Historia interculturalis

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

« Fenêtre »

Takashi Naraha

Clermont-Ferrand

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Thema:

Unser Weltbild, unsere Geschichte...

 

 

Last update:

19.3.2006

 

 

Übersicht

 

 

 

1. Interkulturelle Geschichte: Infos, Links... (gleich im Anschluss)

2. Info zum Buch :

Wolfgang Geiger, Geschichte und Weltbild. Plädoyer für eine interkulturelle Hermeneutik, 2002

3. Hinweis mit einem Abstract auf: Wolfgang Geiger,„Interkulturelle Geschichte und monokulturelles Weltbild“, in: Handlung Kultur Interpretation, Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften, 2/2005.

4. Beantwortung der Frage:

Die Zukunft von der Vergangenheit befreien?

Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?

Beitrag zu einem Essay-Wettbewerb von Wolfgang Geiger

 

 

 

 

 

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1. Interkulturelle Geschichte: Infos, Links...

im Aufbau...

An dieser Stelle sollen zukünftig grundlegende Informationen a) zur Realität der interkulturellen Geschichte Europas seit dem Altertum sowie b) zu einer entsprechenden geschichts­wissen­schaft­lichen und geschichtsdidaktischen Konzeption zusammengefasst und durch bibliografische Hinweise sowie entsprechende Links zu Webseiten ergänzt werden.

Für einzelne Themen­bereiche gilt weiterhin die allgemeine Übersicht von historia interculturalis.

 

 

 

 

 

 

2. / Info zum Buch :

Wolfgang Geiger, Geschichte und Weltbild. Plädoyer für eine interkulturelle Hermeneutik, Frankfurt a.M. (Humanities Online) 2002.

 

 

>>Humanities Online

Erhältlich als Print-Ausgabe sowie als Download (pdf-Datei).

 

>>Kontakt W.Geiger

Kurzpräsentation:

 

Die Untersuchung ist dem Zusammenhang zwischen Geschichte und Weltbild gewidmet und versteht sich als Plädoyer für eine interkulturelle Hermeneutik dahingehend, daß das euro­zentrische Welt- und Geschichtsbild durchforstet wird im Hinblick auf die Dialektik zwischen Eigenem und Fremdem, die Darstellung bzw. Ausblendung des Fremden, des Anderen, all des nicht in unsere spezifische Logik von Geschichte und Entwicklung Hinein­passenden, und zwar in einigen Kapiteln grundsätzlicher theoretischer und epistemologischer Erörterung sowie in anderen, die sich mit Fallbeispielen befassen.


Die Frage nach der interkulturellen Hermeneutik soll nicht zuletzt auch deswegen im Zusammenhang von Geschichte und Weltbild untersucht werden, weil die hermeneutische Methode selbst zunächst am historisch Fremden, das heißt zeitlich Fernen, ansetzte und gerade diese Dimension in der Diskussion um die Interkulturalität bislang zu wenig beachtet wurde, während wiederum die Geschichts­wissenschaft dieses Thema erst seit kurzem für sich zu entdecken beginnt. Last but not least möchte die vorliegende Untersuchung daher auch ganz konkret auf Fragen der Vermittlung interkultureller Geschichte in der Schule antworten, was explizit in einem Exkurs zur Sprache kommt.

 

 

 

Inhalt:

 

 

Vorwort  9

I.  Interkulturelle Hermeneutik:
Ein Problemaufriß
  15

1.  Ausgangspunkt: Globalisierung, Fremdheit, Verständigung  15
2.  »Künstliche Dummheit«: Zum Ursprung der modernen Hermeneutik  35
3.  Interkulturelle Hermeneutik und Ethnologie  54
4.  Das Eigene und das Fremde aus philosophischer und historischer Perspektive  65
5.  »Sprechen mit gespaltener Zunge«: Zum Problem von Verstehen und Verständnis zwischen Hermeneutik, Kommunikation und Ethik  99

II.  Historische Methode, Universalgeschichte und monozentrisches Geschichtsbild  111

1.  »Allgemeine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«  111
2.  Überlieferung und selektives Wissen(-Wollen) oder: Woher kommen wir?  129
2.1.  Schrift und Sinn  129
2.2.  Die (Re-)Konstruktion der griechischen Antike  144
2.3.  Das Konstrukt der abendländischen Tradition  157
2.4.  Konstruktionen der menschlichen Vor- und Frühgeschichte  171
3.  Diffusionismus und zentrisches Geschichtsbild  183
3.1.  Diffusionismus I: Kulturverbreitung durch Migration  183
3.2.  Diffusionismus II: Kulturelle Ausstrahlung, »Chronologik« und monozentrisches Geschichtsbild der Moderne  199

III.  Zur Hermeneutik der Entdeckungsreisen:
Drei Fallstudien zu Weltbild, Fatalität und Zufall
  209

Einleitung  209
1.  Logik des Zentrums, Logistik der Peripherie: Der Beitrag der deutschen Kartographie zur Abbildung der Welt im 15. und 16. Jahrhundert  212
2.  Die Suche nach dem Paradies im Westen: Eine geistesgeschichtliche Prämisse der Kolumbusreise  231
3.  Warum die Welt nicht chinesisch wurde … Die chinesischen See-Expeditionen nach Westen im 15. Jahrhundert  263

IV.  Philosophie, Wissenschaft und Weltbild der Moderne  277

1.  Die Mystifizierung der Vernunft  277
1.1.  Einleitung  277
1.2.  Wissen und Glauben  283
1.3.  Freiheit und Bestimmung  294
2.  Szientismus und Rassismus gestern und heute  297
2.1.  Einleitung  297
2.2.  Ernest Renan und der Ursprung des »modernen« Rassismus  307
2.3.  Determinismus und Darwinismus heute  333

V.  Zum Schluß: »Aus der (eigenen) Geschichte lernen« –
auch zum Thema Interkulturalität
  349

Literatur  368

 

 

Vorwort:

 

 

 

Hermeneutik ist die Kunst zu verstehen, was ein anderer meint, wenn er etwas sagt oder schreibt oder tut. Interkulturelle Hermeneutik bedeutet, nicht nur das ganz Andere, sondern auch das ganz Eigene verstehen zu wollen: das eine, weil es vermeintlich unverständlich, das andere, weil es vermeintlich selbstverständlich ist. Denn beide vermeintlichen Gewißheiten bestätigen sich wechselseitig und konstituieren somit den dialektischen Teufelskreis mangelnder Verständigung durch mangelndes Verständnis, den kein hermeneutischer Zirkel im klassischen Sinne, sondern nur eine hermeneutische Horizontüberschreitung aufzulösen vermag.

Daß es sich dabei um keine realitätsferne (pseudo-)philosophische Thematik handelt, zeigt die Herausforderung der Weltpolitik, für die das Datum des 11. September 2001 steht. Angesichts einer augenscheinlichen Bestätigung der Prophezeiung Samuel Huntingtons vom »Kampf der Kulturen« mutet heute der Ruf nach einem »Dialog der Kulturen« wie ein schwaches Alibi des Gewissens an. Als ein weitaus stärkeres Alibi gegen das eigene Gewissen – nämlich wider besseren Wissens – erscheinen demgegenüber apodiktische Thesen wie jene: Dieser Terrorismus habe nichts mit dem Islam zu tun, ja, dies habe »nichts, aber auch gar nichts mit Religion zu tun Wer mit der gewiß löblichen Absicht, keine Feindbilder aufzubauen oder zu bestätigen, das Problem so dekontextualisiert weil dekulturalisiert, wie es analog auch in der Abwehr der Huntingtonschen These zum Ausdruck kam, entledigt sich bequem der Frage nach dem Warum. Was die Attentäter und ihre Auftraggeber motivierte und ihnen auch Sympathie in gewissen Bevölkerungskreisen sichert, hat nämlich sehr wohl etwas mit Religion zu tun. Religion äußert sich immer auch in ihren extremen und fanatischen Varianten: Kreuzzüge, Glaubenskriege, Djihad, Inquisition und Scharia gehören ebenso dazu, und selbst dann, wenn sie quantitativ nur marginale Erscheinungen gegenüber der Mehrheit der Ökumene oder umma, der Gemeinschaft aller Gläubigen, sind. Religionen und ihre Interpretationen sind kulturelle Phänomene, die man als solche analysieren muß, wenn man ihre extremen Ausprägungen verstehen will. Einst waren die Kreuzzüge natürlich ebenfalls ein religiöses Phänomen, wenn auch nicht nur, aber selbst dann übrigens, wenn sie kein vom Papst direkt in Auftrag gegebenes Unternehmen gewesen wären und wir darin gewiß keinen Ausdruck christlicher Werte zu erkennen vermögen.

 

 

Zu einer adäquaten kontextuellen Analyse solcher Phänomene gehört jedoch nicht nur die Berücksichtigung des intra kulturellen Kontextes (also im aktuellen Fall des islamischen), sondern natürlich auch des interkulturellen Kontextes, in den solche Konflikte eingebettet sind. Folglich geht es dabei auch um eine Selbstanalyse des westlichen Anteils dieses global play. Deswegen ist inter­kulturelle Hermeneutik in Krisenzeiten mehr denn je eine dringliche Herausforderung an Wissenschaft, Bildung und Politik. Dabei ist zunächst eine enorme Kluft zwischen der Verwendung der Begrifflichkeit und der Anwendung ihres Inhalts festzustellen. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ist das Adjektiv »interkulturell« schon zum Modewort verkommen, es unterliegt in den meisten geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen einem geradezu inflationären Gebrauch und einer entsprechenden semantischen Abnutzung: interkulturelles Lernen, interkulturelle Kommunikation, interkulturelle Theologie… – alles, was sich nicht nur mit dem Anderen, dem Fremden, sondern überhaupt mit Kultur befaßt, wird tendenziell »interkulturell«. Darin zeigt sich zunächst das positive Resultat eines Prozesses der Bewußtwerdung und Berücksichtigung kultureller Unterschiede, der in den späten siebziger Jahren in einer Nische der geisteswissenschaftlichen Disziplinen begann, dann im Laufe der achtziger Jahre einen interdisziplinären Impetus bekam und parallel zur politischen Debatte um die multikulturelle Gesellschaft seine derzeitige Omnipräsenz errungen hat. Heutzutage betont der Verweis auf kulturelle Identitäten und Prozesse interkultureller Begegnung – worunter gegenseitige Abgrenzung wie auch Beeinflussung zu verstehen sind – geradezu gegenläufig zur allseits postulierten Globalisierung die Unterschiede in einer Welt, die zwar immer enger zusammenrückt, sich aber um so fremder erscheint, wie sie sich näher kommt, denn geographische ist nicht kulturelle Nähe. Das geographische, kommuni­kative, verkehrstechnische Zusammenrücken bringt nicht unbedingt nur sich Angleichendes zueinander, sondern rückt auch das sich fremd Bleibende näher. In diesem Schauspiel der Dialektik der Globalisierung – analog zur von Horkheimer und Adorno analysierten Dialektik der Aufklärung – spielt daher hierzulande auch das wiederkehrende Gespenst von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Neonazismus eine entscheidende Rolle, so wie auf der anderen Seite der parallele Prozeß von religiös-kulturell begründeten Fundamentalismen.

 

 

(Kultur-)anthropologisch gesehen, ist zunächst einmal die Auseinandersetzung mit dem Anderen – dem Nicht-Ich –, das erstmalig ja immer als Fremdes auftritt, nichts Außergewöhnliches, sondern schlicht die Grundlage jeglichen Lernprozesses. Lernen heißt stets, etwas Neues, also Fremdes, kennenzulernen. Lernen ist also per se eine permanente Horizonterweiterung und damit konti­nuierlich vollzogene Horizontüberschreitung, doch handelt es sich zunächst um die Erweiterung eines individuellen Horizonts hin zu einem kollektiven Horizont innerhalb eines kulturellen Bezugssystems. Anders als für frühere Generationen gibt es jedoch seit der Globalisierung der Information durch die Massenmedien, vor allem durch die Bildmedien, kaum noch wirklich »Fremdes« im Sinne von Unbekanntes. Von allem, was uns an kulturell Fremdem begegnet, haben wir schon irgendein Vorwissen und ihm gegenüber oft ein Vorurteil, das nicht wie früher auf Unwissen, sondern auf Halbwissen beruht. Das Fremde ist für uns längst zum allgegenwärtigen Anderen geworden, das uns herausfordert, nicht weil es fremd im Sinne von unbekannt wäre, sondern weil es (mehr oder weniger) bekannt, aber anders ist. Das Unverständliche an ihm bleibt dann durch die Differenz zwischen Verstehen-Wollen und Verstehen-Können bestehen. Es gibt daher auch keine unvoreingenommene Erstbegegnung mehr, jedes Urteil muß erst Vorurteile ausräumen.

 

1  Cf. Pierre-André Taguieff, La force du préjugé. Essai sur le racisme et ses doubles, Paris: La Découverte, 1987, Gallimard (coll. »tel«), 1990.

2  Cf. Victor Segalen, China – Die große Statue, Frank­furt a.M.: Campus (Ed. Qumran), 1984. [Chine, La grande statuaire, Paris: Gallimard, 1972. – Verfaßt 1917–19].

3  Assimilation mehr als Anspruch denn als Resultat verstanden; hundert­prozentige Assimilation ist ohnehin praktisch unmöglich.

Am Beispiel der zahlreichen Varianten von Xenophobie wird deutlich, wie komplex die interkulturelle Thematik ist. Ganz unterschiedliche, ja sogar vermeintlich gegensätzliche Haltungen gegenüber dem Fremden sind oft paradoxerweise auf gleiche Motive zurückführbar und vermeintlich gleiche Haltungen auf gegensätzliche Motive, während gegensätzlich gemeinte Haltungen gegenüber dem Fremden, wie Ausgrenzung oder Integration durch Assimilation, wiederum identische Abwehrreaktionen hervorrufen können. Daraus hat André Taguieff seine Taxonomie der rassistischen Haltungen (1) entwickelt: Es gibt einen xenophoben und einen xenophilen, einen mixophoben und einen mixophilen Rassismus, diese Haltungen können aber auch Resultat einer subjektiv antirassistischen Einstellung sein. Victor Segalen zum Beispiel, ein französischer Arzt und außergewöhlicher Exotismus-Schriftsteller (gestorben 1919), war xenophil, aber mixophob, seine Liebe zum Fremden wollte das Fremde vor jedem äußeren Einfluß, vor jeder Entfremdung, bewahrt sehen, deswegen denunzierte Segalen in jeder kulturellen Beeinflussung schon eine Verfremdung des Autochthonen. Das ging so weit, daß für ihn das Vordringen des Buddhismus nach China bereits eine Degeneration des originären chinesischen Genies in Geist und Kultur mit sich brachte.(2) Hier wird deutlich, wie eng die Gegensätze – Rassismus und Antirassismus (im weitesten politischen Sinne verstanden) – beieinander liegen, denn auch der xenophobe Rassist wird auf der Trennung der Kulturen bestehen. So gibt es auch eine mixophobe und eine mixophile Xenophobie: Beide stört die Präsenz des Fremden, die erste Haltung will es ausgrenzen, ghettoisieren, Vermischung verhindern, die andere durch assimilatorische Integration (3) als Fremdkörper auflösen; beide gehen dabei Kompromisse ein: die erste darin, daß das Fremde nicht wirklich verschwindet, letztere darin, daß durch die Assimilation des Fremden auch ein Stück des Eigenen verloren geht.

 

 

Ähnlich ist es mit der Hermeneutik, deren Spannungsfeld zwischen der Assimilierung des Fremden durch Rückführung auf Bekanntes und der Verfremdung des Fremden zum »ganz Anderen« schwankt. Kann das Fremde jedoch per definitionem nie ganz durch das Raster des jeweils Eigenen erklärt werden – sonst gäbe es letztlich ja keine Fremdheit –, so ist auf der wissen­schaftlichen Meta-Ebene der Analyse dieses Verhältnisses die Wahrnehmung des Fremden nicht zu verstehen ohne die Analyse des jeweiligen eigenkulturellen Vorverständnisses und des Weltbildes, das aus dem Selbstverständnis in Konfrontation mit der Begrenztheit des Selbst, also der Konfrontation mit der Welt, dem Fremden, dem Nicht-Ich entsteht. Die Voraussetzung des euro­zentrischen Weltbildes wie auch jeder anderen ethnozentrischen Sicht beruht auf der Wir/Ihr-Dichotomie, die auch durch eine moralisch begründete Verurteilung von radikalen Ansichten und Verhaltensweisen (Gewalt) gegenüber dem Fremden nicht automatisch aufgehoben wird; denn ihre Voraussetzung beruht auf Grundlagen unseres allgemeinen Weltbildes, das sich entschieden als ein historisches definiert, aber bislang von keiner »offiziellen« Historiographie als ganzes, sondern allenfalls nur partiell hinterfragt wurde. Doch alle Kulturen und Geschichten dieser Welt sind längst zu einer Universalgeschichte zusammen­gefaßt, haben ihren Platz in unserem universellen Welt- und Geschichtsbild.

 

 

Im Kern geht es dabei um die Vorstellung von einer »eigenen« Geschichte (die europäische Geschichte), wonach allein aus einer inneren Dynamik heraus die der eigenen Kultur innewohnenden Anlagen zur Entfaltung gebracht worden seien, gleichsam als unsere und nur unsere alleinige »Leistung«. Dies ordnet sich in ein universalgeschichtliches Weltbild ein, das nicht nur im engeren Sinne ethno­zentrisch, sondern weit darüber hinaus durch eine monozentrische Geschichts­auffassung mit universalhistorischem Anspruch geprägt ist. Es wird im folgenden zu zeigen sein, daß unsere eigene Geschichte jedoch nicht unsere »eigene« Geschichte in dem Sinne ist, daß sie nur uns gehöre, nur von uns für uns »gemacht« worden sei, daß sie sich nur aus sich selbst heraus, also endogen oder intrakulturell, entwickelt hätte. Vielmehr ist die abendländische oder euro­päische Geschichte von Anfang an und bis heute eine interkulturelle Geschichte, das heißt, sie ist ohne den exogenen Beitrag durch ständigen Kontakt mit anderen Kulturen gar nicht zu denken – und dies im Positiven wie im Negativen: durch gegenseitigen Austausch wie durch gegenseitige Abgrenzung. Ein wichtiger Aspekt der vorliegenden Untersuchung besteht darin zu zeigen, daß, wo scheinbar Abgrenzung herrschte, in Wirklichkeit Austausch stattfand. Der Ansatzpunkt ist daher nicht primär die Suche nach dem Fremden im allgemeinen Sinne, also all dem, was uns als Fremdes gegenübertritt, sondern die kritische Überprüfung dessen, was uns vertraut erscheint.

 

 

Die vorliegende Untersuchung ist somit dem Zusammenhang zwischen Geschichte und Weltbild gewidmet und versteht sich als Plädoyer für eine interkulturelle Hermeneutik dahingehend, daß dieses etablierte Welt- und Geschichtsbild durchforstet wird im Hinblick auf die Dialektik zwischen Eigenem und Fremdem, die Darstellung bzw. Ausblendung des Fremden, des Anderen, all des nicht in unsere spezifische Logik von Geschichte und Entwicklung Hineinpassenden, und zwar in einigen Kapiteln grundsätzlicher theoretischer und epistemologischer Erörterung sowie in anderen, die sich mit Fallbeispielen befassen. Die Frage nach der interkulturellen Hermeneutik soll nicht zuletzt auch deswegen im Zusammenhang von Geschichte und Weltbild untersucht werden, weil die hermeneutische Methode selbst zunächst am historisch Fremden, das heißt zeitlich Fernen, ansetzte und gerade diese Dimension in der Diskussion um die Interkulturalität bislang zu wenig beachtet wurde, während wiederum die Geschichtswissenschaft dieses Thema erst seit kurzem für sich zu entdecken beginnt. Last but not least möchte die vorliegende Untersuchung daher auch ganz konkret auf Fragen der Vermittlung interkultureller Geschichte in der Schule antworten, was explizit in einem Exkurs zur Sprache kommt.

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3. / Hinweis mit einem Abstract auf:

Wolfgang Geiger,„Interkulturelle Geschichte und monokulturelles Weltbild“, in: Handlung Kultur Interpretation, Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften, 2/2005, S.319-342.

Die Zeitschrift wird von Mitgliedern des Instituts für Psychologie der Universität Hannover herausgegeben und verfolgt eine interdisziplinäre kulturwissenschaftliche Zielsetzung, sie erscheint bei Humanities Online, dort findet sich eine ausführlichere Präsentation mit Inhaltsangabe des gesamten Hefts.

In meinem Beitrag greife ich zentrale Aspekte meines Buches Weltbild und Geschichte (s.o.) auf und führe den Ansatz der These von der interkulturellen Geschichte weiter, die einen Anspruch nicht nur auf Erweiterung unseres Geschichtsbildes im Hinblick auf andere Kulturen darstellt, sondern vielmehr auf Erweiterung unseres Blickes auf die eigene Geschichte, da diese selbst zu allen Zeiten von der Antike übers Mittelalter bis heute nicht nur durch interkulturelle Konfrontation, sondern auch und viel mehr durch interkulturellen Austausch bestimmt war. „Unsere Geschichte“ in Europa ist nicht nur unsere „eigene Geschichte“, die moderne euro­päische Wissenschaft sowie die Eroberung der Welt durch die Europäer wären ohne diesen Austausch mit der nah- und fernöstlichen Welt gar nicht möglich gewesen. Dieser Anspruch auf Anerkennung interkultureller Geschichte als historischem Faktum stellt ein tradiertes monokulturelles Weltbild in Frage, das sich in vielfältigen nicht nur populären sondern auch wissenschaftlichen Stereotypen zur Legitimation einer euro­zentrisch geprägten Vorstellung universeller Geschichte etabliert hat.

In dem Artikel wird dies an den zentralen identifikatorischen Schnittstellen europäische Geschichte aufgegriffen: am Mythos vom „dunklen Mittelalter“, dem die Realität  des Wissen­schafts­aus­tausches mit dem Islam und dessen Vermittlung antiken aber auch orien­talischen Wissens als Vorbereitung von Renaissance und Moderne gegenüber gestellt wird, sowie am Mythos des Ursprungs dieser Wissenschaft in der griechischen Antike und dem damit postulierten Traditionssprung zur Renaissance, dem der interkulturelle Kontext der Antike, d.h. der Austausch mit den orientalischen Wissenschaften, entgegengehalten wird. Eingeleitet werden diese Analysen mit der Widerlegung der These vom (Früh-)Kapitalismus als Voraussetzung des Kolonialismus durch den Nachweis des umgekehrten Kausalverhältnisses: erst der Kolonia­lismus ermöglichte die Entstehung des industriellen und damit eigentlichen Kapitalis­mus.

 

 

 

 

 

© W. Geiger 2004

4. / Beantwortung der Frage:

Die Zukunft von der Vergangenheit befreien?

Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?

von Wolfgang Geiger

 

 

Einleitung

I. Die Zukunft der Vergangenheit

II. Die Vergangenheit der Zukunft

III. Fatalität und Individualität in der Geschichtsschreibung und im »kollektiven Gedächtnis« heute

IV. Was daraus folgt…

 

Der nachfolgende Text entstand 1999 als Beitrag zum Essay-Wettbewerb der Zeitschrift  Lettre international und der Intitiative Weimar 1999, der nicht reüssierte. Ich nahm später die meisten Gedanken daraus in mein Buch Geschichte und Weltbild auf.

In dem Text geht es um die Frage, ob Geschichte einen „Sinn“ hat, das heißt einem bestimmten Sinn folgt, und welchen Sinn die Beschäftigung mit Geschichte hat. Es geht also um die Frage nach Fatalität und Zufall in der Geschichte, um die Analyse unseres heutigen Geschichts- und Weltbildes im Rückblick auf seine Entstehung und Entwicklung.

Dem Stil des Essays gemäß wurden Fußnoten auf das absolut Notwendige beschränkt. Der Text wurde leicht überarbeitet, die damalige Rechtschreibung unverändert beibehalten.

 

 

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Alles lehrt, indem sie älter wird, die Zeit.

Der gefesselte Prometheus

 

 

 

 

 

Einleitung

 

 

Die moderne Forschung bemüht sich gegen­­wärtig um den Nachweis dessen, was die Altvorderen auf ihre Weise schon seit langem wußten: daß Bewußtsein durch Erinnerung ent­steht. Erst mit der Fähigkeit, den Horizont des Hier und Jetzt zu über­winden, beginnt die Scheidung von Sein und Bewußt­sein. Doch was der Mensch­heit mit ihrer ersten Erin­nerung bewußt wurde, und was die Erinnerung an die Erin­nerung in den verschiedenen Kulturen auf die eine oder ande­re Weise fest­gehalten hat, wird für den modernen Menschen erst zur Ge­wißheit, wenn er es bewiesen hat, das heißt, wenn der unfaß­liche psychi­sche Vorgang phy­sisch greif­bar wird, wenn be­stimmte mate­rielle Träger im­mate­riel­len Wissens, seit Ri­chard Dawkins Meme genannt, gleich­sam dingfest ge­macht wer­den. Als liege in den Memen erst die Ge­wißheit der Mnemo­syne: Am An­fang war Erinnerung. Doch statt der Kul­turwissenschaft naturwissenschaftlich zur Seite zu stehen, zielt diese Forschung – oder jedenfalls eine bestimmte und bestim­mende Tendenz –, darauf ab, das Phä­nomen Kultur auf sozio­biologische Deter­mi­nanten zu redu­zieren und damit ad absur­dum zu führen, als sei Bewußtsein sozusagen nur eine Hal­lu­zination der Materie.

          Mit der Erinnerung entsteht jedoch nicht nur das Be­wußtsein von Vergangen­heit, sondern auch das von Zu­kunft, und damit auch die Frage nach dem Sinn unserer Existenz. Die Gegen­wart, im unbe­wußten Dasein zeit- und ort­los, schrumpft durch das Gedächt­nis zur Flüchtigkeit des Augen­blicks, den man nicht fest­halten kann; dies zu wollen – Ver­weile doch, du bist so schön! ­– gleicht einem Pakt mit dem Teufel, wenn man im Fortschritt der Geschich­te ihren Sinn erkennt. Als Francis Fukuyama 1989 das Stich­wort vom »Ende der Geschichte« lancierte, an­ge­sichts der histo­ri­schen Revision der Revolution, die 1917 eine Alter­native zur kapitalistischen Gesell­schaft in Aus­sicht gestellt hatte, rief er be­zeich­nenderweise gera­de bei jenen Zeit­genossen Wider­spruch her­vor, auf deren Zuspruch er eigent­lich ge­setzt hat­te. Denn die historische Verirrung jener Utopie, die eine andere Zu­kunft als diejenige versprach, die aus der schieren Fortsetzung der Gegenwart entstünde, vermag uns gleichwohl nicht so ein­fach mit der Vor­stellung zu ver­söhnen, daß deswegen die gegen­wär­tige die beste aller mög­lichen Wel­ten sei. Auch wenn man jetzt wieder mit Hegel das 1789 ein­geläutete Zeitalter als »das letzte Stadium der Ge­schichte« be­greift, so liegt doch auch der Ge­schichts­vision die­ses Zeit­alters eine Teleologie zu­grunde, die über das Vor­han­dene hinaus­weist und uns die Vor­stel­lung, al­les bleibe im Prinzip so, wie es ist, und sei folglich nicht be­einflußbar, ge­radezu uner­träg­lich macht, solange wir Men­schen sind, die Ge­schichte nicht nur erleiden, sondern auch machen wollen. So fällt es uns schwer, wie Karl Löwith in Weltgeschichte und Heilsgeschehen schrieb, die Zukunft nicht in Kategorien von »Er­wartung und Hoffnung« zu denken, was natürlich bedeutet: Erwartung und Hoffnung auf etwas anderes, als was ist. Und weil wir diese Erwartung und Hoffnung haben, schauen wir auch zurück, denn wir sind trotz aller Desillusionierungen des zuende­gehenden Jahr­hunderts im Grunde immer noch jene »histori­schen Menschen«, die einem »okzidentalischen Vorur­teil«, gar einem  »verzehren­den histori­schen Fieber« ver­fallen sind, wie Nietzsche in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben kritisierte: »Der Blick in die Vergangen­heit drängt sie zur Zukunft hin, feuert ihren Mut an, es noch länger mit dem Leben aufzunehmen, entzündet die Hoffnung, daß das Rechte noch komme, daß das Glück hinter dem Berge sitze, auf den sie zuschreiten.« Doch auch die Utopie der Gesell­schaft, die sich als die siegreiche erwies, scheint unein­lösbar zu bleiben: Wir glauben nicht mehr naiv, daß das Fort­schreiten der Geschichte zwangs­läufig einen Fortschritt zur Ver­nunft dar­stellt, denn Freiheit ist wohl eine not­wendige, aber keine hin­reichende Voraus­setzung für Ver­nunft. Nicht die Voll­en­dung gesell­schaft­licher Ent­wicklung zur Freiheit, son­­dern die Ge­fahr, die wir in ihrem freien Lauf erkennen, bringt uns allen­falls dazu, Geschichte an­halten zu wollen. Mora­torien zu bestimmten Forschungen und Ver­zicht auf An­wen­dung des technisch Möglichen sind Versu­che, unwünsch­bare Ent­wick­lungen aufzu­halten; Ver­suche, deren Grad an Zag­haf­tigkeit mit dem un­se­rer Skepsis über den Stellen­wert von Moral in der heuti­gen Welt kon­kurriert. Und so ist am Ende des 2. Jahr­tau­sends christ­licher Zeit­rechnung die Ge­schichte keineswegs am Ende, denn die Zu­kunft er­scheint ungewis­ser als je zuvor. Es war und ist wohl solche Ungewißheit oder – in Begriffen von Lukács und Fromm – jene »transzendentale Heimat­losigkeit« unseres säku­larisierten Weltbildes, die uns seit mehr als zwei Jahr­hunderten aus »Furcht vor der Freiheit« in neue Deter­minismen flüchten läßt. Die gestellte Doppelfrage »Die Zukunft von der Ver­gangenheit befreien? Die Vergangenheit von der Zukunft be­freien setzt zu Recht die Idee einer wechselseitigen »Ge­fangen­schaft« zwischen Vergangenheit und Zukunft voraus, zumindest in unserem Geschichtsverständnis. Im folgenden soll dies im historischen Rückblick vor aktuellem Hinter­grund beleuchtet werden; die sich daraus ergebenden Konsequenzen beantworten die Frage.

 

 

 

I. Die Zukunft der Vergangenheit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Johann Gustav Droysen: Texte zur Geschichtstheorie, herausgegeben von Günter Birtsch und Jörn Rüsen, Göttingen 1972. [Verf. 1857]

 

Entsteht individuelles Bewußtsein durch Erinnerung, so schafft gesammelte Erinnerung kollektives Bewußt­sein durch Über­lieferung. In den Traditionen münd­licher Überlieferung wird die Erin­nerung von Mensch zu Mensch weitergegeben, und wenn sich auch die Details von Erzäh­lungen im Laufe der Gene­rationen verändern, so bleibt doch meistens der Sinn er­hal­ten, denn die »Moral von der Geschicht’« ist die Botschaft, um die es geht. Mit der Erfindung der Schrift wird je­doch die münd­liche Über­lieferung suspekt, nämlich zum Mythos, was ur­sprünglich »Erzählung« heißt und seine heutige Bedeutung durch die Gegenüberstellung zum Logos erhält, ursprünglich die »Sammlung«, dann der »Sinn«. Das »Gesammelte«, nämlich das schriftlich Fixierte, wird »Sinn« und damit Auto­rität für die Nach­welt durch die Illusion, es sei die Wahrheit selbst: »Der Geist des Verfassers und der Geist der Handlungen, von denen er erzählt, ist einer und derselbe«, erklärte zum Beispiel Hegel in der Einleitung zu seinen Vor­le­sungen über die Philosophie der Geschichte, »die Ge­schichtsschreiber binden zusammen, was flüchtig vorüber­rauscht, und legen es im Tempel der Mnemosyne nieder, zur Unsterblichkeit.« Die Revolution zur Schriftkultur rief jedoch von Anfang an auch Skepsis hin­sichtlich ihrer (un-)absehbaren Konsequenzen hervor: In der berühm­ten Passage in Platons Phaidros hält der ägyptische König Thamus dem Gott der Buch­staben, Thoth, vor, daß die Men­schen nun­mehr ihre eigene Fähig­keit zur Er-inne­rung an die Schrift ver-äußert haben. Mit der Schrift werden jedoch Unmit­tel­bar­keit und Einheit der Über­lie­ferung ge­bro­chen, Wort und Sinn, weil Erzählung und Inter­pretation, ge­trennt, und mit der Distanz zu den Texten wächst das Problem ihres Ver­stehens. So ent­steht denn die Wissen­schaft vom Ver­stehen der Texte gleich­sam aus einer zweiten baby­lo­nischen Sprach­ver­wirrung her­aus, von der die Aus­einan­der­setzungen um die richtige Inter­pretation der heiligen Schriften in vielen Religio­nen, namentlich den monotheistischen, bis zum heutigen Tage eine regelrechte Blutspur in der Ge­schichte hinter­lassen haben.

Der Umgang mit der Vergangenheit gibt daher überall und zu allen Zeiten ein beredtes Zeugnis vom je­weiligen Selbst­ver­ständ­nis der Gegenwart. In den Upanishaden heißt es, daß selbst die Götter vom Himmel fallen, wenn ihre Er­innerung versagt und sich ihr Gedächtnis verwirrt. Die erste Aufgabe der Kulturträger war und ist somit, die Erin­nerung wachzu­halten, um aus ihr schöpfend auf die ewigen Fragen zu ant­worten, mit denen später Paul Gauguin sein wich­tigstes Ge­mälde überschrieb: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Die Beantwortung dieser unauf­löslichen Fragen-Trinität zu ver­ges­sen, bedeutet für den Menschen nichts anderes, als das erwähnte Schicksal der Götter zu erleiden. Die Vergangenheit wurde und wird daher nie um ihrer selbst willen erforscht. Auch wenn die histori­sche Forschung im Zuge ihrer Spezia­lisierung auf immer klei­nere Details heute nur noch selten explizit grund­sätzliche Fragen stellt, geschweige denn beant­wortet, so beruht unser Inter­esse an der Vergangenheit doch nach wie vor auf dem Wunsch, aus der Geschichte Leh­ren für die Gegenwart zu ziehen und folg­lich die Vergangen­heit um der Zu­kunft willen zu erfor­schen. Die Tat­sache, daß gerade in den letzten Jahren, und beson­ders in Deutschland, der Histo­rie wieder der Wunsch nach Sinnstif­tung angetragen wird, un­terstreicht dies nur. Eine an­dere Frage ist, ob sie sich dieser Wertschätzung würdig er­weist.

Historia magistra vitae bedeutete ursprünglich das histo­rische Beispiel als Anschauung zur moralischen Beleh­rung; nicht den historischen Ort einer untergegangenen Zivi­lisation namens Atlantis wollte Platon darstellen, sondern an diesem Beispiel zeigen, wie eine Zivilisation auf dem Höhepunkt der Macht, von den Göttern für ihre Hybris bestraft, untergehen kann. Selbst die Frage, ob Atlantis wirklich existiert hat, spielt in diesem Gleichnis gar keine Rolle; daß sich spätere Zeitalter vordringlich mit der geographischen und historischen Lokali­sierung von Atlantis befaßt haben, ist ein Paradebeispiel für das oben erwähnte Problem schriftlicher Tradition: Was schrift­lich fixiert ist, wird für historisch »bare Münze« genom­men.

Da in der Antike der Ausgleich zwi­schen Hybris und Nemesis als Grund­gesetz einer zyklisch ab­laufenden Ge­schich­te galt, hat­te jedes historische Beispiel zeitlose Bedeu­tung. Ge­schichts­schrei­bung in ei­nem systema­ti­schen Sinne diente dazu, wie Hero­dot darlegt, »die mensch­lichen Ge­schehnisse im Lau­fe der Zeit nicht in Vergessenheit ver­sinken sowie bedeu­ten­de und bewunderns­werte Taten [...] nicht ohne rüh­mende Kunde zu lassen Die Zukunft galt der Antike als ungewiß, weil im uner­gründlichen Fatum der Götter be­schlossen. Zwar versuchte man dennoch, sie durch Orakel­befra­gungen zu enträtseln, doch blieb der Ver­such, dadurch auf sie ein­zuwirken, zum Schei­tern verur­teilt. Alle Orakelgeschichten sind nur Varianten einer einzigen Ge­schichte, deren Botschaft lautet: Es ist sinnlos, den Lauf der Geschich­te beeinflussen zu wol­len; wer das Schicksal über­listen will, wird von ihm überlistet. Ent­sprechend bilan­zierte Poly­bios den Untergang des Maze­donierreiches, indem er die pro­phe­tischen Wor­te eines Philo­so­phen zitierte, der dies lange zuvor schon vorausgesagt hatte, weil »das Schick­sal nie­mals mit dem Leben paktiert« und »seine Macht da­durch zu beweisen pflegt, daß es unsere Hoff­nungen zu­nich­te macht.« Gewiß, die antike Kreis­lauf­theorie der Geschichte erlaubte somit, »unter Berück­sichtigung der Vergangenheit über die Zukunft Vor­aus­sagen zu ma­chen«, wie Polybios einräumt, doch be­stätigten diese wieder nur das Schicksalshafte der Ge­schichte, wo­nach sich alles »natur­gemäß vollzieht«.

Lehren aus der Geschichte ziehen wir heute nicht mehr an­hand zeitloser Analogien; wenn uns die jüngste Ver­gangen­heit noch Exempel zur Nach­ahmung oder eher zur Ab­schreckung liefert, dann, weil diese Vergangenheit noch nicht »ver­gehen« will – um die Formel aufzugreifen, mit der Jürgen Haber­mas präg­nant den Ver­such einer gewis­sen Ver­gangen­heits­bewäl­tigung kon­ter­karierte. Die Ent­stehung des modernen Begriffs der Ge­schichte, der, wie Reinhart Koselleck in seinen bril­lan­ten be­griffs­geschichtlichen Untersuchungen nachvoll­zogen hat, auf einmal nicht mehr nur eine Erzählung von Ver­gange­nem be­deutete, sondern die geschichtliche Ent­wick­lung als ganzes ge­sehen, fiel mit dem Epochen­wechsel zu­sam­men, dessen Höhe­punkt die Franzö­si­sche Revolution dar­stellt. Durchlief diese zunächst eine Phase der Bilder­stür­merei, die nach dem Motto »Wir wollen nur von heute ab datieren!« alle Relikte des Ancien Regime einschließlich der christlichen Zeit­rech­nung zerstören wollte, »um jede ge­schichtliche Erin­ne­rung auszu­löschen«, wie es der Revo­lu­tionär Barère for­mu­lierte, so er­kannte man alsbald einen Sinn darin, statt­dessen die Zeug­nisse der Vergangenheit zur staats­bür­ger­lichen Bildung der Nachwelt aufzu­bewahren. Die zeit­liche Trennung wurde in eine räum­liche übersetzt, die Zeugnisse der Ver­gangenheit, die eben noch Gegen­wart ge­we­sen war, dem öffent­lichen Raum entzo­gen und dadurch ihrer Symbolmacht be­raubt: Es ent­stand das Museum.

Gibt es, nebenbei bemerkt, zu dieser Auseinandersetzung um den Um­gang mit der jüngsten Vergangenheit nicht auch eine Parallele – eine umgekehrte freilich! – in der Revolution von 1989 und unse­rem heutigen Verhältnis zur DDR-Ver­gangenheit? Macht es nämlich die fast vollständige Ausradie­rung aller negativen Zeugnisse dieses »Ancien Régime« (namentlich der Mauer) nicht gerade erst möglich, daß eine einäugige Nostalgie deren positive Aspekte, die es gewiß auch gab, so überbetonen kann?

Vor zweihundert Jahren setzte sich das sich schon in der Aufklärung andeutende Be­wußt­sein, einen Epochen­um­bruch zu er­leben, schneller in Europa durch als die Revolution selbst. In Deutschland wurde dabei der Mangel an Revo­lution in der Praxis durch einen Überschuß an deren Theorie wett­ge­macht. Die Philosophie nahm sich verstärkt der Geschichte an und vollendete den Prozeß der Auf­klärung in einer Geschichts­philo­sophie, die sich als säku­lari­sierte Heilslehre zu er­kennen gab, wo die Vernunft als Natur­gesetz der Ge­schichte die Rolle der gött­lichen Vor­sehung übernahm. Daß der deutsche Idealismus im dia­lektisch dop­pel­ten Sinne das Erbe der Aufklärung antrat, als deren Fort­setzung und Überwindung zugleich, kam schon 1796 im »älte­sten Systemprogramm« Hegels in der beredten Formel von einer »Mythologie der Vernunft« zum Ausdruck.

Es er­scheint heute para­doxal, aber wohl nur infolge der Distanz, daß die Geschichts­philo­sophie einerseits, nach den Worten in Hegels Vorle­sungen, das »Bewußt­sein des Geistes von seiner Freiheit und eben damit die Wirklichkeit seiner Frei­heit überhaupt« zum »End­zweck der Welt« erklärte, ande­rer­seits aber den Gang der Geschichte einem rigorosen Deter­mi­nis­mus unterwarf, einem »Plane der Natur« als »Vor­sehung« der Weltgeschichte, wie bereits in Kants Idee zu einer allge­meinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, die mit dem Satz beginnt: »Was man sich auch in meta­physi­scher Absicht für einen Begriff von der Freiheit des Willens machen mag, so sind doch die Erschei­nungen der­selben, die menschlichen Hand­lungen, eben so wohl als jede andere Na­turbegebenheit nach allgemei­nen Natur­ge­setzen bestimmt.«

Einerseits bestätigte man so den von Voltaire in seinem Candide meisterhaft karikierten Optimismus Leibniz­scher Prä­gung von der »besten aller möglichen Welten«, den Fichte in seiner Bestimmung des Menschen zur »Kette der strengen Na­turnot­wendigkeit« zurechtstutzte: »Was da ist in der Natur, ist notwendig so, wie es ist, und es ist schlechthin unmög­lich, daß es anders sei. Ich trete in eine geschlossene Kette der Erschei­nungen, da jedes Glied durch sein vorher­gehen­des bestimmt wird, und sein nachfolgendes be­stimmt An­derer­seits aber unterwarf man die Rechtfertigung der Gegenwart dem Vor­behalt des Zukünftigen durch das vermeintliche histo­rische Natur­gesetz des »Triebes zur Per­fekti­bili­tät«: Was ge­schah, konnte nicht anders gesche­hen, aber es kann nur noch besser werden. Statische und dyna­mische Welt­sicht, Vertei­di­gung des Bestehenden und Ruf nach Ver­än­derung wurden im »Prinzip der Entwicklung« miteinander versöhnt, wonach laut Hegel der Geschichte »eine innere Bestimmung, eine an sich vorhandene Voraus­setzung zu­grunde liege, die sich zur Existenz bringe Folg­lich unter­scheidet sich dieser Deter­mi­nismus durch seine Teleo­logie von jenem der Antike, der auf dem Prinzip der ewigen Wie­derkehr und damit auf dem der Vergänglichkeit des Bestehenden beruh­te (»Das Schicksal pak­tiert nicht mit dem Leben«). Welch ein Unterschied zum Credo des Histo­rismus, wie es Gervi­nus 1837 zum Ausdruck brachte, als er schrieb, der Historiker müsse »ein Parteimann des Schicksals sein.« Als Linksliberaler war Gervinus kein typi­scher Vertreter jener Schule, mit dieser Aussage aber dennoch repräsentativ für die damals gültige der »Konfigurationen des Historis­mus«, die Jörn Rüsen in seiner gleichnamigen Unter­suchung analysiert hat.

Natürlich galt diese Überzeugung vom Wirken einer weltgeschichtlichen Vorsehung nicht jedem historischen Detail; auch offenbart sie sich nur jenem, der das Große und Ganze zu überschauen vermag (dem Philosophen), wie Kant präzisiert: »Einzelne Menschen und selbst ganze Völker den­ken wenig daran, daß, indem sie, ein jedes nach seinem Sin­ne und einer oft wider den andern, ihre eigene Absicht ver­folgen, sie unbe­merkt an der Naturabsicht, die ihnen selbst unbekannt ist, als an einem Leitfaden fortgehen.« Das ge­schichtliche Bewußt­sein, für das die Geschichten zur Ge­schichte werden, entstand nach Droysen [1] erst dann, als man die Aufgabe er­kannte, »daß Gottes Schöpfung weitergeführt werde in der Schöpfung einer neuen, der sittlichen, der ge­schichtlichen Welt Daß Droysen dies entsprechend mit Be­ginn des Christentums ansetzt, ist nicht nur ein religiöses Be­kenntnis, sondern ist auch insofern zutreffend, als das Christentum im Zuge eines langen Prozesses der Ent­zauberung der Welt einen entscheidenden Schritt zur Histo­risierung des Messianismus tat – Voraussetzung für die spätere Säku­larisierung der Heils­er­wartung. Denn die Zeit zwischen der Ankunft Christi und seiner Wie­derkehr ist keine »leere Zeit« des Wartens, son­dern »die ent­scheidende Zeit der Be­währung« im Hinblick auf die Erlö­sung nach dem Tode, betont Karl Löwith in Weltgeschichte und Heilsgesche­hen. »Das moderne Ge­schichts­be­wußt­sein«, bilan­ziert er den näch­sten Schritt, »hat sich zwar des christlichen Glaubens an ein zen­trales Ereig­nis von absoluter Bedeutung entledigt, aber es hält an seinen Voraus­setzungen und Konsequenzen fest, näm­lich an der Ver­gangenheit als Vorbereitung und an der Zukunft als Erfül­lung, so daß das Heilsgeschehen auf die unpersönliche Teleologie einer fortschreitenden Entwicklung reduziert wer­den konnte.«

Diese Philosophie prägte nicht nur das moderne Ge­schichtsbild zu Beginn seiner Entstehung, sie hatte und hat Auswirkungen auf die Ge­schichts­schreibung auch dort und bis heute, wo man es nicht unbedingt erwartet. Es beginnt mit der Idee, daß bestimmte Völker, Staaten, Kulturen (das Abendland) Träger der histo­rischen Entwicklung seien, daß, um mit Droysen zu spre­chen, »die Geschichte mit so un­be­denklicher Entschie­denheit die einen Völker und Staaten beachtet und die ande­ren zur Seite wirft Nicht nur in die­sem Punkte waren sich bürgerliche Historiker auf der einen Seite und Revo­lutionäre wie Marx und Engels auf der anderen einig, deren universal­geschicht­liche Visio­nen sich bis hin zur heute so ge­nannten Globali­sierung ja im Großen und Ganzen deck­ten, weil nur darin fundamental unterschieden, daß die kapi­ta­listische Phase für die Autoren des Kommunisti­schen Mani­festes zwar ein not­wendiges, aber nicht das letzte Stadium der Geschich­te dar­stellte. Alles Historische aber einem Sinn der Geschichte unterzuordnen, der sich mit dem Verschwinden des Erlösungs­gedankens auf ihren Lauf redu­zier­t, be­deutet nichts anderes als eine moralisch be­denkliche Rechtfertigung dessen, daß die Ge­schichte über Leichen geht. Dies findet sich noch bei einem Philosophen wie Karl Jas­pers, der durch seine Achsenzeit-These als einer der ersten Vertreter eines inter­kul­turellen, weil nicht mehr euro­zentrischen, Ge­schichts­bildes gilt. In Wirk­lich­keit stellt jedoch Jaspers’ Konzept eben­falls ein hierar­chisches Welt­bild dar, an dessen Spitze die euro-asiati­schen Hoch­kul­turen stehen und an deren Spitze wiederum das Abendland. Und »was an der Entfaltung der Achsen­zeit nicht Teil gewinnt, bleibt ‘Natur­volk’ in der Art des un­geschicht­lichen Lebens der Jahr­zehn­tausende oder Hun­dertau­sende«, bilanziert Jaspers, »für viele Natur­völker wurde die Berüh­rung Grund ihres Aus­sterbens Die­se elegant durch den Logos der Geschichte bagatellisierte, wenn nicht gar legitimierte Aus­rottung zahl­rei­cher Völker durch deren »Be­rührung« mit der »Zivilisation« im Zuge des Kolonialismus legte Jaspers nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem Werk Vom Ursprung und Ziel der Ge­schichte dar, obwohl er darin aus der jüng­sten Er­fahrung heraus Ideologie und «Total­an­schau­ung« der Ge­schich­te über­winden wollte. Am Bei­spiel der Konzentra­tionslager warnt er deswegen vor der Ver­drängung der Wahr­heit aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus, das heißt davor, »dies Furcht­bare sich zu verschleiern«, indem man den Gang der Ge­schich­te »wie ein Naturgeschehen« auf­fasse. Doch die Vor­stellung von der Macht der Geschichte und der Ohnmacht des Einzelnen sind untrennbar dialektisch miteinander ver­bunden, und zwar bei Jaspers selbst: Was er als Ver­drängungs- und Rechtfer­tigungs­prozeß angesichts der jüng­sten Geschichte kritisierte, dem unterlag er selbst im Hin­blick auf die weiter zurück­liegende Geschichte. Was ein frappierendes Beispiel für das allgemeine Phänomen ist, daß sich in der menschlichen An­schauung das Ver­gangene mit zunehmender Distanz durch seine schlichte Fakti­zität von selbst legitimiert. Der Euphe­mis­mus vom »Aus­sterben der Naturvölker« verweist jedoch be­wußt oder unbe­wußt, jedenfalls deutlich auf den Fundus jener Ideo­logie, deren sprach­liches Relikt die Vokabel ist: das darwini­stische Welt­bild, das im letzten Drittel des 19. Jahr­hunderts mit Macht zum Zuge ham und heute sein come-back feiert.

 

 

II. Die Vergangenheit der Zukunft

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[2] In dem politischen Magazin La marche du siècle am 13.3.1996. Ich zitiere nach meiner Mitschrift.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[3] Vgl. Valentin Brai­tenberg / Inga Hosp (Hg.): Evolution. Entwicklung und Organi­sierung in der Natur. Das Bozener Treffen 1993, Reinbek 1994.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[4] »Materie, Geist und Schöpfung«, in: Hans Jonas: Gedanken über Gott, Frankfurt a.M. 1992.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[5] H. Guilleminot: La vie, ses fonctions, ses origines, sa fin, Paris 1916.

 

Der im Zuge der sogenannten Globalisierung in alle Lebens­bereiche eindringende Universaldiskurs von der notwendigen An­passung an den Gang der Geschichte oder des Welt­markts, was letzten Ende eins sei, wird nicht nur in Amerika unver­blümt als das gefeiert, was er ist: Neo-Darwinismus. Ange­wandte Evolu­tions­theo­rien von der natür­lichen Auslese er­schei­nen in nahezu allen wis­sen­schaftlichen Disziplinen, und Auto­ren wie Daniel Den­nett fordern entspre­chend eine Uni­ver­salisierung von »Dar­wins gefährlichen Ideen« in Kosmo­logie, Psychologie, Kul­tur, Ethik, Politik und Reli­gion. Einige Standardwerke wie Richard DawkinsDas egoistische Gen oder Edward Wilsons Sozio­biologie sind, ihrer Zeit voraus, schon vor zwei Jahr­zehnten er­schienen und stießen damals auf heftigste Kritik, während sie heute allgemei­nen Applaus ernten. In diesem Sinne wohl er­klärte auch ein renom­mierter französischer Wissenschaftler im französi­schen Fern­sehen bei einer Diskussion über den bisherigen Gang der Welt­geschichte und die Aussichten des 21. Jahrhunderts: »Gesell­schaften gehen unter, wenn sie nicht intelligent genug sind [2] Im illustren Kreis der dort ver­sammelten Gelehrten blieb dies sogar un­wider­sprochen. Wäh­rend jedoch für den einen die darwini­stische Auslese zwi­schen Gesell­schaften gilt, so für den ande­ren auch innerhalb von Ge­sell­schaften. Die wahr­scheinlich abstruseste, aber letztendlich in sich logischste Variante davon, nämliche ihre Anwendung zur Erklärung der Wissenschaft selbst, das muß leider gesagt wer­den, brachte Stephen Haw­king ein­leitend in seiner Kur­zen Ge­schich­te der Zeit zu Papier, wonach die Ent­wicklung der Wis­sen­schaft durch »Dar­wins Prinzip der Selektion« garan­tiert sei, da »einige Indivi­duen besser als andere in der Lage sind, die richtigen Schluß­fol­gerungen über die Welt um sie her zu ziehen und entspre­chend zu han­deln. Für diese Indi­viduen ist die Wahr­schein­lichkeit größer, daß sie über­leben und sich fort­pflan­zen, und deshalb werden sich ihr Verhalten und Denken durchsetzen Der Dar­winismus sorgte also selbst dafür, daß er sich eines Tages auch in der Wissenschaft durchsetzt. Quod erat demonstrandum.

Die Anwendung der Darwinschen Lehre auf die mensch­liche Gesellschaft, und zwar in dem genannten dop­pelten Sinne, begann unmittelbar nach der Veröffentlichung von Darwins Vom Ur­sprung der Arten. Im Vorwort zur ersten französischen Ausgabe von 1862 machte die Philo­sophin und Über­setzerin Clémence Royer deutlich, wie »schäd­lich und wider­natür­lich« die Vor­stellung von einer Gleichheit der Men­schen sei und wie ver­hängnisvoll, aus Nächstenliebe »das Starke dem Schwachen zu opfern, die Guten den Schlech­ten, die körper­lich und geistig Begabten den Laster­haften und Bösartigen.« Stattdessen be­dinge das Gesetz des Fort­schrit­ts durch natür­liche Auslese, daß die »Höher­wer­tigen« (Rassen, Men­schen...) die »Minder­wer­ti­gen« ver­drängen. In den folgen­den Jahren schlossen sich eine Menge internationaler Wissen­schaftler dieser These an, so daß Darwin sie selbst 1871 in sein zweites Hauptwerk Die Ab­stammung des Menschen auf­nahm: »Unter den Wilden werden die an Körper und Geist Schwachen bald eliminiert; die Über­lebenden sind gewöhn­lich von kräf­tig­ster Gesund­heit. Wir zivi­lisierten Men­schen dagegen tun alles mögliche, um diese Aus­scheidung zu ver­hindern. [...] Nie­mand, der etwas von der Zucht von Haus­tieren kennt, wird daran zweifeln, daß dies äußerst nach­teilig für die Rasse ist

Heutzutage macht sich die umfassende Genforschung daran, die Prämissen jenes Sozial­dar­wi­nis­mus endgültig zu »beweisen«, indem für alle positiven und negativen Eigen­schaf­ten vermeintliche Erbanlagen gefunden werden: ein Gen für die Intelligenz, ein anderes für die Krimi­nalität, eines für den Ego­ismus, den man als indivi­duelle Ausprägung des gattungs­mäßigen Erhal­tungs­triebes zur neuen Tugend erhebt; der »Beweis« ist in den mei­sten Fällen jedoch nur eine Schluß­folgerung aus Häufig­keits­relationen, deren me­thodologische Grundlage selbst höchst um­stritten ist. Um die im engeren Sin­ne wissenschaftliche De­batte soll es hier nicht gehen; daß ererbte Faktoren eine Rolle bei der Ausprägung von Eigen­schaften spielen, ist ja unum­stritten, worum es geht, ist ihr Stellenwert. Die Über­nahme darwini­stischer Prin­zipien in eine allgemeine Vorstel­lung von der kulturellen Evolution der Menschheit, in das Geschichts­bild im engeren und in die Wis­senschaft im wei­te­ren Sinne, hat jedoch Fol­gen von größerer Trag­weite, die sich keines­wegs auf of­fen­kundige Manifesta­tionen von Sozialdar­wi­nismus und Eu­ge­nik eingren­zen las­sen.

Als »besonders radikale Betrachtung des Lebens« quali­fiziert der Kognitionsforscher Douglas Hof­stadter in einem Sammel­band von Ideen zum Thema Evolution [3] Richard Daw­kins’ Theorie des »egoistischen Gens«, wonach »unser gesam­ter Organismus eine ‘Überlebens­ma­schine’ zur Selbst­reproduk­tion mikroskopi­scher Gene ist. Dies ist eine moder­ne Art zu sagen, daß ein Huhn nichts weiter ist als das Mit­tel, mit dem ein Ei ein anderes Ei pro­duziert. Möge sie ge­fallen oder nicht, diese Art, die un­durchschaubare Proble­ma­tik des Lebenssinns zu erklären, ist die plausibelste wissen­schaftliche Antwort auf die Frage: ‘Was ist Leben?’«. Aus­sagekräftiger als viele in Statistiken und Wahrscheinlich­keitshypothesen aufgelöste Er­gebnisse dies­bezüglicher For­schungen sind in der Tat solche State­ments, die die Sache auf den Punkt bringen. Das genannte Beispiel ist besonders erhellend: Der Autor ist der Meinung, daß die »Problematik des Lebenssinns undurchschaubar« sei, aber er kennt die »wis­senschaftlich plausibelste Antwort« darauf. Die Frage, warum etwas ist, wird jedoch tautologisch ad absurdum ge­führt: »Es ist, damit es ist Daw­kins selbst hat in einer Neu­auflage seines Buches den Kriti­kern geantwortet: »Ich trete nicht für eine Ethik auf der Grund­lage der Evo­lution ein. Ich berichte ledig­lich, wie die Dinge sich entwickelt haben Da es für den Dar­wi­nis­mus jedoch per se gar keine »Ethik« gibt, sondern nur das Naturgesetz, ist eben dieses für ihn die normative Referenz für menschliches Verhal­ten: Ein­ziges Ziel von Dawkins’ Buch ist die darwi­nistische Erklärung mensch­licher Verhaltensweisen.

Mit der Tauto­logie vom Selbstzweck des Lebens könnten wir uns jedoch versöhnen, wenn jene Autoren es tatsächlich bei der Naturgeschichte beließen und nicht vor allem Kultur in diesem Sinne »erklä­ren«, also ad absurdum führen woll­ten. In diesem Sinne, und nicht etwa unter einem ökolo­gi­schen Gesichtspunkt, will Hofstadter, wie er sagt, mit dem »am tief­sten verwur­zelten Chauvi­nismus« aufräu­men, »den man ‘pro-menschliches Ver­halten’ nennen könn­te«, das heißt mit einem Anthropo­zen­trismus, der die ganze Welt aus dem Blick­winkel des Men­schen beurteilt und nicht den Menschen aus dem Blickwinkel der Natur. Fast möchte man darauf mit Franz Kafka ant­worten: »Im Lichte des Darwinismus er­scheint die Mensch­werdung als ein Sün­denfall des Affen (Gespräche mit Janouch). Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist jedoch eine Frage, die nur die Kultur stellen kann; die Natur stellt sie nicht, sie ist die Frage. Nur für den über der Natur stehenden Kultur­men­schen – ein Pleonasmus – hat »Sinn« einen Sinn, weil er nicht nur die Fähigkeit, sondern auch den Wunsch hat, aus sei­nem Leben mehr zu machen, als die Natur vor­gesehen hat: »Das Phäno­men Mensch ist die größte Krise der Biologie.« (E. M. Cioran, Gedanken­däm­merung). Die Natur/Kultur-Dicho­tomie möchte Hubert Markl in seinem Beitrag »Zur fort­wirkenden Naturgeschichte des Menschen« im Merkur 7/1998 durch eine dialektische Versöh­nung überwinden, indem er betont, daß die (relative) Befreiung von genetischer Deter­miniertheit durch Lernfähigkeit und Intelligenz eben »ein [...] besonders raffiniertes Ergebnis« des Evolutions­prozesses sei. Welche Mühe die Wissenschaft doch hat zu akzeptieren, daß auch Universalien begrenzt, weil an konstitutive Voraus­setzungen gebunden sind.

Das genannte Anliegen Hof­stadters ist je­doch gar nicht so neu, und in Wirk­lichkeit sind beide Sicht­weisen – der menschliche Bick auf die Natur und die Erklärung des Menschen durch die Natur – sogar mit­einander verknüpft, denn seit der ersten Referenz auf die Natur hat das eine stets zur Recht­fertigung des anderen her­ge­halten. Es ist nämlich das Handicap der Aufklärung, daß sie die Men­schenrechte mit dem Naturrecht begründete und von daher die Prinzipien einer menschenwürdigen Gesellschaft nach wie vor einem trans­­zen­denten Prinzip unterwarf: nicht mehr Gott, sondern der Natur. Die Gründe dafür sind gewiß viel­schichtig; nicht zuletzt ging es darum, im Sinne der Egalität der Waffen eine Trans­zendenz durch eine andere zu be­kämpfen, denn die Auseinandersetzung mit der Kirche stellte eine zentrale, noch heute außerhalb Frank­reichs viel zu wenig beachtete Dimen­sion dar, die in der Französischen Revolution ihren Paroxys­mus fand, als Kulte der Ver­nunft und des Höch­sten Wesens zum Teil als Ab­ziehbilder des katholischen Kultus zu dessen Substitution propagiert wur­den, mit Robes­pierre als pon­tifex maximus. Die politische Auseinander­setzung um eine neue menschliche Gesellschaft wurde zur geistigen Auseinan­der­setzung zwi­schen zwei Welterklärungs­modellen überhöht. Freilich ging immer schon beides Hand in Hand, die Ent­stehung des Christen­tums selbst ist das beste Beispiel dafür. Doch für die Auf­klärung stellt es einen Widerspruch dar, in dem man natür­lich ihre spezifische Dialektik erkennen kann. Der Verweis auf die Natur zur Recht­fer­tigung menschlichen Zusammen­lebens hat­te jedenfalls die fatale Folge, daß letzteres der Inter­pre­tation des­sen unter­wor­fen wurden, was Natur und Natur­gesetz sei. Nach dem Zwi­schenspiel der von den Philo­so­phen domi­nierten Auf­klärung traten somit die Wissenschaft­ler das Erbe der Priester an, und nicht wenige predigten ganz un­ver­blümt eine »positi­vistische Reli­gion«, zum Beispiel Auguste Comte und Ernest Renan. Dies beginnt schon mit dem Postulat Hegels in der Vorrede zu seiner Phäno­menologie des Geistes: »Die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, kann allein das wissenschaftliche System derselben sein Nun ist es natürlich historisch ein Verdienst, den Wahrheitsbegriff aus dem Reich des Glaubens in das des Wissens, das heißt der Wissenschaft, überführt zu haben; doch haben Hegel und ande­re nicht dadurch einen Rollen­tausch zwischen Wahrheit und Wissen­schaft herbeigeführt? Das Instrumentarium zur Erkennt­nis der Wahrheit wird selbst zur Wahrheit, ein Problem, das im Streit um Subjek­ti­vität und Objektivität selbst in den Natur­wissen­schaften noch anhält. So kritisiert Hans Jonas [4] zu Recht »das Erliegen der Philo­sophie vor dem Erfolg der Natur­wissen­schaft« und die Ver­suchung der Physiker, »aus ihrer Physik eine Metaphysik zu machen, nämlich die von ihren erkannte Wirklichkeit für die ganze auszugeben Die Bilanz der als Wissenschaft aus­gegebenen Ideologie ist in der Tat er­drückend. Der Darwi­nismus schlug die Auf­klä­rung mit ihrer eige­nen Waf­fe, nämlich mit der Berufung auf die Natur. Die Sozialdar­winisten leugneten dabei gar nicht, daß sich die mensch­liche Geschich­te von den Natur­gesetzen entfernt habe, dies war ja gerade ihr Ansatzpunkt, denn darin erkannten sie Dekadenz und drohenden Untergang, woraus folgte, daß in der mensch­lichen Ge­sellschaft die natürliche Auslese durch künst­liche Ein­griffe wieder­her­gestellt werden müsse.

In einem ähnlichen Dilemma zwischen Determinismus und Voluntarismus befand sich auch die Lehre von Marx und Engels, die sie nicht zufällig als »wissen­schaft­lichen« Sozia­lis­mus quali­fizierten. Der Mensch macht seine Geschichte selbst, aber nicht aus freien Stücken, heißt die zentrale These von Marx. Ähnlich wie bei den Darwinisten bestand auch in seiner Geschichtsvision die Freiheit des Handelns im wesent­lichen darin, den vorgegebenen Lauf der Geschichte zu be­schleunigen oder zu bremsen, ihm zu entsprechen oder unterzugehen. Der vorherbestimmte Gang der Geschichte vom primitiven Ur­kommunis­mus über die Entstehung des Privateigentums zum Endkommunis­mus als dessen Aufhe­bung auf einer höheren Stufe materieller und zivilisatorischer Entwicklung schloß alle dazwischen liegenden Etap­pen ein­schließlich des Kapitalismus als notwendig ein: Für Marx und Engels war die kapitalistische Gesellschaft das verabscheuungs­würdige Resul­tat einer Ge­schichte, die nicht anders verlaufen konnte.

Deterministische Geschichtsvisionen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, geben der eschichte einen Sinn, das heißt eine Richtung, ein Entwicklungsgesetz. Ge­meinsamer Aus­gangspunkt für alle Determinismen ist wohl, wie es Kant for­mulierte, daß es für den Philosophen »keine andere Aus­kunft« gebe »als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige Absicht voraussetzen kann, er versu­che, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersin­ni­gen Gange menschlicher Dinge entdecken könne; aus welcher von Ge­schöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Ge­schichte nach einem bestimmten Plan der Natur mög­lich sei.« Ein weiterer gemein­samer Nenner liegt darin, daß dieser Naturplan dem Menschen kein äußer­licher sei (wie in der Theologie), sondern in der Ent­wicklung seiner inne­ren Anla­gen bestehe. Kant zieht dabei bewußt die Paral­lele zur Bio­logie, wenn er dies­bezüglich unter­streicht: »Alle Natur­anlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich ein­mal voll­ständig und zweckmäßig aus­zuwickeln. Ein Or­gan, daß nicht gebraucht werden soll, eine Anordnung, die ihren Zweck nicht erreicht, ist ein Wider­spruch in der teleo­lo­gi­schen Natur­lehre Für die Aufklärung war das »Organ«, zu dessen Ge­brauch der Mensch bestimmt sei, na­türlich die Ver­nunft, doch vollzog Kant schon eine bedenk­liche Ein­schrän­kung, welche die Tür für alle mög­lichen Inter­pre­ta­tionen offen ließ, indem er fest­hielt, daß sich beim Men­schen »diejenigen Naturanlagen, die auf den Ge­brauch seiner Ver­nunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im In­di­viduum vollständig entwickeln.« Mit Aus­nahme des Philo­sophen natürlich, der, um eben dies zu er­ken­nen, als Indivi­duum auf der Höhe der gattungsmäßigen Ver­nunft sein muß. Der revolutionäre Avantgardist und der Ge­schichtsprophet sind zwei Gesichter ein und derselben Per­sön­lichkeit: Beide glau­ben sie, für die Allgemeinheit den­ken und handeln zu kön­nen, weil sie den Gang der Ge­schich­te kennen, dessen unbe­wußte Akteure die Menschen als Einzelne sind.

Heute ist kein Klassenkampf mehr angesagt, sondern Konkurrenzkampf. Der Darwinismus, in dem Marx und Engels gewiß nicht zu Unrecht eine Parallele zum Gesetz des kapi­talistischen Marktes erkannten, meldet sich zurück, wenn auch in zivilisierterem Gewande. Für Daniel Dennett ist der Dar­wi­nismus die »Universal­säure«, die alle Mythen zerfrißt und nur die reine Wissen­schaft, die reine Objek­tivität übrig läßt. Gern wollen wir ihm zugestehen, daß der Darwinismus in seinen ver­schiedensten Formen, und gerade durch seine un­schein­bar­sten Verklei­dungen, heute eine nahe­zu universelle Gültig­keit erreicht hat. Allerdings zerfrißt er alle anderen Mythen deswe­gen, weil er selbst ein Mythos ist, jedenfalls in seinem uni­versellen Geltungsanspruch. Es ist wie mit der These Kafkas von den »Religionskriegen ohne Gott« im revolu­tio­nären Ruß­land, gegen die Gustav Janouch einwandte: »Der Bol­schewis­mus wendet sich gegen die Reli­gionen«, worauf Kafka folge­richtig konterte: »Er tut es, weil er selbst eine Religion ist

Gerade wegen seines universellen Wahrheits­anspruchs kann man den (Geschichts-) Darwinismus nicht nur als das (wahr­scheinlich) letzte, sondern auch als das qualitativ höch­ste Stadium der »abendländischen Eschatologie« im Sinne von Jacob Taubes erkennen, auch wenn Taubes in seiner gleich­namigen Untersuchung nicht soweit gegangen ist. Denn der Darwinismus schafft es, einen Deter­minismus auf dem Prinzip des Zufalls aufzubauen, jedenfalls in seinem ur­sprünglichen Geltungsbereich, der Naturgeschichte: Was in den vulga­ri­sierenden Interpretationen immer mit stark lamarckisti­schem Unterton als »Anpassung« bezeichnet wird, war für Darwin im Gegensatz zu Lamarck keine Anpassung des Individuums und das Vererben von erworbenen Eigen­schaften, sondern das Zu­sammentreffen von selek­tierenden Umweltbedingungen auf eine Variationsbreite von verschie­denen Individuen einer Art, von denen einige durch angebo­rene Unterschiede besser diesen Anforderungen entsprechen als andere und sich gegenüber jenen durchsetzen. Dagegen stand der Sozial­darwinis­mus vor dem Problem der Überwindung dieses Naturgesetzes durch die menschliche Gesellschaft und forderte, wie schon er­läutert, den Nach­vollzug der natürlichen durch eine künst­liche Selek­tion, einen voluntaristischen Akt, der freilich als Notwen­digkeit zur Ab­wehr eines allgemeinen Untergangs dargestellt wurde.

Der Darwinismus löst damit auch die alte Frage nach der Willensfreiheit in einem der christlichen Theologie strukturell durchaus ähnlichen Sinne: Die Men­schen sind frei, zwi­schen Gut und Schlecht zu wählen; wer den falschen Weg wählt, bleibt auf der Strecke. »Die Options­möglichkeit«, defi­nierte 1916 der französische Physi­ker und Darwinist Guilleminot sein »Options­gesetz« [5], »ist somit zur Op­tions­notwendigkeit in einem fest­gelegten Sinne geworden Neo-Darwinisten wollen offenbar wieder daran an­schließen, wenn sie als Kon­sequenz des Human Genome Pro­ject die Suche nach der »sicher­sten Option« für eine eugenische gesellschaftliche Zu­kunft ver­künden; einen beeindruckenden Überblick über die Soziobiologie bekommt man schon, wenn man im Internet die Seiten auf „Genetics and Ethics“ durchsucht.

Die Ver­nunft wird so ihrer ethischen Dimension be­raubt und auf eine reine Erkenntniskategorie redu­ziert: das Erken­nen und damit das Akzeptieren des (scheinbar) objektiv Gegebenen. Mehr noch als vorangegangene Stu­fen säkularer Eschatologie ist der Geschichts- und Sozial­darwinismus eine »Logificatio post festum« – ein Begriff, den Theodor Lessing 1919 in Ge­schichte als Sinngebung des Sinnlosen geprägt hat –, das heißt, eine retrospektive Teleo­logie, die ex post er­klärt, daß alles, was geschah, auch so geschehen mußte. Der Dar­wi­nismus lie­fert, an das ältere finalistische Axiom von der Zweck­mäßig­keit der Welt an­schließend, scheinbar den experi­mental­wissen­schaftlichen Beweis für die Determinis­men à la Leibniz und Fichte: Wir leben in der besten aller möglichen Welten, weil in der einzig möglichen Welt. Dies liegt schon in dem Axiom be­gründet, daß von allen mög­lichen Welten die gegen­wärtige sich durchgesetzt hat. Darwin hat nur den gött­lichen Willen durch das natürliche Selektionsprinzip als Schieds­gericht er­setzt.

Die heutige Debatte beherrscht erneut eine von vielen Au­toren gewollte oder zumindest in Kauf genom­mene Kon­fusion zwischen Natur­geschichte und Menschen­geschichte, natür­licher und geschichtlicher Entwicklung, und selbst Philo­sophen, die alles andere als Sozialdarwinisten sind, schlittern in das Dilem­ma der scheinbar universellen Gül­tig­keit darwini­stischer Ge­setze hinein: Hans Jonas etwa, der wie bereits er­wähnt dem Primat der Naturwissenschaften durch­aus kritisch gegen­über­steht, im Darwinismus jedoch das kos­mische Grund­gesetz zu er­kennen glaubt: »Grundlage aller Ord­nung in der Natur, also einer Natur überhaupt sind die Erhaltungs­ge­setze. Diese aber sind zur Herrschaft gekom­men, weil eben nur das Sich-Erhal­ten­de sich erhält. Diese Tautologie erklärt die Gesetzmäßigkeit der uns gegebenen Natur: Sie ist selber schon ein Aus­lese­ergebnis, ein univer­sales, das dann die Regeln für weitere, speziellere und loka­lere Auslesen setzt. [...] Es ist der ur­sprünglichste, stiftende Fall von ‘sur­vival of the fittest’ Doch wo macht diese Gesetzmäßigkeit halt? Jonas extra­poliert sie nicht auf die menschliche Gesell­schaft, gewiß, grenzt aber den Gel­tungs­bereich des Darwinismus zwi­schen Natur- und Men­schen­ge­schichte auch nicht klar ab, wenn er die Ent­stehung von Sub­jektivität naturwissenschaftlich erklären will. Das von ihm an­geführ­te Argument von der »trans­zen­dierenden Freiheit des Geistes« als Spezifikum des Menschlichen ist jedoch kein stich­haltiges Ar­gu­ment gegen den Darwinismus, der, wie bereits darge­legt, die Willensfreiheit keineswegs leug­net. Wird Sub­jek­tivität nur als Bewußtwerdung unter dem Ge­sichtspunkt eines uni­versellen Erhaltungsgesetzes begriffen, »weil die Zweckhaftigkeit als solche [...] dem gleichgültig Zwecklosen durch das eifrige Ja zu sich selbst so unendlich überlegen ist« (Jonas), ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Egoismus-Theorie von Dawkins, denn die Subjektivität ist dem Selbst­zweck der Natur bereits unterworfen. Eine anti­dar­wi­nistische Argumentation muß jedoch von dem Standpunkt aus­gehen, daß das Erkennen der Naturgesetze dem Men­schen die Möglichkeit er­öffnet, sich ihnen zu entziehen oder sie gar zu überwinden, und zwar nicht nur kognitiv, sondern konkret durch Zivili­sation, organisiertes Zusam­menleben nach anderen, mensch­lichen Gesetzen. Natür­lich ist diese Freiheit nicht unbe­grenzt, doch werden die Gren­zen im­mer weiter zurückgeschoben, und mit ihnen das »Prinzip Ver­antwortung« als Ethik für eine technologische Zivilisation, wie sie Hans Jonas einforderte. Bezeich­nenderweise sind es ge­ra­de Ver­treter jener Wissen­schaft, die die biologische Natur in den Griff bekommen will, nämlich die Genetiker, die heute auf den Darwinismus zurück­greifen. Seinerzeit wurde im Rahmen der Pro­jekte zur »Ras­senhygiene« ja nicht nur die Durch­führung einer »nega­tiven Aus­lese« (durch Sterilisation oder Vernich­tung) anvi­siert, son­dern parallel dazu auch eine »positi­ve« Aus­lese durch »Züch­tung«. Überflüssig zu verdeutlichen, welche Möglich­keiten sich sol­chen Eugenik-Projekten heute in einer mora­lisch deregu­lierten, aber technologisch (fast) all­mächtigen Welt eröffnen.

Welche Bedeutung hat vor diesem ganzen Hintergrund die Forderung nach einer Annäherung der Evolutions­kon­zeptionen von Natur- und Kulturwissenschaften, hin zum »Ent­wurf einer Universalgeschichte als Natur- und Kultur­geschichte des Menschen«, wie sie Werner Conze 1986 auf dem deutschen Historikertag vortrug (abgedruckt in der Historischen Zeit­schrift)? Dabei verwies er auf die zuneh­mende »Bedeutung der Bio­logie für eine historische Anthro­po­logie« sowie auf die Rolle der »gene­ti­schen For­schung« im Hinblick auf die von ihr er­wartete Ant­wort auf die Frage, »was die Aus­schal­tung der bis vor kur­zem noch (eingeschränkt) wirksamen natür­lichen Selek­tion für den Men­schen und seine Kultur bedeutet hat und bedeuten wird.« Da die Historikerzunft die grund­legende Auf­arbeitung der Geschichte ihres Faches im Dritten Reich solange aufgeschoben hat, bis die letzten Repräsentanten jener Zeit verstorben sind, wird die Zukunft vielleicht zeigen, inwiefern auch in Conzes Vision nicht nur, aber auch ein be­wußter oder unbewußter Brückenschlag zwischen den Epochen zum Ausdruck gekom­men ist.

 

 

 

III. Fatalität und Individualität in der Geschichtsschreibung und im »kollektiven Gedächtnis« heute

 

 

Über periodenweise immer wieder aufflammende Kritik wie die Postmoderne-/Posthistoire-Diskussion hinweg bestimmt wohl in einer Mischung aus vielen Varianten deter­mi­nistischen Denkens das unausgesprochene Credo Was geschah, mußte zwangs­läufig so geschehen noch grosso modo unsere gängige Ge­schichts­auf­fassung, wenn auch von Fall zu Fall in unter­schiedlichem Maße. Doch die meisten Histo­riker, und nicht nur sie, würden wohl Einspruch gegen diese These erheben, jedenfalls in der so formulierten Radikalität. So konstatierte Lothar Gall 1997 in der Historischen Zeitschrift: »Kaum jemand geht heute noch ernsthaft davon aus, daß hinter den Geschichten als in ihrer Mannifgaltigkeit praktisch unendlichen Geschehnisabläufen und Entwicklungen eine einheitliche Ge­schichte als sinnhaltiger und sinnvermittelnder Prozeß wirksam und zugleich erkennbar sei.« Andererseits erkennt er jedoch an, daß auch der anti­ideologischen Intention der historischen Methode von Anfang an der An­spruch zugrundelag, »den Sinn des historischen Prozesses als Ganzes empirisch erschließen zu können – mit all dem, was sich daraus für den richtigen Weg in Gegenwart und Zukunft ergab (Her­vorheb. von mir). Natür­lich äußert sich deterministisches Ge­schichtsdenken heute nicht mehr im Pathos großer philosophischer Thesen! Sugge­riert aber nicht noch im »sachlichsten« Nach­vollzug histo­rischer Ereig­nisse deren Chrono-Logie auch Logik, solange die Frage der Alternativen nicht erörtert wird, solange neben der Faktizität des Geschehenen nicht auch die Potentialität dessen, was hätte geschehen können, berücksichtigt wird? Ist eine uni­versal­geschicht­liche Konzeption nicht schon der universal ge­wor­denen Kon­traktion von »Geschichten« zu »Geschichte«, von »Fort­schrit­ten« zu »Fortschritt« inhärent, worauf Conze in besagtem Vortrag zu Recht in Anlehnung an die Studien von Koselleck hinwies? Birgt nicht gar, wie dies Hans Michael Baumgartner in Konti­nuität und Ge­schichte zur Aus­gangsfrage erhebt, schon die »Darstel­lung eines geschicht­lichen Zusam­menhanges ein Element ge­schichts­philosophischer Spe­kulation in sich«? Nur der histori­schen Retro­spektive ver­dankt sich eine in die Historiographie ein­gespon­nene Sinn­deutung, die ihren ideo­logischen Charakter nicht ein­gesteht, denn, wie Habermas in Anlehnung an Arthur C. Danto treffend resü­miert: »Eine Folge von Ereignissen gewinnt die Ein­heit einer Ge­schichte nur unter einem Gesichts­punkt, der jenen Ereignis­sen selbst nicht ent­nommen sein kann.« (Zur Logik der Sozial­wissen­schaften). Da auch »die Kontinuität der Geschichte selbst nur aus interessierter und konstruierender Retrospektive ent­springt« (Baumgartner), unterschlägt die Ge­schichts­schrei­bung, die das Fak­tische bi­lanziert, zur Einheit deutet und ihm dadurch einen Sinn ver­leiht, per­manent, »was in der Ver­gangen­heit nicht reüs­sier­te«, wie Ernst Bloch in Experi­mentum Mundi beklagte. Dies betrifft jedoch nicht nur, worum es Bloch dabei in erster Linie ging, nämliche »jene revolutionären An­triebe in ihr, welche da­mals nicht zum Zuge kamen«. Wie­viele Ent­scheidungen und Um­wäl­zungen, die Geschichte machten, ver­danken sich ge­sell­schaftlichen Konstel­lationen, wo das Zu­fällige eine eben­so große Rolle spielte wie das Zwangs­läufige? Man denke nur an die politischen Atten­tate: Was wäre ge­schehen, wenn jenes in Sarajewo mißglückt oder jenes auf Hitler im Bürgerbräukeller geglückt wäre? Gewiß wäre jeweils die gesellschaftlich-politi­sche Kon­stellation dieselbe geblieben, die politische Bombe, deren Zün­der Sarajewo war, hätte trotz­dem existiert; aber ohne Zünder geht auch der gefährlichste Sprengsatz nicht hoch. Und im Falle eines geglückten Attentats auf Hitler 1939 dürften selbst die »Funktio­nalisten« unter den Histo­rikern nicht be­strei­ten, daß die Ge­schichte dann anders ver­laufen wäre. Dies heißt nicht, daß alles ganz anders ver­laufen wäre, aber eben anders.

Man muß deswegen nicht ins andere Extrem verfallen und das Zufallsprinzip, den »Hinge-Faktor«, zum Gesetz der Ge­schichte erklären, wie Eric Durschmied es jüngst in seiner gleichnamigen Untersuchung tat. Das Scheitern des Attentats im Bürger­bräukeller war gewiß reiner Zufall. Im großen histo­rischen Kon­text, über das Einzel­ereignis hinaus, ist der Be­griff des Zufalls jedoch unan­ge­mes­sen; besser ist es, von Koinzi­den­zen zu spre­chen, das heißt vom Zu­sam­men­treffen einzel­ner, vonein­ander ver­schiedener Ent­wick­lungs­linien, die unter­schiedlich große soziale Kontexte und Aktoren umfas­sen kön­nen, bis herunter zum Faktor Individdum, und von de­nen sich jede im­ma­nent weitgehend »chrono­/logisch« ent­wickeln mag, deren Zu­sam­men­treffen aber weder vorher­bestimmbar, noch wirk­lich zufällig im Sinne von grund­los ist. Wäre Kolumbus nicht über den Atlantik gesegelt – immerhin basierte sein Kalkül auf einer falschen Berechnung der Erdkugel –, hätte es später gewiß ein anderer versucht. Das Interesse am Westweg nach Indien wäre aber drastisch zurückgegangen von dem Moment an, wo Vasco da Gama den Weg um Afrika herum fand, und so wäre der Kolonialismus eben andere Wege gegangen.

Unabhängig von solchen historischen Spekulationen geht es jedoch darum, den Ort von Indi­vidu­alität in einem histo­rischen Kon­text zu bestim­men. Hier hat die Intensivierung der Ur­sachen­forschung unter dem Einfluß der Sozial­wissen­schaften in den letzten Jahr­zehnten eine deutliche Akzent­ver­schiebung her­beigeführt, auch inner­halb der Ge­schichts­wis­sen­schaft. Hies es früher »Männer machen Ge­schichte«, so steht heute nur noch in wenigen Fällen die Bedeu­tung der Indivi­dualität im Zentrum historischer Debatten, so natürlich im Falle des Natio­nalsozialismus, und dort auch mit der deutlichen Tendenz der Zurücknahme früherer Fixierung auf die Person Hitlers. Bewertung von Indi­vidu­alität heißt jedoch nicht nur, den Grad des Einflusses von Per­sön­lichkeiten auf die Ge­schich­te abzu­messen, sondern auch umgekehrt den Grad der Prägung des Individuums durch die erfahrene Geschichte zu unter­suchen, sich in die Individu­alität auch des anony­men Zeit­genossen hinein­zuver­setzen und zu fra­gen: Gab es Alter­nativen? Konnte man auf eine Heraus­forderung anders reagie­ren? Wie hätte ich selbst reagiert? Denn es gilt nicht nur zu erforschen, warum etwas so geschehen ist, son­dern auch, Lehren daraus zu ziehen, wie in der antiken Tradition, wenn auch die heutige Aufgabe weniger darin besteht, beispiel­hafte Taten zum Vor­bild zu nehmen, als vielmehr zu verhindern, daß sich schlim­me Taten wieder­holen.

Aus diesem Grunde steht jede »Historikerdebatte« und jede Grundsatzdiskussion zu geschichtstheoretischen Fragen auch unter einem politisch-moralischen Vorzeichen. Meistens geht es um Schuld. Als klassisches Beispiel für die Kausali­täts­debatte unter Historikern galt lange die Entstehung des 1. Weltkrieges, doch die Frage nach Kausa­lität und Zufall war in diesem Zusammen­hang eben der damit ver­bundenen Schuld­frage unterworfen und so­mit keine rein geschichts­theo­retische De­batte. Deswegen macht das Beispiel den Zusam­menhang zwischen einer poli­tisch-moralischen Be­wertung der Geschich­te und den grundsätzlichen Prämissen von Darstellung und Analyse gerade deut­lich. Sowohl die Fixierung auf wenige Personen als Schuldige von Kriegs- und anderen Verbrechen, wie zeitweise im Hinblick auf den National­sozialismus, als auch die Betonung struktureller Determinanten politisch-sozia­ler Entwicklungen erlauben, die Frage der Verant­wortung des Einzelnen – sozusagen des »kol­lektiven Ein­zel­nen«: eines jeden an seinem Platze – im histo­rischen Kontext bewußt oder un­bewußt zu minimieren. Ein frappierendes Beispiel dafür liefert die Behandlung der nationalsozialistischen Macht­ergrei­fung, ge­nauer gesagt: des Ermächtigungs­ge­setzes.

Es ist nämlich erstaunlich, daß dem letzten Akt der Macht­über­tragung durch mehr als zwei Drittel der Reichstags­ab­ge­ordne­ten so wenig Platz in den meisten histori­schen Gesamt­darstel­lungen ein­geräumt wird und in den zahllosen Dis­kussionen um die Frage Wie war es möglich? offenbar keine Rolle spielt, abge­sehen von der juristischen Erörterung in der Folge des Nürn­berger Prozesses, wo es um die Frage der Lega­lität des Er­mäch­ti­gungs­ge­setzes ging. Entweder heißt es nur lapidar, daß es zu einer »qua­lifizierten Mehrheit« kam, wie in einem Stan­dard­werk von 1963, das bis heute unverändert ver­legt wird; oder es werden geradewegs die Tatsachen ver­dreht, wie aus der Feder eines der bekanntesten deutschen Historiker in einem Sam­melwerk zur deutschen Geschichte (Ende der 80er Jahre erschienen):  »Die notwendige Zweidrit­tel­mehr­heit kam da­durch zu­stande, daß die Mandate der KPD-Reichs­tags­ab­geord­neten, die verhaftet oder unterge­taucht wa­ren, nicht ge­zählt wurden«. Tatsächlich stellten die abgegebe­nen 444 Ja-Stimmen zum Er­mächtigungs­ge­setz jedoch nicht nur mehr als zwei Drittel der anwe­senden 538 Ab­geord­neten, sondern auch mehr als zwei Drittel der Ge­samtzahl der 647 Abgeord­neten dar, wie Karl Dietrich Erdmann verdienst­voller­weise 1976 in seinem Bei­trag im Handbuch der deutschen Ge­schichte betont hat, der durch die relativ ausführ­liche wie prä­zise Behandlung des Themas auf der Ebene der Fakten gerade die Ausnahme von der Regel darstellt. Wird auf die Frage nach dem Zustandekommen des Ermäch­ti­gungs­ge­setzes eingegan­gen, so heißt es oft, daß »es hierbei schon nicht mehr um eine wirklich freie Entscheidung ging«, weil die Nazis bereits voll­endete Tatsachen geschaffen hätten, oder man ver­weist auf die »Täuschung« der Zentrums­ab­geord­neten durch nicht gehaltene Versprechen Hitlers, wie noch in einer der jüngsten Darstel­lungen (eine Wiederverwertung des Schemas Führer/Ver­führte, zu der es inhalt­lich einiges zu sagen gäbe). Ein anderes, bezeichnenderweise jüngst wieder neu verlegtes Buch aus dem Jahre 1957 geht sogar so weit, durch eine drasti­sche Schil­derung der Situation der von den Nazis »terro­ri­sierten« Reichs­tagsabgeordneten auf äußerst suggestive Weise Verständnis fùr ihre Haltung, ja geradezu Mitleid mit ihnen zu erwecken.

Da drängt sich die Frage auf: Ja, wenn denn selbst die Reichstags­ab­geordneten keine freie Wahl mehr hatten, oder: Wenn schon die Berufs­politiker »ge­täuscht« wurden, das heißt: sich täu­schen ließen, oder: Wenn sie ganz einfach Angst hatten – vorausgesetzt, das waren die entscheiden Faktoren –, kann man denn dann den »gewöhnlichen Deutschen« jener Zeit überhaupt einen Vorwurf machen? Prä­judiziert eine Global­entschuldigung der Abgeordneten mit Hin­weis auf die gefürch­teten Repres­sionen durch eine be­reits de facto etablier­te NS-Macht nicht eine Global­ent­schul­di­gung für alle späteren aus­gebliebenen Gewissensentschei­dun­gen, egal auf wel­cher Ver­antwortungs­ebene, die ja alle einer ungleich höheren Repres­sions­gefahr ausgesetzt waren?

Nun soll den Historikern – die hier anonym blieben, um die Erörterung nicht in eine Polemik gegen bestimmte Per­sonen abgleiten zu lassen, denn das Phänomen ist so generell, daß man fast alle zitieren könnte – nicht ein­fach unter­stellt wer­den, sie hätten den Verrat der Demo­kraten an der Demo­kratie nur aus poli­tischen Gründen kleingeschrieben oder ent­schul­digt, ob­wohl diese Vermutung natürlich nahe­liegt und wohl in dem einen oder anderen Fall auch zutreffen mag. Dies würde jedoch als allgemeine Erklärung zu kurz greifen: Abgesehen von den strengen Marxisten, für die das Ermäch­tigungsgesetz nur die logische Vollendung der Allianz von Bourgoisie und NSDAP war, ist die Kleinschreibung dieses Ereignisses bei Historikern ganz unterschiedlicher politischer Orientierung zu finden. Zwischen einer bewußten und einer unbewußten Mini­mierung der politisch-moralischen Dimension des Ereig­nisses läßt sich so kaum unterscheiden. Jedenfalls wird an die­sem Bei­spiel deutlich, wie die Frage in­dividuellen Han­delns sozu­sa­gen in der Fata­lität der Geschich­te aufgelöst wird: Die Ab­stimmung im Reichstag sei bedeu­tungslos weil durch die Fak­ten schon vor­weggenommen und dadurch nur noch eine Form­sache gewe­sen. Tatsache ist aber: Im ganzen Prozeß des (un)auf­haltsamen Auf­stiegs der Nazis gab es zwei Momen­te, wo Ent­schei­dungen wirklich von wenigen Personen ab­hingen: die Er­nennung Hitlers zum Reichskanzler und eben das Er­mäch­tigungsgesetz.

So erlaubt die Minimierung der Entscheidungs­freiheit durch den Hinweis auf kausale Zwänge und strukturelle Fakto­ren und eine daraus folgende fatalistische Resignation – »Es war sowieso schon alles gelaufen...« etc. – auch, im histo­rischen Rückblick bewußt die politisch-moralische Di­mension der historischen Aufar­beitung zu hinter­gehen. Das Kausalitäts­paradigma ermöglicht im­mer, die Frage nach der Recht­fer­tigung individuellen Han­delns durch den Hinweis auf jene das Individuum nicht nur trans­zen­dierende, sondern auch chrono­logisch vor­gängi­ge Fakto­ren, aufzuheben. Die »retrospektive Zurechnung von Verbrechen« – um die Formel von Habermas aus dessen Goldhagen-Laudatio aufzugreifen – hält dialektische Überraschungen bereit: Sogar aus Kollektivschuld­thesen kön­nen Kollektiventschuldi­gungen werden! Die Schuld­debatte un­mittelbar nach 1945 in Deutschland war ja gerade nicht von Ver­drängung durch Ver­schweigen gekennzeichnet, das begann erst später, sondern davon, daß für den tra­gischen Verlauf der deutschen Geschich­te alle möglichen Grün­de gesucht wurden, die die Verantwor­tung des Einzelnen – und damit auch des »kollektiven Einzel­nen« – entlasteten: der deutsche Protestan­tismus mit seiner Autoritäts­hörigkeit, das milita­ristische Preußentum, der Kapita­lismus oder gar der Abfall eines ganzen Zeit­alters von Gott, schuld waren entweder »die ande­ren« oder eine Verket­tung von Faktoren, die weit in die Ver­gangenheit zurück­reich­te, und am besten noch eine Ver­knüpfung von beidem. So wurde in den zahlreichen Zeit­schrif­ten in den Westzonen, die sich der Schuld­debatte widme­ten, kaum die Geschichte der Weimarer Re­publik und ihres Nieder­ganges aufgearbeitet, dafür aber um so mehr die Ge­schichte des Abendlandes seit dem Mittelalter. Wie so die Kol­lek­tivschuld­these der Alliierten – die auf die damals Lebenden zielte – durch andere »Kollektiv­schuldthesen« abgewehrt wur­de, die die Schuld auf die Ver­gangenheit ablu­den, dafür ließe sich eine nahezu unendliche Zahl von Belegen anführen. Die Bekennt­nisse zu einem möglichst pauschalen mea culpa half auch vielen Journalisten nach 1945, ihre persönliche Schreib­tisch­täterschaft zu übergehen, so wie – ein ganz anderes Beispiel, auf das Bernd Greiner jünst in der Zeit (19.11.1998) hinwies – 1968 im My-Lai-Prozeß die Ange­klagten sich damit zu ent­schuldigen versuchten, daß jedes US-Bataillon in Vietnam sein My Lai gehabt habe.

Erklä­rungen und Bewer­tungen der Ge­schichte, und vor allem dieses Kapitels der deutschen Geschichte, haben einen moralischen Aspekt und müssen ihn auch haben, der mit der Frage Wie war es möglich? das Nie wieder! zum Gebot erhebt. Ein Wehret den Anfängen! erfordert keine Bilanzen, sondern Analysen jener Anfänge. Dies kann jedoch nur sinnvoll erfol­gen, wenn der Individua­lität in dem hier gemeinten herme­neutischen Sinne in der Betrachtung aus­reichend Platz ein­geräumt wird. Ein bekannter Zeit­histo­riker, der ebenfalls anonym bleiben soll, leitet zum Beispiel seinen Beitrag zu einem un­längst erschienenen Sammelband zum Dritten Reich explizit mit der Frage nach dem Wie konnte es geschehen? ein, erwähnt dann aber das Ermächtigungsgesetz nur im Hinblick auf die Diskussion um seine Pseudo-Legalität; wie es zustande­kam und warum, ist für ihn kein Thema, was seine eingangs formulierte Grundfrage der Ge­schichts­schrei­bung zur rein rhetorischen Frage des Historikers redu­ziert. Dieses Beispiel er­scheint mir daher paradigmatisch dafür, wie für die Historio­gra­phie eine moralische und staatsbürgerliche Funktion rekla­miert wird, ohne daß man diese Funktion dann wirklich wahr­nimmt. Fast möchte man der Historie den Vor­wurf machen, sie ziehe sich das moralische Ge­wand nur über, um ihre Autorität zu stärken. Der allge­meine Ruf nach dem »kollektiven Ge­dächtnis«, die Morali­sierung der jüngsten Ge­schichte gegen deren Histori­sierung, steht jedenfalls in einem frap­pie­renden Widerspruch zur Abwesenheit des »Faktors Indi­vidu­alität« in den damit verbun­denen großen Debatten, mit einigen Ausnahmen wie z.B . zu Schindlers Liste. Der Fall Schindler, der durch Spielbergs Film überhaupt erst einer breiten Öffent­lichkeit bekannt wurde, lehrt ja zweierlei: erstens, daß es Mög­lichkeiten des Wider­standes gab, und zwei­tens, daß der gelungene Widerstand, anders als der geschei­terte, von der Nachwelt nicht gefeiert wurde, weil er als Anklage all jener Zeitgenossen galt, die nichts getan haben.

Durch die Abstraktion der politisch-moralischen Debatten stehen sich jedoch in gewisser Hinsicht Kollektivschuldthese und Kollek­tivent­schul­digung in gewan­delter Form immer noch dialektisch gegen­über. Das Echo, das Goldhagens neue provo­kative Kollek­tiv­schuld­these wohl vor allem bei den jüngeren Generatio­nen in Deutsch­land findet, ist, so vermute ich, Aus­druck einer Art Ver­gangen­heits­bewältigung, die tenden­ziell mit der Kollektiv­anklage der Eltern- und Groß­eltern­generation den moralischen Appell des Nie wieder! durch ein Wir sind anders – uns kann das nicht passieren! aufhebt. »Je jünger man wur­de«, rekapitulierte Joachim Gauck in der Zeit vom 30.7.1998 den Prozeß des »rituellen Antifaschismus« nach 1968, »desto hef­tiger fiel die Verwerfung der Schuld der Väter aus Der Gene­rationenbruch wurde zum mentalen Epochenbruch. Doch impli­ziert die Kollektivanklage der Ver­gangenheit eben nicht unwei­ger­lich eine Art präventiver Kollektivabsolution der Gegen­wart im Hinblick auf die Zukunft? Durch seine wieder­holte Beteue­rung in der Diskussion, das heu­tige Deutschland sei »ganz anders«, hat Goldhagen ja selbst zur mani­chäistischen Tren­nung zwischen gestern und heute beige­tragen. Natürlich ist das heutige Deutschland »ganz anders«! Heißt das aber, daß die Ver­gangen­heit ein für allemal ver­gangen ist, sich also nicht wiederholen kann? Eine beson­ders gro­teske Note in dieser Debatte angesichts eines all­täglichen Rassis­mus in Deutschland (und andernorts), an den wir uns schon zu gewöh­nen scheinen, obwohl er vor nicht allzu langer Zeit noch un­vorstellbar gewesen war.

Nicht nur durch Ver­drängung, son­dern auch durch solch eine strenge Zäsur zwi­schen heute und gestern wird das Moment des Aus der Ge­schichte lernen auf­gehoben und eine Historisierung des Ver­gangenen geför­dert, die gerade nicht eine Wiederholung in anderen Formen ver­meiden hilft: Die Frage Wie hätte ich gehandelt? impliziert dagegen immer eine Vergegenwärtigung, die dem »Einordnen« des Geschehenen in den Aktenordner der Geschichte entgegensteht.

 

 

 

IV. Was daraus folgt...

 

 

Die Frage nach dem Ver­hältnis von Vergangenheit, Ge­gen­wart und Zukunft in unserem Geschichts- und Weltbild ist daher nicht die falsch gestellte Alternative von Verknüpfung oder Trennung, sondern die Frage, um welche Verknüpfung es geht: um eine, die an unsere Verantwortung appelliert, oder um eine, die uns unserer Verantwortung zu entledigen ver­spricht. Verantwortung resultiert aus der Vergegenwärtigung gemach­ter Erfahrung: Die Ver­gangen­heit will nicht vergehen. Und die Zukunft? Der Ein­spruch von Hans Jonas’ »Prinzip Ver­ant­wortung« gegen das Blochsche »Prin­zip Hoffnung« ist be­rechtigt, wenn damit die Hoff­nung auf die Zukunft als Mittel zur Flucht aus der Gegen­wart kritisiert wird; die von Jonas geforderte »Ein­sicht, daß jede Gegenwart des Men­schen ihr eigener Zweck ist«, unter­schätzt jedoch das Fak­tum, daß jedes Han­deln auf die Zukunft gerichtet ist und jede Kritik bestehender Ver­hältnisse – und gerade auch das »Prinzip Ver­antwortung« – den Gegenwär­tigen moralische oder politi­sche Auflagen nicht nur für sich selbst, sondern gerade auch für die Nachkommenden macht. Streng genommen ist schon die Gegenwart nicht mehr veränderbar, wenn man unter »Gegen­wart« den flüchtigen Augenblick des Hier und Jetzt versteht.

Eine Befreiung der Vergangenheit von der Zukunft ist also notwendig im Sinne der Be­freiung von jenem umfassenden, uns der Ver­ant­wortung für unser Tun zumindest tendenziell ent­hebenden De­ter­minismus im Geschichtsbild zu­gunsten der Bewußt­werdung der Potentialitäten menschlicher Ge­schich­te und der daraus resultierenden Verantwortung. Sich dies bewußt zu machen ist not­wen­dig, wenn wir aus diesem so verstandenen Prinzip Verantwortung heraus im Gegen­zuge die Zukunft von der Ver­gangen­heit befreien wollen, das heißt, von einem Fatalismus, der nur die Chance zur Fortsetzung des Bestehenden läßt. Natürlich setzt diese »Option« voraus, daß es tatsächlich eine Willens- und Handlungsfreiheit in der mensch­lichen Geschich­te gibt, keine absolute, gewiß, aber eine relative im jewei­li­gen Kon­text. Die Macht deterministischer Erklä­rungstheorien beruht ja auf ihrer dop­pelten Tautologie: der kausalen, wonach alles, was ist, so ist, weil es nicht anders sein kann, und der finalen, wonach sich der Determinismus als self-fulfilling prophecy selbst beweist, wenn man an ihn glaubt und sich entsprechend verhält. Der britische Philosoph Ted Honderich plädiert in seinem Buch Wie frei sind wir? für eine Art aufge­klärten Determinismus: Es gelte, eine »posi­tive Lebensphilo­so­phie« gegen­über der »Illu­sion der Willens­frei­heit« zu entwickeln, sich mit dem Spiel­raum zu be­gnügen, den man wirklich habe, und sich zu einem »über­zeug­ten Ver­­trauen in den Deter­minismus« durch­zuringen. Solche Plädoyers erin­nern nicht nur an religiöse Predigten, sie sind es auch. Derlei zeigt sich nicht nur im philo­sophi­schen oder wissenschaftlichen Bereich, sondern auch auf ganz banale Weise: Wie sehr hat sich der poli­tische Diskurs in den letzten Jahren auf die Argu­men­tation verengt, daß wir das Notwendige und Unver­meid­liche zu akzeptieren hätten, wobei der Begriff des »Not­wendi­gen« noch eine mög­liche Zustim­mung offenläßt, während der Rekurs auf das »Unvermeidliche« geradewegs zur Resig­nation aufruft! Ob es um die Globalisie­rung der Welt geht, um die Zukunft des Sozial­staates oder um die Zukunfts­technologien, unisono hört man vom Not­wendi­gen, das man zu tun, und dem Unvermeid­lichen, das man zu akzep­tieren habe. Die Ent­wick­lung könne man nicht auf­halten, und darin sind sich deren Befür­worter in ihrem Enthusias­mus mit den Geg­nern in ihrer Skepsis fast einig. Um wieviel mehr gilt jedoch für Gentechno­logie und Biotechnik, was Einstein seiner­zeit zur Atomtechno­logie dia­gnostizierte, näm­lich die Un­reife der mensch­lichen Vernunft gegen­über den Kapazi­täten des mensch­li­chen Ver­standes; wie sehr fehlt uns die Ethik, nach wel­cher »der end­gültig ent­fesselte Prometheus« ruft, wie Hans Jonas im ersten Satz seines Prin­zips Verant­wor­tung schreibt.

Welchen geistigen Fortschritt hat unsere Gesell­schaft in den letzten paar hundert Jahren errungen, wenn sie an der Schwelle zu einem neuen Jahr­tausend erneut die mittel­alterliche Debatte von der Willens­freiheit führt? Hon­derich hat er­kannt, daß das eigent­liche Problem nicht in der Er­kennt­nis dieser (seiner) Wahr­heit von der Determiniertheit des Men­schen, son­dern in ih­rem persönlichen und gesell­schaftlichen Ak­zep­tie­ren be­steht, weil entgegen der fausti­schen Obsession der Philo­sophen, den letzten Grund der Dinge zu erkennen, jeder Deter­minismus doch gegen den gesunden Men­schen­ver­stand an­kämpft, da die Vor­stel­lung, wir seien unfrei, uns letztlich unerträg­lich bleibt, auch wenn die darin liegende Tröstung für die tat­sächlich erfahrene Ohnmacht des Einzel­nen noch so groß sein mag. Doch auch ohne restlos überzeugen zu können, ist die Macht deterministischer Gewißheiten groß.

Paradoxerweise ist es die Freiheit selbst, die uns Un­frei­heit suggeriert. Es ist die Freiheit, daß alles seinen Lauf neh­men kann, die Freiheit des sich selbst regulierenden oder viel­mehr deregulierenden Marktes, die Frei­heit der techno­logi­schen und gesell­schaft­lichen Entwick­lung. Diese »Freiheit« ist nicht die Freiheit der Menschen, sondern die Freiheit von Pro­zessen, an denen die Menschen eher als Statisten denn als Akteure mitwirken. Wirtschafts-, Technologie-, Sozial- und Geschichts­darwinismus heißt, dafür zu sorgen, daß der angeb­lich natür­liche Lauf der Dinge möglichst un­behindert erfolgen kann. Die Philo­sophie des survival of the fittest in allen Lebens­lagen suggeriert uns nicht nur, mit Blick auf die Zukunft, daß die Besten sich durchsetzen und die anderen zu Recht untergehen, son­dern zunächst den Um­kehr­schluß als dessen Voraussetzung, wonach alles, was sich durch­ge­setzt hat, auch das Beste sei, und das Gescheiterte das Schlechte: »Wer Erfolg hat, hat auch Recht.«

 

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Die Zukunft von der Vergangenheit befreien heißt also nicht, die Vergangenheit vergangen sein zu lassen, sondern heißt zu verstehen, daß die Zukunft keine lineare Fortsetzung der Vergangen­heit ist. Die Vergangenheit von der Zukunft be­freien heißt auch nicht, die Vergangenheit vergangen sein zu lassen, sondern aus ihr nicht linear die Zukunft extrapolieren zu wollen. Vergangenheit ist für die Gegenwart nicht nur das, was geschehen ist, sondern auch das, was nicht geschehen ist, aber hätte geschehen können – und manchmal auch sollen. Zukunft ist nicht nur das, was wir aus der Vergangenheit heraus vor­hersagen können, sondern gerade auch das, was wir nicht vorhersagen können.

 

 

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