zum Mythos, was ursprünglich
»Erzählung« heißt und seine heutige Bedeutung durch die Gegenüberstellung zum
Logos erhält, ursprünglich die
»Sammlung«, dann der »Sinn«. Das »Gesammelte«, nämlich das schriftlich
Fixierte, wird »Sinn« und damit Autorität für die Nachwelt durch die
Illusion, es sei die Wahrheit selbst: »Der Geist des Verfassers und der Geist
der Handlungen, von denen er erzählt, ist einer und derselbe«, erklärte zum
Beispiel Hegel in der Einleitung zu seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, »die Geschichtsschreiber
binden zusammen, was flüchtig vorüberrauscht, und legen es im Tempel der Mnemosyne nieder, zur Unsterblichkeit.« Die Revolution
zur Schriftkultur rief jedoch von Anfang an auch Skepsis hinsichtlich ihrer
(un-)absehbaren Konsequenzen hervor: In der berühmten Passage in Platons Phaidros hält
der ägyptische König Thamus dem Gott der Buchstaben,
Thoth, vor, daß die Menschen
nunmehr ihre eigene Fähigkeit zur Er-innerung an
die Schrift ver-äußert haben. Mit der Schrift
werden jedoch Unmittelbarkeit und Einheit der Überlieferung gebrochen,
Wort und Sinn, weil Erzählung und Interpretation, getrennt, und mit der
Distanz zu den Texten wächst das Problem ihres Verstehens.
So entsteht denn die Wissenschaft vom Verstehen der Texte gleichsam aus
einer zweiten babylonischen Sprachverwirrung heraus, von der die Auseinandersetzungen
um die richtige Interpretation der heiligen Schriften in vielen Religionen,
namentlich den monotheistischen, bis zum heutigen Tage eine regelrechte
Blutspur in der Geschichte hinterlassen haben.
Der Umgang mit der Vergangenheit gibt daher überall und
zu allen Zeiten ein beredtes Zeugnis vom jeweiligen Selbstverständnis der
Gegenwart. In den Upanishaden heißt es, daß selbst die Götter vom Himmel fallen, wenn ihre Erinnerung
versagt und sich ihr Gedächtnis verwirrt. Die erste Aufgabe der Kulturträger
war und ist somit, die Erinnerung wachzuhalten,
um aus ihr schöpfend auf die ewigen Fragen zu antworten, mit denen später
Paul Gauguin sein wichtigstes Gemälde überschrieb: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Die Beantwortung
dieser unauflöslichen Fragen-Trinität zu vergessen, bedeutet für den
Menschen nichts anderes, als das erwähnte Schicksal der Götter zu erleiden.
Die Vergangenheit wurde und wird daher nie um ihrer selbst willen erforscht.
Auch wenn die historische Forschung im Zuge ihrer Spezialisierung auf immer
kleinere Details heute nur noch selten explizit grundsätzliche Fragen
stellt, geschweige denn beantwortet, so beruht unser Interesse an der
Vergangenheit doch nach wie vor auf dem Wunsch, aus der Geschichte Lehren
für die Gegenwart zu ziehen und folglich die Vergangenheit um der Zukunft
willen zu erforschen. Die Tatsache, daß gerade in
den letzten Jahren, und besonders in Deutschland, der Historie wieder der
Wunsch nach Sinnstiftung angetragen wird, unterstreicht dies nur. Eine andere
Frage ist, ob sie sich dieser Wertschätzung würdig erweist.
Historia magistra
vitae bedeutete
ursprünglich das historische Beispiel als Anschauung zur moralischen Belehrung;
nicht den historischen Ort einer untergegangenen Zivilisation namens
Atlantis wollte Platon darstellen, sondern an diesem Beispiel zeigen, wie
eine Zivilisation auf dem Höhepunkt der Macht, von den Göttern für ihre
Hybris bestraft, untergehen kann. Selbst die Frage, ob Atlantis wirklich
existiert hat, spielt in diesem Gleichnis gar keine Rolle; daß sich spätere Zeitalter vordringlich mit der
geographischen und historischen Lokalisierung von Atlantis befaßt haben, ist ein Paradebeispiel für das oben
erwähnte Problem schriftlicher Tradition: Was schriftlich fixiert ist, wird
für historisch »bare Münze« genommen.
Da in der Antike der Ausgleich zwischen Hybris und
Nemesis als Grundgesetz einer zyklisch ablaufenden Geschichte galt, hatte
jedes historische Beispiel zeitlose Bedeutung. Geschichtsschreibung in einem
systematischen Sinne diente dazu, wie Herodot darlegt, »die menschlichen
Geschehnisse im Laufe der Zeit nicht in Vergessenheit versinken sowie
bedeutende und bewundernswerte Taten [...] nicht ohne rühmende Kunde zu
lassen.« Die Zukunft galt der Antike als ungewiß, weil im unergründlichen Fatum der Götter beschlossen.
Zwar versuchte man dennoch, sie durch Orakelbefragungen zu enträtseln, doch
blieb der Versuch, dadurch auf sie einzuwirken, zum Scheitern verurteilt.
Alle Orakelgeschichten sind nur Varianten einer einzigen Geschichte, deren
Botschaft lautet: Es ist sinnlos, den Lauf der Geschichte beeinflussen zu
wollen; wer das Schicksal überlisten will, wird von ihm überlistet. Entsprechend
bilanzierte Polybios den Untergang des Mazedonierreiches,
indem er die prophetischen Worte eines Philosophen zitierte, der dies
lange zuvor schon vorausgesagt hatte, weil »das Schicksal niemals mit dem
Leben paktiert« und »seine Macht dadurch zu beweisen pflegt, daß es unsere Hoffnungen zunichte macht.« Gewiß, die antike Kreislauftheorie der Geschichte
erlaubte somit, »unter Berücksichtigung der Vergangenheit über die Zukunft
Voraussagen zu machen«, wie Polybios einräumt,
doch bestätigten diese wieder nur das Schicksalshafte
der Geschichte, wonach sich alles »naturgemäß vollzieht«.
Lehren aus der Geschichte ziehen wir heute nicht mehr anhand
zeitloser Analogien; wenn uns die jüngste Vergangenheit noch Exempel zur
Nachahmung oder eher zur Abschreckung liefert, dann, weil diese
Vergangenheit noch nicht »vergehen« will – um die Formel aufzugreifen, mit
der Jürgen Habermas prägnant den Versuch einer gewissen Vergangenheitsbewältigung
konterkarierte. Die Entstehung des modernen Begriffs der Geschichte, der,
wie Reinhart Koselleck in seinen brillanten begriffsgeschichtlichen
Untersuchungen nachvollzogen hat, auf einmal nicht mehr nur eine Erzählung
von Vergangenem bedeutete, sondern die geschichtliche Entwicklung als
ganzes gesehen, fiel mit dem Epochenwechsel zusammen, dessen Höhepunkt
die Französische Revolution darstellt. Durchlief diese zunächst eine Phase
der Bilderstürmerei, die nach dem Motto »Wir wollen nur von heute ab
datieren!« alle Relikte des Ancien Regime
einschließlich der christlichen Zeitrechnung zerstören wollte, »um jede geschichtliche
Erinnerung auszulöschen«, wie es der Revolutionär Barère
formulierte, so erkannte man alsbald einen Sinn darin, stattdessen die
Zeugnisse der Vergangenheit zur staatsbürgerlichen Bildung der Nachwelt
aufzubewahren. Die zeitliche Trennung wurde in eine räumliche übersetzt,
die Zeugnisse der Vergangenheit, die eben noch Gegenwart gewesen war, dem
öffentlichen Raum entzogen und dadurch ihrer Symbolmacht beraubt: Es entstand
das Museum.
Gibt es, nebenbei bemerkt, zu dieser Auseinandersetzung
um den Umgang mit der jüngsten Vergangenheit nicht auch eine Parallele –
eine umgekehrte freilich! – in der Revolution von 1989 und unserem heutigen
Verhältnis zur DDR-Vergangenheit? Macht es nämlich die fast vollständige Ausradierung
aller negativen Zeugnisse dieses »Ancien Régime« (namentlich der Mauer) nicht gerade erst möglich,
daß eine einäugige Nostalgie deren positive
Aspekte, die es gewiß auch gab, so überbetonen
kann?
Vor zweihundert Jahren setzte sich das sich schon in der
Aufklärung andeutende Bewußtsein, einen Epochenumbruch
zu erleben, schneller in Europa durch als die Revolution selbst. In
Deutschland wurde dabei der Mangel an Revolution in der Praxis durch einen Überschuß an deren Theorie wettgemacht. Die Philosophie
nahm sich verstärkt der Geschichte an und vollendete den Prozeß
der Aufklärung in einer Geschichtsphilosophie, die sich als säkularisierte
Heilslehre zu erkennen gab, wo die Vernunft als Naturgesetz der Geschichte
die Rolle der göttlichen Vorsehung übernahm. Daß
der deutsche Idealismus im dialektisch doppelten Sinne das Erbe der
Aufklärung antrat, als deren Fortsetzung und Überwindung zugleich, kam schon
1796 im »ältesten Systemprogramm« Hegels in der beredten Formel von einer »Mythologie
der Vernunft« zum Ausdruck.
Es erscheint heute paradoxal,
aber wohl nur infolge der Distanz, daß die
Geschichtsphilosophie einerseits, nach den Worten in Hegels Vorlesungen, das »Bewußtsein
des Geistes von seiner Freiheit und eben damit die Wirklichkeit seiner Freiheit
überhaupt« zum »Endzweck der Welt« erklärte, andererseits aber den Gang
der Geschichte einem rigorosen Determinismus unterwarf, einem »Plane der
Natur« als »Vorsehung« der Weltgeschichte, wie bereits in Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht, die mit dem Satz beginnt: »Was man sich auch in
metaphysischer Absicht für einen Begriff von der Freiheit des Willens
machen mag, so sind doch die Erscheinungen derselben, die menschlichen Handlungen,
eben so wohl als jede andere Naturbegebenheit nach allgemeinen Naturgesetzen
bestimmt.«
Einerseits bestätigte man so den von Voltaire in seinem Candide
meisterhaft karikierten Optimismus Leibnizscher Prägung von der »besten
aller möglichen Welten«, den Fichte in seiner Bestimmung des Menschen zur »Kette der strengen Naturnotwendigkeit«
zurechtstutzte: »Was da ist in der Natur, ist notwendig so, wie es ist, und
es ist schlechthin unmöglich, daß es anders sei.
Ich trete in eine geschlossene Kette der Erscheinungen, da jedes Glied durch
sein vorhergehendes bestimmt wird, und sein nachfolgendes bestimmt.« Andererseits aber unterwarf man die Rechtfertigung
der Gegenwart dem Vorbehalt des Zukünftigen durch das vermeintliche historische
Naturgesetz des »Triebes zur Perfektibilität«:
Was geschah, konnte nicht anders geschehen, aber es kann nur noch besser
werden. Statische und dynamische Weltsicht, Verteidigung des Bestehenden
und Ruf nach Veränderung wurden im »Prinzip der Entwicklung« miteinander
versöhnt, wonach laut Hegel der Geschichte »eine innere Bestimmung, eine an
sich vorhandene Voraussetzung zugrunde liege, die sich zur Existenz bringe.« Folglich unterscheidet sich dieser Determinismus
durch seine Teleologie von jenem der Antike, der auf dem Prinzip der ewigen
Wiederkehr und damit auf dem der Vergänglichkeit des Bestehenden beruhte
(»Das Schicksal paktiert nicht mit dem Leben«). Welch ein Unterschied zum
Credo des Historismus, wie es Gervinus 1837 zum Ausdruck brachte, als er
schrieb, der Historiker müsse »ein Parteimann des Schicksals sein.« Als
Linksliberaler war Gervinus kein typischer Vertreter jener Schule, mit
dieser Aussage aber dennoch repräsentativ für die damals gültige der
»Konfigurationen des Historismus«, die Jörn Rüsen
in seiner gleichnamigen Untersuchung analysiert hat.
Natürlich galt diese Überzeugung vom Wirken einer
weltgeschichtlichen Vorsehung nicht jedem historischen Detail; auch offenbart
sie sich nur jenem, der das Große und Ganze zu überschauen vermag (dem
Philosophen), wie Kant präzisiert: »Einzelne Menschen und selbst ganze Völker
denken wenig daran, daß, indem sie, ein jedes nach
seinem Sinne und einer oft wider den andern, ihre eigene Absicht verfolgen,
sie unbemerkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an
einem Leitfaden fortgehen.« Das geschichtliche Bewußtsein,
für das die Geschichten zur Geschichte werden, entstand nach Droysen [1]
erst dann, als man die Aufgabe erkannte, »daß
Gottes Schöpfung weitergeführt werde in der Schöpfung einer neuen, der
sittlichen, der geschichtlichen Welt.« Daß Droysen dies entsprechend mit Beginn des
Christentums ansetzt, ist nicht nur ein religiöses Bekenntnis, sondern ist
auch insofern zutreffend, als das Christentum im Zuge eines langen Prozesses
der Entzauberung der Welt einen entscheidenden Schritt zur Historisierung
des Messianismus tat – Voraussetzung für die
spätere Säkularisierung der Heilserwartung. Denn die Zeit zwischen der
Ankunft Christi und seiner Wiederkehr ist keine »leere Zeit« des Wartens,
sondern »die entscheidende Zeit der Bewährung« im Hinblick auf die Erlösung
nach dem Tode, betont Karl Löwith in Weltgeschichte und Heilsgeschehen.
»Das moderne Geschichtsbewußtsein«, bilanziert
er den nächsten Schritt, »hat sich zwar des christlichen Glaubens an ein zentrales
Ereignis von absoluter Bedeutung entledigt, aber es hält an seinen Voraussetzungen
und Konsequenzen fest, nämlich an der Vergangenheit als Vorbereitung und an
der Zukunft als Erfüllung, so daß das
Heilsgeschehen auf die unpersönliche Teleologie einer fortschreitenden
Entwicklung reduziert werden konnte.«
Diese Philosophie prägte nicht nur das moderne Geschichtsbild
zu Beginn seiner Entstehung, sie hatte und hat Auswirkungen auf die Geschichtsschreibung
auch dort und bis heute, wo man es nicht unbedingt erwartet. Es beginnt mit
der Idee, daß bestimmte Völker, Staaten, Kulturen
(das Abendland) Träger der historischen Entwicklung seien, daß, um mit Droysen zu sprechen, »die Geschichte mit so
unbedenklicher Entschiedenheit die einen Völker und Staaten beachtet und
die anderen zur Seite wirft.« Nicht nur in diesem
Punkte waren sich bürgerliche Historiker auf der einen Seite und Revolutionäre
wie Marx und Engels auf der anderen einig, deren universalgeschichtliche
Visionen sich bis hin zur heute so genannten Globalisierung ja im Großen
und Ganzen deckten, weil nur darin fundamental unterschieden, daß die kapitalistische Phase für die Autoren des Kommunistischen Manifestes zwar ein
notwendiges, aber nicht das letzte Stadium der Geschichte darstellte.
Alles Historische aber einem Sinn der Geschichte unterzuordnen, der sich mit
dem Verschwinden des Erlösungsgedankens auf ihren Lauf reduziert, bedeutet
nichts anderes als eine moralisch bedenkliche Rechtfertigung dessen, daß die Geschichte über Leichen geht. Dies findet sich
noch bei einem Philosophen wie Karl Jaspers, der durch seine
Achsenzeit-These als einer der ersten Vertreter eines interkulturellen,
weil nicht mehr eurozentrischen, Geschichtsbildes gilt. In Wirklichkeit
stellt jedoch Jaspers’ Konzept ebenfalls ein hierarchisches Weltbild dar,
an dessen Spitze die euro-asiatischen Hochkulturen stehen und an deren
Spitze wiederum das Abendland. Und »was an der Entfaltung der Achsenzeit
nicht Teil gewinnt, bleibt ‘Naturvolk’ in der Art des ungeschichtlichen
Lebens der Jahrzehntausende oder Hundertausende«,
bilanziert Jaspers, »für viele Naturvölker wurde die Berührung Grund ihres
Aussterbens.« Diese elegant durch den Logos der
Geschichte bagatellisierte, wenn nicht gar legitimierte Ausrottung zahlreicher
Völker durch deren »Berührung« mit der »Zivilisation« im Zuge des
Kolonialismus legte Jaspers nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem Werk Vom Ursprung und Ziel der Geschichte
dar, obwohl er darin aus der jüngsten Erfahrung heraus Ideologie und «Totalanschauung«
der Geschichte überwinden wollte. Am Beispiel der Konzentrationslager
warnt er deswegen vor der Verdrängung der Wahrheit aus dem Gefühl der
Ohnmacht heraus, das heißt davor, »dies Furchtbare sich zu verschleiern«,
indem man den Gang der Geschichte »wie ein Naturgeschehen« auffasse. Doch
die Vorstellung von der Macht der Geschichte und der Ohnmacht des Einzelnen
sind untrennbar dialektisch miteinander verbunden, und zwar bei Jaspers
selbst: Was er als Verdrängungs- und Rechtfertigungsprozeß
angesichts der jüngsten Geschichte kritisierte, dem unterlag er selbst im
Hinblick auf die weiter zurückliegende Geschichte. Was ein frappierendes
Beispiel für das allgemeine Phänomen ist, daß sich
in der menschlichen Anschauung das Vergangene mit zunehmender Distanz durch
seine schlichte Faktizität von selbst legitimiert. Der Euphemismus vom
»Aussterben der Naturvölker« verweist jedoch bewußt
oder unbewußt, jedenfalls deutlich auf den Fundus
jener Ideologie, deren sprachliches Relikt die Vokabel ist: das darwinistische
Weltbild, das im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Macht zum Zuge ham und heute sein come-back
feiert.
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II. Die Vergangenheit
der Zukunft
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[2] In dem politischen Magazin La marche du siècle
am 13.3.1996. Ich zitiere nach meiner Mitschrift.
[3] Vgl. Valentin Braitenberg / Inga Hosp (Hg.): Evolution. Entwicklung und Organisierung
in der Natur. Das Bozener Treffen 1993, Reinbek 1994.
[4] »Materie, Geist und Schöpfung«, in: Hans Jonas: Gedanken über
Gott,
Frankfurt a.M. 1992.
[5] H. Guilleminot: La vie, ses
fonctions, ses origines, sa fin, Paris 1916.
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Der im Zuge der sogenannten Globalisierung in alle
Lebensbereiche eindringende Universaldiskurs von der notwendigen Anpassung
an den Gang der Geschichte oder des Weltmarkts, was letzten Ende eins sei,
wird nicht nur in Amerika unverblümt als das gefeiert, was er ist:
Neo-Darwinismus. Angewandte Evolutionstheorien von der natürlichen
Auslese erscheinen in nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen, und
Autoren wie Daniel Dennett fordern entsprechend
eine Universalisierung von »Darwins gefährlichen Ideen« in Kosmologie,
Psychologie, Kultur, Ethik, Politik und Religion. Einige Standardwerke wie
Richard Dawkins’ Das egoistische Gen oder Edward Wilsons Soziobiologie sind, ihrer Zeit
voraus, schon vor zwei Jahrzehnten erschienen und stießen damals auf
heftigste Kritik, während sie heute allgemeinen Applaus ernten. In diesem
Sinne wohl erklärte auch ein renommierter französischer Wissenschaftler im
französischen Fernsehen bei einer Diskussion über den bisherigen Gang der
Weltgeschichte und die Aussichten des 21. Jahrhunderts: »Gesellschaften
gehen unter, wenn sie nicht intelligent genug sind.«
[2] Im illustren Kreis der dort versammelten Gelehrten blieb dies sogar unwidersprochen.
Während jedoch für den einen die darwinistische Auslese zwischen Gesellschaften
gilt, so für den anderen auch innerhalb von Gesellschaften. Die wahrscheinlich
abstruseste, aber letztendlich in sich logischste Variante davon, nämliche
ihre Anwendung zur Erklärung der Wissenschaft selbst, das muß
leider gesagt werden, brachte Stephen Hawking einleitend in seiner Kurzen Geschichte der Zeit zu Papier,
wonach die Entwicklung der Wissenschaft durch »Darwins Prinzip der
Selektion« garantiert sei, da »einige Individuen besser als andere in der
Lage sind, die richtigen Schlußfolgerungen über
die Welt um sie her zu ziehen und entsprechend zu handeln. Für diese Individuen
ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß sie überleben
und sich fortpflanzen, und deshalb werden sich ihr Verhalten und Denken
durchsetzen.« Der Darwinismus sorgte also selbst
dafür, daß er sich eines Tages auch in der Wissenschaft
durchsetzt. Quod erat demonstrandum.
Die Anwendung der Darwinschen Lehre auf die menschliche
Gesellschaft, und zwar in dem genannten doppelten Sinne, begann unmittelbar
nach der Veröffentlichung von Darwins Vom
Ursprung der Arten. Im Vorwort zur
ersten französischen Ausgabe von 1862 machte die Philosophin und Übersetzerin
Clémence Royer deutlich,
wie »schädlich und widernatürlich« die Vorstellung von einer Gleichheit
der Menschen sei und wie verhängnisvoll, aus Nächstenliebe »das Starke dem
Schwachen zu opfern, die Guten den Schlechten, die körperlich und geistig
Begabten den Lasterhaften und Bösartigen.« Stattdessen bedinge das Gesetz
des Fortschritts durch natürliche Auslese, daß
die »Höherwertigen« (Rassen, Menschen...) die »Minderwertigen« verdrängen.
In den folgenden Jahren schlossen sich eine Menge internationaler Wissenschaftler
dieser These an, so daß Darwin sie selbst 1871 in
sein zweites Hauptwerk Die Abstammung
des Menschen aufnahm: »Unter den Wilden werden die an Körper und Geist
Schwachen bald eliminiert; die Überlebenden sind gewöhnlich von kräftigster
Gesundheit. Wir zivilisierten Menschen dagegen tun alles mögliche, um diese Ausscheidung zu verhindern. [...] Niemand,
der etwas von der Zucht von Haustieren kennt, wird daran zweifeln, daß dies äußerst nachteilig für die Rasse ist.«
Heutzutage macht sich die umfassende Genforschung daran,
die Prämissen jenes Sozialdarwinismus endgültig zu »beweisen«, indem für
alle positiven und negativen Eigenschaften vermeintliche Erbanlagen
gefunden werden: ein Gen für die Intelligenz, ein anderes für die Kriminalität,
eines für den Egoismus, den man als individuelle Ausprägung des gattungsmäßigen
Erhaltungstriebes zur neuen Tugend erhebt; der »Beweis« ist in den meisten
Fällen jedoch nur eine Schlußfolgerung aus Häufigkeitsrelationen,
deren methodologische Grundlage selbst höchst umstritten ist. Um die im
engeren Sinne wissenschaftliche Debatte soll es hier nicht gehen; daß ererbte Faktoren eine Rolle bei der Ausprägung von
Eigenschaften spielen, ist ja unumstritten, worum es geht, ist ihr
Stellenwert. Die Übernahme darwinistischer Prinzipien in eine allgemeine
Vorstellung von der kulturellen Evolution der Menschheit, in das Geschichtsbild
im engeren und in die Wissenschaft im weiteren Sinne, hat jedoch Folgen
von größerer Tragweite, die sich keineswegs auf offenkundige Manifestationen
von Sozialdarwinismus und Eugenik eingrenzen lassen.
Als »besonders radikale Betrachtung des Lebens« qualifiziert
der Kognitionsforscher Douglas Hofstadter in einem
Sammelband von Ideen zum Thema Evolution
[3] Richard Dawkins’ Theorie des »egoistischen
Gens«, wonach »unser gesamter Organismus eine ‘Überlebensmaschine’ zur
Selbstreproduktion mikroskopischer Gene ist. Dies ist eine moderne Art zu
sagen, daß ein Huhn nichts weiter ist als das Mittel,
mit dem ein Ei ein anderes Ei produziert. Möge sie gefallen oder nicht,
diese Art, die undurchschaubare Problematik des Lebenssinns zu erklären,
ist die plausibelste wissenschaftliche Antwort auf die Frage: ‘Was ist
Leben?’«. Aussagekräftiger als viele in Statistiken und Wahrscheinlichkeitshypothesen
aufgelöste Ergebnisse diesbezüglicher Forschungen sind in der Tat solche
Statements, die die Sache auf den Punkt bringen. Das genannte Beispiel ist
besonders erhellend: Der Autor ist der Meinung, daß
die »Problematik des Lebenssinns undurchschaubar« sei, aber er kennt die »wissenschaftlich
plausibelste Antwort« darauf. Die Frage, warum etwas ist, wird jedoch
tautologisch ad absurdum geführt: »Es ist, damit es ist.«
Dawkins selbst hat in einer Neuauflage seines
Buches den Kritikern geantwortet: »Ich trete nicht für eine Ethik auf der
Grundlage der Evolution ein. Ich berichte lediglich, wie die Dinge sich
entwickelt haben.« Da es für den Darwinismus
jedoch per se gar keine »Ethik« gibt, sondern nur das Naturgesetz, ist eben
dieses für ihn die normative Referenz für menschliches Verhalten: Einziges
Ziel von Dawkins’ Buch ist die darwinistische
Erklärung menschlicher Verhaltensweisen.
Mit der Tautologie vom Selbstzweck des Lebens könnten
wir uns jedoch versöhnen, wenn jene Autoren es tatsächlich bei der Naturgeschichte
beließen und nicht vor allem Kultur in diesem Sinne »erklären«, also ad
absurdum führen wollten. In diesem Sinne, und nicht etwa unter einem ökologischen
Gesichtspunkt, will Hofstadter, wie er sagt, mit
dem »am tiefsten verwurzelten Chauvinismus« aufräumen, »den man
‘pro-menschliches Verhalten’ nennen könnte«, das heißt mit einem Anthropozentrismus, der die ganze Welt aus dem Blickwinkel
des Menschen beurteilt und nicht den Menschen aus dem Blickwinkel der Natur.
Fast möchte man darauf mit Franz Kafka antworten: »Im Lichte des Darwinismus
erscheint die Menschwerdung als ein Sündenfall des Affen.«
(Gespräche mit Janouch).
Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist jedoch eine Frage, die nur die Kultur
stellen kann; die Natur stellt sie nicht, sie ist die Frage. Nur für den über der Natur stehenden Kulturmenschen
– ein Pleonasmus – hat »Sinn« einen Sinn, weil er nicht nur die Fähigkeit,
sondern auch den Wunsch hat, aus seinem Leben mehr zu machen, als die Natur
vorgesehen hat: »Das Phänomen Mensch ist die größte Krise der Biologie.«
(E. M. Cioran, Gedankendämmerung).
Die Natur/Kultur-Dichotomie möchte Hubert Markl in
seinem Beitrag »Zur fortwirkenden Naturgeschichte des Menschen« im Merkur 7/1998 durch eine dialektische
Versöhnung überwinden, indem er betont, daß die
(relative) Befreiung von genetischer Determiniertheit durch Lernfähigkeit
und Intelligenz eben »ein [...] besonders raffiniertes Ergebnis« des
Evolutionsprozesses sei. Welche Mühe die Wissenschaft doch hat zu
akzeptieren, daß auch Universalien begrenzt, weil
an konstitutive Voraussetzungen gebunden sind.
Das genannte Anliegen Hofstadters
ist jedoch gar nicht so neu, und in Wirklichkeit sind beide Sichtweisen –
der menschliche Bick auf die Natur und die Erklärung
des Menschen durch die Natur – sogar miteinander verknüpft, denn seit der
ersten Referenz auf die Natur hat das eine stets zur Rechtfertigung des
anderen hergehalten. Es ist nämlich das Handicap der Aufklärung, daß sie die Menschenrechte mit dem Naturrecht begründete
und von daher die Prinzipien einer menschenwürdigen Gesellschaft nach wie vor
einem transzendenten Prinzip unterwarf: nicht mehr Gott, sondern der
Natur. Die Gründe dafür sind gewiß vielschichtig;
nicht zuletzt ging es darum, im Sinne der Egalität der Waffen eine Transzendenz
durch eine andere zu bekämpfen, denn die Auseinandersetzung mit der Kirche
stellte eine zentrale, noch heute außerhalb Frankreichs viel zu wenig
beachtete Dimension dar, die in der Französischen Revolution ihren Paroxysmus fand, als Kulte der Vernunft und des Höchsten
Wesens zum Teil als Abziehbilder des katholischen Kultus zu dessen
Substitution propagiert wurden, mit Robespierre als pontifex
maximus. Die politische Auseinandersetzung um eine
neue menschliche Gesellschaft wurde zur geistigen Auseinandersetzung zwischen
zwei Welterklärungsmodellen überhöht. Freilich ging immer schon beides Hand
in Hand, die Entstehung des Christentums selbst ist das beste Beispiel
dafür. Doch für die Aufklärung stellt es einen Widerspruch dar, in dem man
natürlich ihre spezifische Dialektik erkennen kann. Der Verweis auf die
Natur zur Rechtfertigung menschlichen Zusammenlebens hatte jedenfalls die
fatale Folge, daß letzteres der Interpretation
dessen unterworfen wurden, was Natur und Naturgesetz sei. Nach dem Zwischenspiel
der von den Philosophen dominierten Aufklärung traten somit die
Wissenschaftler das Erbe der Priester an, und nicht wenige predigten ganz unverblümt
eine »positivistische Religion«, zum Beispiel Auguste Comte und Ernest Renan. Dies beginnt schon mit dem Postulat Hegels in der
Vorrede zu seiner Phänomenologie des
Geistes: »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann
allein das wissenschaftliche System derselben sein.«
Nun ist es natürlich historisch ein Verdienst, den Wahrheitsbegriff aus dem
Reich des Glaubens in das des Wissens, das heißt der Wissenschaft, überführt
zu haben; doch haben Hegel und andere nicht dadurch einen Rollentausch
zwischen Wahrheit und Wissenschaft herbeigeführt? Das Instrumentarium zur
Erkenntnis der Wahrheit wird selbst zur Wahrheit, ein Problem, das im Streit
um Subjektivität und Objektivität selbst in den Naturwissenschaften noch
anhält. So kritisiert Hans Jonas [4] zu Recht »das Erliegen der Philosophie
vor dem Erfolg der Naturwissenschaft« und die Versuchung der Physiker,
»aus ihrer Physik eine Metaphysik zu machen, nämlich die von ihren erkannte
Wirklichkeit für die ganze auszugeben.« Die Bilanz
der als Wissenschaft ausgegebenen Ideologie ist in der Tat erdrückend. Der
Darwinismus schlug die Aufklärung mit ihrer eigenen Waffe, nämlich mit
der Berufung auf die Natur. Die Sozialdarwinisten leugneten dabei gar nicht,
daß sich die menschliche Geschichte von den Naturgesetzen
entfernt habe, dies war ja gerade ihr Ansatzpunkt, denn darin erkannten sie
Dekadenz und drohenden Untergang, woraus folgte, daß
in der menschlichen Gesellschaft die natürliche Auslese durch künstliche
Eingriffe wiederhergestellt werden müsse.
In einem ähnlichen Dilemma zwischen Determinismus und
Voluntarismus befand sich auch die Lehre von Marx und Engels, die sie nicht
zufällig als »wissenschaftlichen« Sozialismus qualifizierten. Der Mensch
macht seine Geschichte selbst, aber nicht aus freien Stücken, heißt die
zentrale These von Marx. Ähnlich wie bei den Darwinisten bestand auch in
seiner Geschichtsvision die Freiheit des Handelns im wesentlichen darin, den
vorgegebenen Lauf der Geschichte zu beschleunigen oder zu bremsen, ihm zu
entsprechen oder unterzugehen. Der vorherbestimmte Gang der Geschichte vom
primitiven Urkommunismus über die Entstehung des Privateigentums zum
Endkommunismus als dessen Aufhebung auf einer höheren Stufe materieller und
zivilisatorischer Entwicklung schloß alle
dazwischen liegenden Etappen einschließlich des Kapitalismus als notwendig
ein: Für Marx und Engels war die kapitalistische Gesellschaft das
verabscheuungswürdige Resultat einer Geschichte, die nicht anders
verlaufen konnte.
Deterministische Geschichtsvisionen, so unterschiedlich
sie auch sein mögen, geben der eschichte einen
Sinn, das heißt eine Richtung, ein Entwicklungsgesetz. Gemeinsamer Ausgangspunkt
für alle Determinismen ist wohl, wie es Kant formulierte, daß es für den Philosophen »keine andere Auskunft« gebe
»als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im
Großen gar keine vernünftige Absicht
voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge
entdecken könne; aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan
verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plan der Natur möglich
sei.« Ein weiterer gemeinsamer Nenner liegt darin, daß
dieser Naturplan dem Menschen kein äußerlicher sei (wie in der Theologie),
sondern in der Entwicklung seiner inneren Anlagen bestehe. Kant zieht
dabei bewußt die Parallele zur Biologie, wenn er
diesbezüglich unterstreicht: »Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind
bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln. Ein Organ,
daß nicht gebraucht werden soll, eine Anordnung,
die ihren Zweck nicht erreicht, ist ein Widerspruch in der teleologischen
Naturlehre.« Für die Aufklärung war das »Organ«, zu
dessen Gebrauch der Mensch bestimmt sei, natürlich die Vernunft, doch
vollzog Kant schon eine bedenkliche Einschränkung, welche die Tür für alle
möglichen Interpretationen offen ließ, indem er festhielt, daß sich beim Menschen »diejenigen Naturanlagen, die auf
den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber
im Individuum vollständig entwickeln.« Mit Ausnahme des Philosophen
natürlich, der, um eben dies zu erkennen, als Individuum auf der Höhe der
gattungsmäßigen Vernunft sein muß. Der
revolutionäre Avantgardist und der Geschichtsprophet sind zwei Gesichter ein
und derselben Persönlichkeit: Beide glauben sie, für die Allgemeinheit denken
und handeln zu können, weil sie den Gang der Geschichte kennen, dessen unbewußte Akteure die Menschen als Einzelne sind.
Heute ist kein Klassenkampf mehr angesagt, sondern
Konkurrenzkampf. Der Darwinismus, in dem Marx und Engels gewiß
nicht zu Unrecht eine Parallele zum Gesetz des kapitalistischen Marktes
erkannten, meldet sich zurück, wenn auch in zivilisierterem
Gewande. Für Daniel Dennett ist der Darwinismus
die »Universalsäure«, die alle Mythen zerfrißt und
nur die reine Wissenschaft, die reine Objektivität übrig läßt. Gern wollen wir ihm zugestehen, daß
der Darwinismus in seinen verschiedensten Formen, und gerade durch seine unscheinbarsten
Verkleidungen, heute eine nahezu universelle Gültigkeit erreicht hat.
Allerdings zerfrißt er alle anderen Mythen deswegen,
weil er selbst ein Mythos ist, jedenfalls in seinem universellen
Geltungsanspruch. Es ist wie mit der These Kafkas von den »Religionskriegen
ohne Gott« im revolutionären Rußland, gegen die
Gustav Janouch einwandte: »Der Bolschewismus
wendet sich gegen die Religionen«, worauf Kafka folgerichtig konterte: »Er
tut es, weil er selbst eine Religion ist.«
Gerade wegen seines universellen Wahrheitsanspruchs
kann man den (Geschichts-) Darwinismus nicht nur als das (wahrscheinlich)
letzte, sondern auch als das qualitativ höchste Stadium der »abendländischen
Eschatologie« im Sinne von Jacob Taubes erkennen, auch wenn Taubes in seiner
gleichnamigen Untersuchung nicht soweit gegangen ist. Denn der Darwinismus
schafft es, einen Determinismus auf dem Prinzip des Zufalls aufzubauen,
jedenfalls in seinem ursprünglichen Geltungsbereich, der Naturgeschichte:
Was in den vulgarisierenden Interpretationen
immer mit stark lamarckistischem Unterton als
»Anpassung« bezeichnet wird, war für Darwin im Gegensatz zu Lamarck keine Anpassung des Individuums und das Vererben
von erworbenen Eigenschaften, sondern das Zusammentreffen von selektierenden
Umweltbedingungen auf eine Variationsbreite von verschiedenen Individuen
einer Art, von denen einige durch angeborene Unterschiede besser diesen
Anforderungen entsprechen als andere und sich gegenüber jenen durchsetzen.
Dagegen stand der Sozialdarwinismus vor dem Problem der Überwindung dieses
Naturgesetzes durch die menschliche Gesellschaft und forderte, wie schon erläutert,
den Nachvollzug der natürlichen durch eine künstliche Selektion, einen voluntaristischen Akt, der freilich als Notwendigkeit
zur Abwehr eines allgemeinen Untergangs dargestellt wurde.
Der Darwinismus löst damit auch die alte Frage nach der
Willensfreiheit in einem der christlichen Theologie strukturell durchaus
ähnlichen Sinne: Die Menschen sind frei, zwischen Gut und Schlecht zu
wählen; wer den falschen Weg wählt, bleibt auf der Strecke. »Die Optionsmöglichkeit«,
definierte 1916 der französische Physiker und Darwinist Guilleminot
sein »Optionsgesetz« [5], »ist somit zur Optionsnotwendigkeit in einem
festgelegten Sinne geworden.« Neo-Darwinisten
wollen offenbar wieder daran anschließen, wenn sie als Konsequenz des Human Genome Project die Suche nach
der »sichersten Option« für eine eugenische gesellschaftliche Zukunft verkünden;
einen beeindruckenden Überblick über die Soziobiologie
bekommt man schon, wenn man im Internet die Seiten auf „Genetics
and Ethics“ durchsucht.
Die Vernunft wird so ihrer ethischen Dimension beraubt
und auf eine reine Erkenntniskategorie reduziert: das Erkennen und damit
das Akzeptieren des (scheinbar) objektiv Gegebenen. Mehr noch als
vorangegangene Stufen säkularer Eschatologie ist der Geschichts- und Sozialdarwinismus
eine »Logificatio post festum«
– ein Begriff, den Theodor Lessing 1919 in Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen geprägt hat –, das
heißt, eine retrospektive Teleologie, die ex post erklärt, daß alles, was geschah, auch so geschehen mußte. Der Darwinismus liefert, an das ältere
finalistische Axiom von der Zweckmäßigkeit der Welt anschließend,
scheinbar den experimentalwissenschaftlichen Beweis für die Determinismen
à la Leibniz und Fichte: Wir leben in der besten aller möglichen Welten, weil
in der einzig möglichen Welt. Dies liegt schon in dem Axiom begründet, daß von allen möglichen Welten die gegenwärtige sich
durchgesetzt hat. Darwin hat nur den göttlichen Willen durch das natürliche
Selektionsprinzip als Schiedsgericht ersetzt.
Die heutige Debatte beherrscht erneut eine von vielen Autoren
gewollte oder zumindest in Kauf genommene Konfusion zwischen Naturgeschichte
und Menschengeschichte, natürlicher und geschichtlicher Entwicklung, und
selbst Philosophen, die alles andere als Sozialdarwinisten sind, schlittern
in das Dilemma der scheinbar universellen Gültigkeit darwinistischer Gesetze
hinein: Hans Jonas etwa, der wie bereits erwähnt dem Primat der
Naturwissenschaften durchaus kritisch gegenübersteht, im Darwinismus
jedoch das kosmische Grundgesetz zu erkennen glaubt: »Grundlage aller Ordnung
in der Natur, also einer Natur überhaupt sind die Erhaltungsgesetze. Diese
aber sind zur Herrschaft gekommen, weil eben nur das Sich-Erhaltende
sich erhält. Diese Tautologie erklärt die Gesetzmäßigkeit der uns gegebenen
Natur: Sie ist selber schon ein Ausleseergebnis, ein universales, das dann
die Regeln für weitere, speziellere und lokalere Auslesen setzt. [...] Es
ist der ursprünglichste, stiftende Fall von ‘survival
of the fittest’.« Doch wo
macht diese Gesetzmäßigkeit halt? Jonas extrapoliert sie nicht auf die
menschliche Gesellschaft, gewiß, grenzt aber den
Geltungsbereich des Darwinismus zwischen Natur- und Menschengeschichte
auch nicht klar ab, wenn er die Entstehung von Subjektivität
naturwissenschaftlich erklären will. Das von ihm angeführte Argument von
der »transzendierenden Freiheit des Geistes« als Spezifikum des Menschlichen ist jedoch kein stichhaltiges
Argument gegen den Darwinismus, der, wie bereits dargelegt, die
Willensfreiheit keineswegs leugnet. Wird Subjektivität nur als Bewußtwerdung unter dem Gesichtspunkt eines universellen
Erhaltungsgesetzes begriffen, »weil die Zweckhaftigkeit
als solche [...] dem gleichgültig Zwecklosen durch das eifrige Ja zu sich
selbst so unendlich überlegen ist« (Jonas), ist es nur noch ein kleiner
Schritt zur Egoismus-Theorie von Dawkins, denn die
Subjektivität ist dem Selbstzweck der Natur bereits unterworfen. Eine antidarwinistische
Argumentation muß jedoch von dem Standpunkt ausgehen,
daß das Erkennen der Naturgesetze dem Menschen die
Möglichkeit eröffnet, sich ihnen zu entziehen oder sie gar zu überwinden,
und zwar nicht nur kognitiv, sondern konkret durch Zivilisation,
organisiertes Zusammenleben nach anderen, menschlichen Gesetzen. Natürlich
ist diese Freiheit nicht unbegrenzt, doch werden die Grenzen immer weiter
zurückgeschoben, und mit ihnen das »Prinzip Verantwortung« als Ethik für
eine technologische Zivilisation, wie sie Hans Jonas einforderte. Bezeichnenderweise
sind es gerade Vertreter jener Wissenschaft, die die biologische Natur in
den Griff bekommen will, nämlich die Genetiker, die heute auf den Darwinismus
zurückgreifen. Seinerzeit wurde im Rahmen der Projekte zur »Rassenhygiene«
ja nicht nur die Durchführung einer »negativen Auslese« (durch
Sterilisation oder Vernichtung) anvisiert, sondern parallel dazu auch eine
»positive« Auslese durch »Züchtung«. Überflüssig zu verdeutlichen, welche
Möglichkeiten sich solchen Eugenik-Projekten heute in einer moralisch
deregulierten, aber technologisch (fast) allmächtigen Welt eröffnen.
Welche Bedeutung hat vor diesem ganzen Hintergrund die
Forderung nach einer Annäherung der Evolutionskonzeptionen von Natur- und
Kulturwissenschaften, hin zum »Entwurf einer Universalgeschichte als Natur-
und Kulturgeschichte des Menschen«, wie sie Werner Conze 1986 auf dem
deutschen Historikertag vortrug (abgedruckt in der Historischen Zeitschrift)? Dabei verwies er auf die zunehmende
»Bedeutung der Biologie für eine historische Anthropologie« sowie auf die
Rolle der »genetischen Forschung« im Hinblick auf die von ihr erwartete
Antwort auf die Frage, »was die Ausschaltung der bis vor kurzem noch
(eingeschränkt) wirksamen natürlichen Selektion für den Menschen und seine
Kultur bedeutet hat und bedeuten wird.« Da die Historikerzunft die grundlegende
Aufarbeitung der Geschichte ihres Faches im Dritten Reich solange
aufgeschoben hat, bis die letzten Repräsentanten jener Zeit verstorben sind,
wird die Zukunft vielleicht zeigen, inwiefern auch in Conzes Vision nicht
nur, aber auch ein bewußter oder unbewußter Brückenschlag zwischen den Epochen zum
Ausdruck gekommen ist.
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III. Fatalität und
Individualität in der Geschichtsschreibung und im »kollektiven Gedächtnis«
heute
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Über periodenweise immer wieder aufflammende Kritik wie
die Postmoderne-/Posthistoire-Diskussion hinweg
bestimmt wohl in einer Mischung aus vielen Varianten deterministischen
Denkens das unausgesprochene Credo Was
geschah, mußte zwangsläufig so geschehen noch
grosso modo unsere gängige Geschichtsauffassung,
wenn auch von Fall zu Fall in unterschiedlichem Maße. Doch die meisten Historiker,
und nicht nur sie, würden wohl Einspruch gegen diese These erheben,
jedenfalls in der so formulierten Radikalität. So konstatierte Lothar Gall 1997 in der Historischen
Zeitschrift: »Kaum jemand geht heute noch ernsthaft davon aus, daß hinter den Geschichten als in ihrer Mannifgaltigkeit praktisch unendlichen Geschehnisabläufen
und Entwicklungen eine einheitliche Geschichte als sinnhaltiger und sinnvermittelnder Prozeß
wirksam und zugleich erkennbar sei.« Andererseits erkennt er jedoch an, daß auch der antiideologischen Intention der
historischen Methode von Anfang an der Anspruch zugrundelag,
»den Sinn des historischen Prozesses als
Ganzes empirisch erschließen zu können – mit all dem, was sich daraus für
den richtigen Weg in Gegenwart und Zukunft ergab.« (Hervorheb. von mir). Natürlich äußert sich
deterministisches Geschichtsdenken heute nicht mehr im Pathos großer
philosophischer Thesen! Suggeriert aber nicht noch im »sachlichsten« Nachvollzug
historischer Ereignisse deren Chrono-Logie auch Logik,
solange die Frage der Alternativen
nicht erörtert wird, solange neben der Faktizität des Geschehenen nicht auch
die Potentialität dessen, was hätte geschehen können, berücksichtigt wird?
Ist eine universalgeschichtliche Konzeption nicht schon der universal gewordenen
Kontraktion von »Geschichten« zu »Geschichte«, von »Fortschritten« zu
»Fortschritt« inhärent, worauf Conze in besagtem Vortrag zu Recht in
Anlehnung an die Studien von Koselleck hinwies?
Birgt nicht gar, wie dies Hans Michael Baumgartner in Kontinuität und Geschichte zur Ausgangsfrage erhebt, schon die
»Darstellung eines geschichtlichen Zusammenhanges ein Element geschichtsphilosophischer
Spekulation in sich«? Nur der historischen Retrospektive verdankt sich
eine in die Historiographie eingesponnene Sinndeutung, die ihren ideologischen
Charakter nicht eingesteht, denn, wie Habermas in Anlehnung an Arthur C. Danto treffend resümiert: »Eine Folge von Ereignissen
gewinnt die Einheit einer Geschichte nur unter einem Gesichtspunkt, der
jenen Ereignissen selbst nicht entnommen sein kann.« (Zur Logik der Sozialwissenschaften). Da auch »die Kontinuität
der Geschichte selbst nur aus interessierter und konstruierender
Retrospektive entspringt« (Baumgartner), unterschlägt die Geschichtsschreibung,
die das Faktische bilanziert, zur Einheit deutet und ihm dadurch einen Sinn
verleiht, permanent, »was in der Vergangenheit nicht reüssierte«, wie
Ernst Bloch in Experimentum Mundi beklagte.
Dies betrifft jedoch nicht nur, worum es Bloch dabei in erster Linie ging,
nämliche »jene revolutionären Antriebe in ihr, welche damals nicht zum Zuge
kamen«. Wieviele Entscheidungen und Umwälzungen,
die Geschichte machten, verdanken sich gesellschaftlichen Konstellationen,
wo das Zufällige eine ebenso große Rolle spielte wie das Zwangsläufige?
Man denke nur an die politischen Attentate: Was wäre geschehen, wenn jenes
in Sarajewo mißglückt oder jenes auf Hitler im
Bürgerbräukeller geglückt wäre? Gewiß wäre jeweils
die gesellschaftlich-politische Konstellation dieselbe geblieben, die
politische Bombe, deren Zünder Sarajewo war, hätte trotzdem existiert; aber
ohne Zünder geht auch der gefährlichste Sprengsatz nicht hoch. Und im Falle
eines geglückten Attentats auf Hitler 1939 dürften selbst die »Funktionalisten«
unter den Historikern nicht bestreiten, daß die
Geschichte dann anders verlaufen wäre. Dies heißt nicht, daß alles ganz
anders verlaufen wäre, aber eben anders.
Man muß deswegen nicht ins
andere Extrem verfallen und das Zufallsprinzip, den »Hinge-Faktor«, zum Gesetz der
Geschichte erklären, wie Eric Durschmied es jüngst
in seiner gleichnamigen Untersuchung tat. Das Scheitern des Attentats im
Bürgerbräukeller war gewiß reiner Zufall. Im
großen historischen Kontext, über das Einzelereignis hinaus, ist der Begriff
des Zufalls jedoch unangemessen;
besser ist es, von Koinzidenzen
zu sprechen, das heißt vom Zusammentreffen einzelner, voneinander verschiedener
Entwicklungslinien, die unterschiedlich große soziale Kontexte und Aktoren umfassen können, bis herunter zum Faktor Individdum, und von denen sich jede immanent
weitgehend »chrono/logisch« entwickeln mag, deren
Zusammentreffen aber weder vorherbestimmbar,
noch wirklich zufällig im Sinne
von grundlos ist. Wäre Kolumbus nicht
über den Atlantik gesegelt – immerhin basierte sein Kalkül auf einer falschen
Berechnung der Erdkugel –, hätte es später gewiß
ein anderer versucht. Das Interesse am Westweg nach Indien wäre aber
drastisch zurückgegangen von dem Moment an, wo Vasco da Gama den Weg um
Afrika herum fand, und so wäre der Kolonialismus eben andere Wege gegangen.
Unabhängig von solchen historischen Spekulationen geht
es jedoch darum, den Ort von Individualität
in einem historischen Kontext zu bestimmen. Hier hat die Intensivierung
der Ursachenforschung unter dem Einfluß der
Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Akzentverschiebung
herbeigeführt, auch innerhalb der Geschichtswissenschaft. Hies es früher »Männer machen Geschichte«, so steht
heute nur noch in wenigen Fällen die Bedeutung der Individualität im
Zentrum historischer Debatten, so natürlich im Falle des Nationalsozialismus,
und dort auch mit der deutlichen Tendenz der Zurücknahme früherer Fixierung
auf die Person Hitlers. Bewertung von Individualität heißt jedoch nicht
nur, den Grad des Einflusses von Persönlichkeiten auf die Geschichte abzumessen,
sondern auch umgekehrt den Grad der Prägung des Individuums durch die
erfahrene Geschichte zu untersuchen, sich in die Individualität auch des
anonymen Zeitgenossen hineinzuversetzen und zu fragen: Gab es Alternativen? Konnte man auf eine
Herausforderung anders reagieren? Wie hätte ich selbst reagiert? Denn
es gilt nicht nur zu erforschen, warum etwas so geschehen ist, sondern auch,
Lehren daraus zu ziehen, wie in der antiken Tradition, wenn auch die heutige
Aufgabe weniger darin besteht, beispielhafte Taten zum Vorbild zu nehmen,
als vielmehr zu verhindern, daß sich schlimme
Taten wiederholen.
Aus diesem Grunde steht jede »Historikerdebatte« und
jede Grundsatzdiskussion zu geschichtstheoretischen Fragen auch unter einem
politisch-moralischen Vorzeichen. Meistens geht es um Schuld. Als klassisches
Beispiel für die Kausalitätsdebatte unter Historikern galt lange die
Entstehung des 1. Weltkrieges, doch die Frage nach Kausalität und Zufall war
in diesem Zusammenhang eben der damit verbundenen Schuldfrage unterworfen
und somit keine rein geschichtstheoretische Debatte. Deswegen macht das
Beispiel den Zusammenhang zwischen einer politisch-moralischen Bewertung
der Geschichte und den grundsätzlichen Prämissen von Darstellung und Analyse
gerade deutlich. Sowohl die Fixierung auf wenige Personen als Schuldige von
Kriegs- und anderen Verbrechen, wie zeitweise im Hinblick auf den Nationalsozialismus,
als auch die Betonung struktureller Determinanten politisch-sozialer
Entwicklungen erlauben, die Frage der Verantwortung des Einzelnen –
sozusagen des »kollektiven Einzelnen«: eines jeden an seinem Platze – im
historischen Kontext bewußt oder unbewußt zu minimieren. Ein frappierendes Beispiel dafür
liefert die Behandlung der nationalsozialistischen Machtergreifung, genauer
gesagt: des Ermächtigungsgesetzes.
Es ist nämlich erstaunlich, daß
dem letzten Akt der Machtübertragung durch mehr als zwei Drittel der
Reichstagsabgeordneten so wenig Platz in den meisten historischen Gesamtdarstellungen
eingeräumt wird und in den zahllosen Diskussionen um die Frage Wie war es möglich? offenbar keine Rolle
spielt, abgesehen von der juristischen Erörterung in der Folge des Nürnberger
Prozesses, wo es um die Frage der Legalität des Ermächtigungsgesetzes
ging. Entweder heißt es nur lapidar, daß es zu
einer »qualifizierten Mehrheit« kam, wie in einem Standardwerk von 1963,
das bis heute unverändert verlegt wird; oder es werden geradewegs die
Tatsachen verdreht, wie aus der Feder eines der bekanntesten deutschen
Historiker in einem Sammelwerk zur deutschen Geschichte (Ende der 80er Jahre
erschienen): »Die notwendige Zweidrittelmehrheit
kam dadurch zustande, daß die Mandate der
KPD-Reichstagsabgeordneten, die verhaftet oder untergetaucht waren,
nicht gezählt wurden«. Tatsächlich stellten die abgegebenen 444 Ja-Stimmen
zum Ermächtigungsgesetz jedoch nicht nur mehr als zwei Drittel der anwesenden
538 Abgeordneten, sondern auch mehr als zwei Drittel der Gesamtzahl der
647 Abgeordneten dar, wie Karl Dietrich Erdmann verdienstvollerweise
1976 in seinem Beitrag im Handbuch der
deutschen Geschichte betont hat, der durch die relativ ausführliche wie
präzise Behandlung des Themas auf der Ebene der Fakten gerade die Ausnahme
von der Regel darstellt. Wird auf die Frage nach dem Zustandekommen des
Ermächtigungsgesetzes eingegangen, so heißt es oft, daß
»es hierbei schon nicht mehr um eine wirklich freie Entscheidung ging«, weil
die Nazis bereits vollendete Tatsachen geschaffen hätten, oder man verweist
auf die »Täuschung« der Zentrumsabgeordneten durch nicht gehaltene Versprechen
Hitlers, wie noch in einer der jüngsten Darstellungen (eine Wiederverwertung
des Schemas Führer/Verführte, zu der es inhaltlich einiges zu sagen gäbe).
Ein anderes, bezeichnenderweise jüngst wieder neu verlegtes Buch aus dem
Jahre 1957 geht sogar so weit, durch eine drastische Schilderung der
Situation der von den Nazis »terrorisierten« Reichstagsabgeordneten auf
äußerst suggestive Weise Verständnis fùr ihre
Haltung, ja geradezu Mitleid mit ihnen zu erwecken.
Da drängt sich die Frage auf: Ja, wenn denn selbst die
Reichstagsabgeordneten keine freie Wahl mehr hatten, oder: Wenn schon die
Berufspolitiker »getäuscht« wurden, das heißt: sich täuschen ließen, oder:
Wenn sie ganz einfach Angst hatten – vorausgesetzt, das waren die entscheiden
Faktoren –, kann man denn dann den »gewöhnlichen Deutschen« jener Zeit
überhaupt einen Vorwurf machen? Präjudiziert eine Globalentschuldigung der
Abgeordneten mit Hinweis auf die gefürchteten Repressionen durch eine bereits
de facto etablierte NS-Macht nicht eine Globalentschuldigung für alle
späteren ausgebliebenen Gewissensentscheidungen, egal auf welcher Verantwortungsebene,
die ja alle einer ungleich höheren Repressionsgefahr ausgesetzt waren?
Nun soll den Historikern – die hier anonym blieben, um
die Erörterung nicht in eine Polemik gegen bestimmte Personen abgleiten zu
lassen, denn das Phänomen ist so generell, daß man
fast alle zitieren könnte – nicht einfach unterstellt werden, sie hätten
den Verrat der Demokraten an der Demokratie nur aus politischen Gründen
kleingeschrieben oder entschuldigt, obwohl diese Vermutung natürlich naheliegt
und wohl in dem einen oder anderen Fall auch zutreffen mag. Dies würde jedoch
als allgemeine Erklärung zu kurz greifen: Abgesehen von den strengen
Marxisten, für die das Ermächtigungsgesetz nur die logische Vollendung der
Allianz von Bourgoisie und NSDAP war, ist die
Kleinschreibung dieses Ereignisses bei Historikern ganz unterschiedlicher
politischer Orientierung zu finden. Zwischen einer bewußten und einer unbewußten Minimierung
der politisch-moralischen Dimension des Ereignisses läßt
sich so kaum unterscheiden. Jedenfalls wird an diesem Beispiel deutlich,
wie die Frage individuellen Handelns sozusagen in der Fatalität der
Geschichte aufgelöst wird: Die Abstimmung im Reichstag sei bedeutungslos
weil durch die Fakten schon vorweggenommen und dadurch nur noch eine Formsache
gewesen. Tatsache ist aber: Im ganzen Prozeß des (un)aufhaltsamen Aufstiegs der
Nazis gab es zwei Momente, wo Entscheidungen wirklich von wenigen Personen
abhingen: die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und eben das Ermächtigungsgesetz.
So erlaubt die Minimierung der Entscheidungsfreiheit
durch den Hinweis auf kausale Zwänge und strukturelle Faktoren und eine
daraus folgende fatalistische Resignation – »Es war sowieso schon alles
gelaufen...« etc. – auch, im historischen
Rückblick bewußt
die politisch-moralische Dimension der historischen Aufarbeitung zu hintergehen.
Das Kausalitätsparadigma ermöglicht immer, die Frage nach der Rechtfertigung
individuellen Handelns durch den Hinweis auf jene das Individuum nicht nur transzendierende, sondern auch chronologisch vorgängige
Faktoren, aufzuheben. Die »retrospektive Zurechnung von Verbrechen« – um die
Formel von Habermas aus dessen Goldhagen-Laudatio aufzugreifen – hält
dialektische Überraschungen bereit: Sogar aus Kollektivschuldthesen können
Kollektiventschuldigungen werden! Die Schulddebatte unmittelbar nach 1945
in Deutschland war ja gerade nicht von Verdrängung durch Verschweigen
gekennzeichnet, das begann erst später, sondern davon, daß
für den tragischen Verlauf der deutschen Geschichte alle möglichen Gründe
gesucht wurden, die die Verantwortung des Einzelnen – und damit auch des
»kollektiven Einzelnen« – entlasteten: der deutsche Protestantismus mit
seiner Autoritätshörigkeit, das militaristische Preußentum, der Kapitalismus
oder gar der Abfall eines ganzen Zeitalters von Gott, schuld waren entweder
»die anderen« oder eine Verkettung von Faktoren, die weit in die Vergangenheit
zurückreichte, und am besten noch eine Verknüpfung von beidem. So wurde in
den zahlreichen Zeitschriften in den Westzonen, die sich der Schulddebatte
widmeten, kaum die Geschichte der Weimarer Republik und ihres Niederganges
aufgearbeitet, dafür aber um so mehr die Geschichte des Abendlandes seit dem
Mittelalter. Wie so die Kollektivschuldthese der Alliierten – die auf die
damals Lebenden zielte – durch andere »Kollektivschuldthesen« abgewehrt wurde,
die die Schuld auf die Vergangenheit abluden, dafür ließe sich eine nahezu
unendliche Zahl von Belegen anführen. Die Bekenntnisse zu einem möglichst
pauschalen mea culpa half
auch vielen Journalisten nach 1945, ihre persönliche Schreibtischtäterschaft
zu übergehen, so wie – ein ganz anderes Beispiel, auf das Bernd Greiner jünst in der Zeit
(19.11.1998) hinwies – 1968 im My-Lai-Prozeß die
Angeklagten sich damit zu entschuldigen versuchten, daß
jedes US-Bataillon in Vietnam sein My Lai gehabt
habe.
Erklärungen und Bewertungen der Geschichte, und vor
allem dieses Kapitels der deutschen Geschichte, haben einen moralischen
Aspekt und müssen ihn auch haben, der mit der Frage Wie war es möglich? das Nie
wieder! zum Gebot erhebt. Ein Wehret
den Anfängen! erfordert keine Bilanzen, sondern Analysen jener Anfänge.
Dies kann jedoch nur sinnvoll erfolgen, wenn der Individualität in dem hier
gemeinten hermeneutischen Sinne in der Betrachtung ausreichend Platz eingeräumt
wird. Ein bekannter Zeithistoriker, der ebenfalls anonym bleiben soll,
leitet zum Beispiel seinen Beitrag zu einem unlängst erschienenen Sammelband
zum Dritten Reich explizit mit der Frage nach dem Wie konnte es geschehen? ein, erwähnt dann aber das
Ermächtigungsgesetz nur im Hinblick auf die Diskussion um seine
Pseudo-Legalität; wie es zustandekam und warum,
ist für ihn kein Thema, was seine eingangs formulierte Grundfrage der Geschichtsschreibung
zur rein rhetorischen Frage des Historikers reduziert. Dieses Beispiel erscheint
mir daher paradigmatisch dafür, wie für die Historiographie eine moralische
und staatsbürgerliche Funktion reklamiert wird, ohne daß
man diese Funktion dann wirklich wahrnimmt. Fast möchte man der Historie den
Vorwurf machen, sie ziehe sich das moralische Gewand nur über, um ihre
Autorität zu stärken. Der allgemeine Ruf nach dem »kollektiven Gedächtnis«,
die Moralisierung der jüngsten Geschichte gegen deren Historisierung,
steht jedenfalls in einem frappierenden Widerspruch zur Abwesenheit des
»Faktors Individualität« in den damit verbundenen großen Debatten, mit
einigen Ausnahmen wie z.B . zu Schindlers
Liste. Der Fall Schindler, der durch Spielbergs Film überhaupt erst einer
breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, lehrt ja zweierlei: erstens, daß es Möglichkeiten des Widerstandes gab, und zweitens,
daß der gelungene Widerstand, anders als der
gescheiterte, von der Nachwelt nicht gefeiert wurde, weil er als Anklage all
jener Zeitgenossen galt, die nichts getan haben.
Durch die Abstraktion der politisch-moralischen Debatten
stehen sich jedoch in gewisser Hinsicht Kollektivschuldthese und Kollektiventschuldigung
in gewandelter Form immer noch dialektisch gegenüber. Das Echo, das
Goldhagens neue provokative Kollektivschuldthese wohl vor allem bei den
jüngeren Generationen in Deutschland findet, ist, so vermute ich, Ausdruck
einer Art Vergangenheitsbewältigung, die tendenziell mit der Kollektivanklage
der Eltern- und Großelterngeneration den moralischen Appell des Nie wieder! durch ein Wir sind anders – uns kann das nicht
passieren! aufhebt. »Je jünger man wurde«, rekapitulierte Joachim Gauck
in der Zeit vom 30.7.1998 den Prozeß des »rituellen Antifaschismus« nach 1968, »desto
heftiger fiel die Verwerfung der Schuld der Väter aus.«
Der Generationenbruch wurde zum mentalen Epochenbruch. Doch impliziert die
Kollektivanklage der Vergangenheit eben nicht unweigerlich eine Art
präventiver Kollektivabsolution der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft?
Durch seine wiederholte Beteuerung in der Diskussion, das heutige
Deutschland sei »ganz anders«, hat Goldhagen ja selbst zur manichäistischen Trennung zwischen gestern und heute
beigetragen. Natürlich ist das heutige Deutschland »ganz anders«! Heißt das
aber, daß die Vergangenheit ein für allemal vergangen
ist, sich also nicht wiederholen kann? Eine besonders groteske Note in
dieser Debatte angesichts eines alltäglichen Rassismus in Deutschland (und
andernorts), an den wir uns schon zu gewöhnen scheinen, obwohl er vor nicht
allzu langer Zeit noch unvorstellbar gewesen war.
Nicht nur durch Verdrängung,
sondern auch durch solch eine strenge Zäsur zwischen heute und gestern wird
das Moment des Aus der Geschichte
lernen aufgehoben und eine Historisierung des Vergangenen gefördert,
die gerade nicht eine Wiederholung in anderen Formen vermeiden hilft: Die
Frage Wie hätte ich gehandelt?
impliziert dagegen immer eine Vergegenwärtigung, die dem »Einordnen« des
Geschehenen in den Aktenordner der Geschichte entgegensteht.
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IV. Was daraus
folgt...
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Die Frage nach dem Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft in unserem Geschichts- und Weltbild ist daher nicht die falsch
gestellte Alternative von Verknüpfung oder
Trennung, sondern die Frage, um welche
Verknüpfung es geht: um eine, die an unsere Verantwortung appelliert, oder um
eine, die uns unserer Verantwortung zu entledigen verspricht. Verantwortung
resultiert aus der Vergegenwärtigung gemachter Erfahrung: Die Vergangenheit
will nicht vergehen. Und die Zukunft? Der Einspruch von Hans Jonas’ »Prinzip
Verantwortung« gegen das Blochsche »Prinzip Hoffnung« ist berechtigt,
wenn damit die Hoffnung auf die Zukunft als Mittel zur Flucht aus der Gegenwart
kritisiert wird; die von Jonas geforderte »Einsicht, daß
jede Gegenwart des Menschen ihr eigener Zweck ist«, unterschätzt jedoch das
Faktum, daß jedes Handeln auf die Zukunft
gerichtet ist und jede Kritik bestehender Verhältnisse – und gerade auch das
»Prinzip Verantwortung« – den Gegenwärtigen moralische oder politische
Auflagen nicht nur für sich selbst, sondern gerade auch für die Nachkommenden
macht. Streng genommen ist schon die Gegenwart nicht mehr veränderbar, wenn
man unter »Gegenwart« den flüchtigen Augenblick des Hier und Jetzt versteht.
Eine Befreiung der
Vergangenheit von der Zukunft ist also notwendig im Sinne der Befreiung
von jenem umfassenden, uns der Verantwortung für unser Tun zumindest tendenziell
enthebenden Determinismus im Geschichtsbild zugunsten der Bewußtwerdung der Potentialitäten menschlicher Geschichte
und der daraus resultierenden Verantwortung. Sich dies bewußt
zu machen ist notwendig, wenn wir aus diesem so verstandenen Prinzip
Verantwortung heraus im Gegenzuge die Zukunft
von der Vergangenheit befreien wollen, das heißt, von einem Fatalismus,
der nur die Chance zur Fortsetzung des Bestehenden läßt.
Natürlich setzt diese »Option« voraus, daß es
tatsächlich eine Willens- und Handlungsfreiheit in der menschlichen Geschichte
gibt, keine absolute, gewiß, aber eine relative im
jeweiligen Kontext. Die Macht deterministischer Erklärungstheorien beruht
ja auf ihrer doppelten Tautologie: der kausalen, wonach alles, was ist, so
ist, weil es nicht anders sein kann, und der finalen, wonach sich der
Determinismus als self-fulfilling prophecy selbst beweist, wenn man an ihn glaubt und sich
entsprechend verhält. Der britische Philosoph Ted Honderich
plädiert in seinem Buch Wie frei sind
wir? für eine Art aufgeklärten Determinismus: Es gelte, eine »positive
Lebensphilosophie« gegenüber der »Illusion der Willensfreiheit« zu
entwickeln, sich mit dem Spielraum zu begnügen, den man wirklich habe, und
sich zu einem »überzeugten Vertrauen in den Determinismus« durchzuringen.
Solche Plädoyers erinnern nicht nur an religiöse Predigten, sie sind es
auch. Derlei zeigt sich nicht nur im philosophischen oder
wissenschaftlichen Bereich, sondern auch auf ganz banale Weise: Wie sehr hat
sich der politische Diskurs in den letzten Jahren auf die Argumentation
verengt, daß wir das Notwendige und Unvermeidliche
zu akzeptieren hätten, wobei der Begriff des »Notwendigen« noch eine mögliche
Zustimmung offenläßt, während der Rekurs auf das
»Unvermeidliche« geradewegs zur Resignation aufruft! Ob es um die Globalisierung
der Welt geht, um die Zukunft des Sozialstaates oder um die Zukunftstechnologien,
unisono hört man vom Notwendigen, das man zu tun, und dem Unvermeidlichen,
das man zu akzeptieren habe. Die Entwicklung könne man nicht aufhalten,
und darin sind sich deren Befürworter in ihrem Enthusiasmus mit den Gegnern
in ihrer Skepsis fast einig. Um wieviel mehr gilt
jedoch für Gentechnologie und Biotechnik, was Einstein seinerzeit zur
Atomtechnologie diagnostizierte, nämlich die Unreife der menschlichen
Vernunft gegenüber den Kapazitäten des menschlichen Verstandes; wie sehr
fehlt uns die Ethik, nach welcher »der endgültig entfesselte Prometheus« ruft,
wie Hans Jonas im ersten Satz seines Prinzips
Verantwortung schreibt.
Welchen geistigen Fortschritt hat unsere Gesellschaft
in den letzten paar hundert Jahren errungen, wenn sie an der Schwelle zu
einem neuen Jahrtausend erneut die mittelalterliche Debatte von der Willensfreiheit
führt? Honderich hat erkannt, daß
das eigentliche Problem nicht in der Erkenntnis
dieser (seiner) Wahrheit von der Determiniertheit des Menschen, sondern
in ihrem persönlichen und gesellschaftlichen Akzeptieren besteht, weil entgegen der faustischen Obsession
der Philosophen, den letzten Grund der Dinge zu erkennen, jeder Determinismus
doch gegen den gesunden Menschenverstand ankämpft, da die Vorstellung,
wir seien unfrei, uns letztlich unerträglich bleibt, auch wenn die darin
liegende Tröstung für die tatsächlich erfahrene Ohnmacht des Einzelnen noch
so groß sein mag. Doch auch ohne restlos überzeugen zu können, ist die Macht
deterministischer Gewißheiten groß.
Paradoxerweise ist es die Freiheit selbst, die uns Unfreiheit
suggeriert. Es ist die Freiheit, daß alles seinen
Lauf nehmen kann, die Freiheit des sich selbst regulierenden oder vielmehr
deregulierenden Marktes, die Freiheit der technologischen und gesellschaftlichen
Entwicklung. Diese »Freiheit« ist nicht die Freiheit der Menschen, sondern
die Freiheit von Prozessen, an denen die Menschen eher als Statisten denn
als Akteure mitwirken. Wirtschafts-, Technologie-, Sozial- und Geschichtsdarwinismus
heißt, dafür zu sorgen, daß der angeblich natürliche
Lauf der Dinge möglichst unbehindert erfolgen kann. Die Philosophie des survival of the fittest in
allen Lebenslagen suggeriert uns nicht nur, mit Blick auf die Zukunft, daß die Besten sich durchsetzen und die anderen zu Recht
untergehen, sondern zunächst den Umkehrschluß
als dessen Voraussetzung, wonach alles, was sich durchgesetzt hat, auch das
Beste sei, und das Gescheiterte das Schlechte: »Wer Erfolg hat, hat auch
Recht.«
*
Die Zukunft von der Vergangenheit befreien heißt also nicht, die
Vergangenheit vergangen sein zu lassen, sondern heißt zu verstehen, daß die Zukunft keine lineare Fortsetzung der Vergangenheit
ist. Die Vergangenheit von der Zukunft
befreien heißt auch nicht, die Vergangenheit vergangen sein zu lassen,
sondern aus ihr nicht linear die Zukunft extrapolieren zu wollen.
Vergangenheit ist für die Gegenwart nicht nur das, was geschehen ist, sondern
auch das, was nicht geschehen ist, aber hätte geschehen können – und manchmal
auch sollen. Zukunft ist nicht nur das, was wir aus der Vergangenheit heraus
vorhersagen können, sondern gerade auch das, was wir nicht vorhersagen
können.
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