|
Historia interculturalis |
|
« Fenêtre » Takashi Naraha Clermont-Ferrand |
Thema: Die Alte und die Neue Welt Weltliteratur(en) / Lateinamerika |
|
|
Last
update: 30.1.2009 |
|
|
|
|
|
|
|
|
||
|
1.
Soutanenkaserne oder heiliges Experiment? Die
Jesuiten-Reduktionen in Paraguay im europäischen Urteil von
Thomas Lange |
|
Auf den angeschlossenen Seiten: |
|
|
|
2. Exotismus und
Kulturwandel – Lateinamerikanische
Literatur im Deutschunterricht von
Thomas Lange |
|
|
3.
Übungen in exotischer Phantasie – Texte
von Gabriel García Márquez als Material für die Annäherung an eine
außereuropäische Literatur von Thomas Lange |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
©
1982-2009 Thomas
Lange |
Soutanenkaserne oder heiliges Experiment? Die
Jesuiten-Reduktionen in Paraguay im europäischen Urteil von
Thomas Lange Zuerst
in: Karl Heinz Kohl (Hrsg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte
Lateinamerikas. Ausstellungskatalog der Horizonte '82. Berlin: Frölich und
Kaufmann, 1982, S. 210-223. |
|
[1] Zu geographischen Utopien vgl. Ernst Bloch,
Das Prinzip Hoffnung,3 Bde. (1959),
Frankfurt/M 1969, 5.873 ff.; zu Kolumbus: Bloch a. a. 0., 5.903 ff.; zu den
europäischen Reisenden vgl. Ralph-Rainer Wuthenow, Die erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der
Aufklärung, Frankfurt/M 1980, S.
34. [2] G. W. F. Hegel, Philosophie der Geschichte (posthum 1837), Leipzig o. J., S. 128 |
Das Amerika der Utopien Amerika ist der Kontinent der
Utopien. Zwar wurden, solange die Nachrichten der europäischen Reisenden noch
ungenau blieben, in alle Erdteile Vorstellungen vom ganz anderen,
schrecklichen oder glücklichen Leben projiziert: die »geographischen Utopien«
(E. Bloch) der abendländischen Phantasie schweiften von der Antike bis zur
Renaissance in alle Weltgegenden, zu allen entdeckten oder (wie der
Südkontinent Australien) vorerst nur erfundenen Weltteilen aus.[1] In den
Berichten des Kolumbus flossen dann die antiken Sagen von den »Glücklichen
Inseln« mit den christlichen Vorstellungen vom »Irdischen Paradies« zusammen.
Auf der rund gewordenen Erde schien jenes - westwärts vermutete und dieses -
östlich gesuchte - Ideal in der Neuen Welt »Amerika« konkretisierbar zu
sein. Doch nach der restlosen Zerstörung und Plünderung der Reiche in Peru
und Mexiko blieb vom gesuchten Eldorado nur ein gelegentlicher Gold-,
Kautschuk- oder Ölrausch übrig. Aber dafür rückte die Idee mehr in den Vordergrund,
die nicht zu findenden, weil nicht vorhandenen Paradies-Utopien aus eigenen
Kräften in jener »Neuen Welt« selbst zu errichten. Anderen Erdteilen wandte
man sich mit diesen Gedanken kaum zu. Afrika war bis zum Ende des 19.
Jahrhunderts weithin unbekannt und vor allem abweisend; von Europäern wurden
allenfalls Küstenstationen besetzt. Auch Asien mit seinen alten, z. T. nicht
weniger abweisenden Kulturen war kein Experimentierfeld für europäische
Träume vom idealen Staat. Amerika aber schien »tabula rasa« zu sein, und zwar
sowohl der Raum wie die Menschen, deren eigene Anläufe zu entwickelteren sozialen
Formen »allmählich an dem Hauche der europäischen Tätigkeit untergegangen«
waren, wie der Philosoph Hegel kühl resümierte. [2] Ideale Staaten
wurden von ihren vorsichtigen Erfindern meist im Nirgendwo angesiedelt (so z.
B. die der Gattung den Namen gebende Utopia (1516), was übersetzt heißt:
»Nirgendland«, des englischen Lordkanzlers Thomas Morus). Amerika blieb der
Kontinent, wo solche an einem Ideal orientierte Gründungen die Realität
fanden, in der sie entstehen konnten, aber auch sich verändern mußten. Die
»Vereinigten Staaten von Nordamerika« sind das wirksamste, mächtigste und
langlebigste Beispiel dafür; die vor einigen Jahren im Urwald Guyanas im
Massenselbstmord geendete Sektengründung des US-Amerikaners Johnson ist das
düsterste. Die Jesuiten-Reduktionen des 17. und 18. Jahrhunderts in Paraguay
sind mitsamt ihren tatsächlichen und ideologischen Nachwirkungen ein weiteres
herausragendes Beispiel solch einer utopischen Gründung. |
|
[3] German
Arciniegas, Kulturgeschichte
Lateinamerikas (Buenos Aires
1965), München 1960, S.198 ff., 434; Mark Münzel, Indianer in Paraguay - ein Überblick, in: pogrom, Heft 49, 1977: »Paraguays Indianervälker«, 5.44-61,
hier: S. 44 f.; vgl. als neueste Publikationen hierzu: Philip Caraman, Ein
verlorenes Paradies (London 1975),
München 1979 und Heinrich Krauss / Anton Täubl, Mission und Entwicklung. Der Jesuitenstaat in Paraguay. Fünfteiliger Kurs im Medienverbund,
München 1979. [4] Ich folge Münzel. a.
a. 0.; Gustav Otruba, Der Jesuitenstaat
in Paraguay. Idee und Wirklichkeit. Wien 1962; Louis Baudin,
Une theocratie socialiste: L'etat jesuite
du Paraguay, Paris 1962; Robert
Lacombe, »Une plainte indienne internationale au XVIII< siecle: La fin des
bons sau vages«, in: L'Ethllografie, Nr.
5, 60-61, Jg. 1966/7, S. 102-122. |
Bemerkens- und erinnernswert
sind diese Reduktionen aus mehreren Gründen: einmal sind sie ausnahmsweise ein
»Hauch europäischer Tätigkeit«, der den Eingeborenen zum Leben und nicht (wie
üblich und von Hegel umschrieben) zum Sterben verhalf; sie bewirkten, daß Hunderttausende
von Indianern vor Elend und Tod in Zwangsarbeit für spanische und
portugiesische Herren verschont blieben; und wenn heute in Paraguay als
einzigem Staat Südamerikas eine Indianersprache, das Guarani, die Verkehrssprache
der Bevölkerungsmehrheit ist, dann ist das eine Spätwirkung der jesuitischen
Missionspolitik, die Indianer in ihrer eigenen Sprache zu bekehren; eine
andere Spätwirkung sind aber die isolationistischen Tendenzen des Staates
Paraguay, denn schon die Jesuiten wollten mit dieser Sprache ganz gezielt
eine Schranke zwischen Indianern und Weißen errichten; bemerkenswert und
ungewöhnlich ist ebenfalls, mit welcher Heftigkeit von den Aufklärern des
18. Jahrhunderts bis zu den Schriftstellern, Soziologen und Anthropologen
des 20. Jahrhunderts darum gestritten wurde, wie - positiv oder negativ,
vorbildlich oder abschreckend - denn nun diese Indianermissionen zu bewerten
seien. [3] Begonnen hatte alles aus praktischen Notwendigkeiten.[4] Nach den
Eroberungszügen des 16. Jahrhunderts, in denen die Ebenen Südamerikas mehr
oder weniger nur Durchgangsgebiet für die goldhungrigen Raubexpeditionen nach
Peru und anderen vermeintlichen Goldländern waren, begann die spanische Kolonialverwaltung,
die sich allmählich niederlassenden Siedler zu organisieren. Diese sahen sich
anfänglich vor allem als Erben der Konquistadoren und waren wenig
interessiert an eigener Arbeit als Bauern, Kaufleute oder Handwerker; die
spanische Kolonialverwaltung förderte diese Haltung aus ganz anderen Interessen.
Sie verbot den Siedlern selbständigen Handel und die Fabrikation von Gebrauchsgütern,
weil der absolutistische spanische Staat nach merkantilistischen Grundsätzen
allein daran interessiert war, Edelmetalle und landwirtschaftliche Produkte
bei sich einzuführen und dafür mit seinen Manufakturwaren die Kolonien zu
beliefern. Die Ureinwohner des Kontinents bekamen in diesem System eine
wichtige Funktion: die des Arbeitstiers, auf dessen Rücken das System getragen
wurde. Soweit die Indianer nicht direkt als Arbeitskräfte in den königlichen
Gold- und Silberminen verschlissen wurden, lieh der König sie dorfweise als
»encomienda« (Schutzgut) einzelnen Siedlern aus. In diesem quasi-feudalen
Kommenden-System hatten die Indianer ihrem »encomendero« Abgaben und vor
allem Arbeitsdienste zu leisten. Um allzu brutale Ausbeutung zu verhindern,
erließ die Kolonialverwaltung zahlreiche In dianerschutzgesetze und
verpflichtete zugleich die »encomenderos« zum Schutz und zur
Christianisierung der Indianer. |
|
|
Die ersteren wurden weitgehend
unterlaufen, das zweite - milde formuliert - sehr vernachlässigt: sobald
wandernde Franziskaner- oder Dominikaner-Mönche eine Indianergruppe getauft
hatten, zogen sie weiter und überließen sie einer wenig christlichen
Ausbeutung, der sich viele Indianer denn auch durch Flucht entzogen. Andere
Stämme im Chaco-Gebiet, insbesondere in den Regionen nördlich von Buenos
Aires, konnten sich gewaltsam gegen alle Einbindungsversuche wehren. Mit
Militärexpeditionen holten sich manchmal die spanischen oder portugiesischen
Siedler als Kriegsgefangene, was sie an indianischen Arbeitskräften
beanspruchten. Doch blieb dies ebenso unsicher, wie der Schutz vieler Siedlungen
vor sich wehrenden Indianern in diesem Gebiet. Das war die Lage zu Beginn
des 17. Jahrhunderts. Vereinfacht gesagt hieß die
Aufgabe, die Indianer und die Siedler voreinander zu schützen und dennoch die
Produktionskapazitäten der Kolonie zu erhalten. Die Jesuiten lösten diese
Aufgabe, indem sie Indianer als eigenständige Produktionsgruppen
organisierten. - Diese Darstellung spitzt die Probleme absichtlich auf den
ökonomischen Aspekt zu, aber so lassen sich die entstehenden Konflikte und
auch das Ende der Reduktionen am besten verständlich machen. Weitgehende
Anpassung an die Lebensgewohnheiten der Indianer, effiziente ökonomische
Organisation und politische Bindung an die Zentralmacht waren die Gründe für
Erfolg wie für das schließliche Ende der Reduktionen. |
|
[5] Otruba,
a. a. 0., S. 118 |
Zur
Geschichte und Organisation der Jesuiten-Reduktionen Die Jesuiten, die anfangs unter den Missionaren in
Lateinamerika die kleinste Gruppe stellten, ergriffen Ende des 16.
Jahrhunderts die Chance, mit Hilfe der königlichen Verwaltung zum erfolgreichsten
Missionsorden zu werden. Ausgehend von dem für den Orden der Societas Jesu
kennzeichnenden Prinzip der »Akkomodation«, also der weitestgehenden
Anpassung des Missionars an die Lebensumstände des zu Bekehrenden, bauten die
Jesuiten das (schon von anderen Orden genutzte) Prinzip der Einrichtung
dauernder Missionsstationen zur Perfektion aus. Sie begnügten sich nicht
damit, die Indianer in Reduktionen, d. h. feste Pfarrdörfer, wo sie »ad
ecclesiam et vitam civilem essent redueti«[5] (zum kirchlichen und
zivilisierten Leben hingeführt werden sollten) zu sammeln, sondern gingen
mit der für sie eigentümlichen rationalen, wissenschaftlichen, erfolgsorientierten,
zentral gelenkten und überwachten Planung daran, das Leben der Indianer dort
zu organisieren. Nach dem Vorbild der Wirtschaftsordnung des Inkareiches
verfaßte der Jesuiten-Provinzial Diego de Torres, der in den Anden von
diesem System gehört hatte, Instruktionen, denen gemäß die erste (1609) und
mehr oder weniger modifiziert dann alle weiteren Reduktionen eingerichtet
wurden. Die Missionare waren fortan für die geistliche und weltliche Betreuung der Indianer
verantwortlich. Sie hatten ihre Sprache zu lernen und bekehrten und
belehrten sie, teilten die Arbeit auf den privaten wie auf den gemeinschaftlichen
Feldern ein, sorgten für die Kranken und verteilten Werkzeuge und Kleidung.
Recht anschaulich ist die Schilderung des Paters Escadon: |
|
[6] Zit. n. Otruba, a. a. 0., S. 146ff. |
»Die weltliche Regierung hängt auch fast gänzlich von
den Pater Pfarrern ab, eben sowohl oder noch mehr als die geistliche. Ich sage
den Pater Pfarrer, denn welche solches nicht, sondern nur Gehülfen sind,
mischen sich in das Weltliche der Mission fast gar nicht. Sie helfen aber
doch, so viel sie können dem Pater Pfarrer in einigen Geschäfften, wenn es
Zeit und Nothdurft erheischen; und solche Fälle eräugnen sich, wie man leicht
gedenken kann, oft genug. Diese weltliche Regierung übernahm die
Gesellschaft von Anfang an, und führet sie fort, denn ohne selbige würde
gewiß die geistliche~Regierung nicht bestehen können. Und da sie selbige übernommen
hat und dazu verpflichet ist (es sey aus Liebe oder aus Gerechtigkeit), so
ist sie mittlerweile sie selbige besitzet - gehalten, ihre Pflicht zu
erfüllen. Die Erfahrung lehret auch, daß die Indier
dazu ohne Leitung der Jesuiten Väter unfähig sind. Denn nach der Wahrheit
und ohne die mindeste Vergrößerung hat in der Allgemeinheit keiner dieser
Leute mehr Fähigkeit, Verstand und Beurtheilung als wir in Europa bey Kindern,
welche lesen und schreiben lernen, wahrnehmen, und welche ja allerdings
nicht im Stande sind, sich selbst zu regieren. Daher passet sich der Name
>Kinder mit Bärten<, welchen ihnen einige zu geben pflegten, sehr gut
auf diese Leute. Jeder Flecken hat seinen Bürgermeister, welchen sie unter
der Leitung des Paters, mit welchem sie bey ihrer Wahl zu Rathe gehen, wählen.
[ ... ] Diesen Bürgermeistern, A1caldes und den andern
obrigkeitlichen und Gerichtspersonen erweisen die übrigen alle Ehrfurcht, so
lange sie diese Aemter bekleiden, ob wohl hernach alle wieder gleich sind.
Der Bürgermeister führet zum Zeichen seiner Würde
ein Rohr oder Stab und die A1caldes ihre Ruthen. Diese drey besprechen sich
nach der Messe mit dem Pater Pfarrer über die Vorfälle bey der Regierung des
Volkes, es seyn rechts- oder ökonomische Sachen; und sie statten ihm Bericht
ab, wenn sie in voriger Nacht jemand ins Gefängnis oder nach dem Castiguazu
gebracht haben, und warum solches geschehen sey. Und hier wird gleich entschieden,
ob der Gefangene, es sey Mann oder Frau, noch andre Strafe haben soll, oder
ob er los zu lassen sey, und frey und ohne Kosten nach Hause gehen könne, wie
zum öftern geschieht. Hiernächst sagt ihnen der Pater, wie das Volk an dem
Tage zu vertheilen sey: ob sie, jedweder für sich selbst oder für die
Gemeinheit arbeiten sollen; und dies geschieht, so wie bey uns in einer wohleingerichteten
Familie jeden Tag das gethan wird, was der Hausvater befiehlet. Um sich hievon einen deutlichern Begriff zu machen, ist
anzumerken, daß alle diese Missionen, und zwar jedwede derselben aus vielen
Cazikschaften oder Stämmen bestehe, so wie man sie beym Anfange ihrer
Bekehrung zu jeder Mission gesammlet hat. Und so sind in einigen Missionen
zwanzig, ja dreyßig Caziken. Selbige haben mit den Leuten ihres Stammes um
den Flecken herum ihre angewiesenen Ländereyen, viele oder wenig, in dem
Verhältnis, wie die Cazikschaften oder Stämme groß oder klein sind. Und in
diesem Bezirk hat ein jeder sein Stück Land, worauf er seinen Mais, seine
Bataten, Mandiocas, Hülsenfrüchte usw. säet; so daß er aus Mangel am Lande
niemals unterlassen darf zu säen, was er will, ohne genöthiget zu seyn, Land
in der Gerichtsbarkeit eines anderen Stammes zu suchen. Diese Aecker so wie
alle übrige Ländereyen der Gerichtsbarkeit jeder Mission gehören ihrer
Gemeinheit zu, und kein Einwohner hat mehr als Nutzung davon; und also verkaufet sie auch einer dem andern nicht. Dasselbige
gilt auch von den Häusern, welche sie in dem Flecken bewohnen. Der Flecken
ist auch in Cazikschaften abgetheilet, in einer oder zwey Straßen wohnet ein Cazik mit seinem Stamme, und in anderer Straße
wohnet ein anderer mit den seinen. Alle diese Häuser führet
die Gemeinheit auf, bessert sie, wo es nöthig ist, aus, und bauet sie wieder
auf, wenn sie verfallen. Um den Flecken herum und in seiner Nachbarschaft sind
von besagter Vertheilung einige große Stücke Land ausgenommen und für die
gemeinheitlichen Aussaaten, wovon ich bereits geredet habe (selbige werden
von dem jungen Volk und den Kindern bearbeitet und bestellet), bestimmt.
Diese Aecker werden mit Mais, etwas Waizen und viel Baumwolle bestellt,
wovon alles Volk gekleidet wird. Zur Zeit der Bestellung der Aecker und der
Erndte verrichten auch alle Männer zwey oder drey Tage in der Woche andere
Arbeiten, deren die Gemeine bedarf, als Häuser auszubessern oder aufzubauen,
Holz zu fällen usw. Die andern Tage arbeitet jeder für sich allein auf seinen
eigenen Aeckern, wozu die Gemeinheit einem jeden sein Paar Ochsen hergiebt,
wenn er es verlanget, nur mit der Bedingung,
selbige, wenn er ihrer nicht mehr bedarf, wieder abzuliefern. Dies leistet
er gemeiniglich, bisweilen aber schlachtet er auch einen oder alle beyde ab
und läßt sich ihr Fleisch wohl schmecken. Er wendet alsdenn vor, sie hätten
sich verloren und bezahlet diesen Verlust mit einem Rücken voll Schlägen,
welche ihm wie einem Kind gegeben werden, damit er nicht ein andermal das
zweyte Paar Ochsen, welche man ihm aufs neue giebt, wieder verliere. Die Tage, an welchen die Männer für die Gemeinheit
arbeiten, arbeiten ihre Weiber auch für die Gemeinheit, nicht auf dem Felde,
sondern in ihren Häusern, da sie Baumwolle spinnen, welche ihnen nach der
Messe abgewogen ausgetheilt wird, und sie liefern auch das Garn vor der Nacht
nach dem Gewichte wieder ab. [ ... ] Mit diesen benannten gewebten Zeugen werden alle Knaben
und Mägdchen zweymal des Jahres gekleidet und alle Männer und Weiber einmal. Hierzu
werden gewisse Tage anberaumt, und dem Volke wird es bekannt gemacht, damit
ein jeder in seiner Ordnung komme, seine Kleidung oder das Stück dazu
abzuholen, welches bey ihm zurecht gemacht wird.
Einen Tag kommen also alle Knaben, einen andern alle Mägdchen; einen andern
die Männer und einen andern die Weiber [ ... ] Auf gleiche Weise und in eben
der Absicht werden sie auch nach der Rolle und Cazikschaft aufgerufen,
jedesmaL wenn Fleisch ausgetheilet wird, welches dreymal in der Woche zu
geschehen pflegt. Jeder Flecken hat daher sein Weide- und Trifft-Hornvieh,
worüber Hirten gesetzt sind, welche so viel Stück abgeben, als das Volk zum
Unterhalt bedarf, mehr oder weniger, nachdem die Mission groß oder klein ist,
und so wie der Mangel an anderen Lebensmittel größer oder geringer ist. Zu
Zeiten ist dieser Mangel so groß, daß man kaum etwas anders als Fleisch hat,
und alsdenn ist man genöthiget, es alle Tage und in Menge auszutheilen, und
denn müssen des Tages zwölf, zwanzig, ja wohl dreyßig Kühe geschlachtet
werden. Für die Kranken wird täglich in dem Hause und der Küche
und der Jesuiten Väter das Essen zubereitet. Die Krankenwärter der Mission
müssen alle Morgen dem Koch anzeigen, wie viel Kranke im Flecken sind, und
für sie insgesammte, es mögen zufällige oder chronische seyn, wird das Essen
veranstaltet, so daß jedweder eine gute Schüssel Fleisch und ein gutes Stück
Waizen-Brod bekommt. Messer, welche sie beym Essen und in anderen Fällen
brauchen, werden ihnen alle Jahre durch neue ersetzet. Alle Männer nämlich bekommen
Messer, wie auch einen Keil oder Beil zum Holzhauen u. s. w. Verlieren sie
sonst in der Zwischenzeit ihr Messer oder Keil so giebt man sie ihnen abermal
und kommen sie ihnen zu Schaden, so läßt man es ihnen in der Schmiede wieder
zurechte machen, eben so wird es in Ansehung des Zügels ihrer Pferde u. s.
w. gehalten. Nadeln, welche sie Ynque oder »Dorn mit Loch« nennen, werden
Jungen und Alten, Männern und Weibern ausgetheilt. Aus ein paar Nadeln machen
auch Erwachsene viel; und verlören sie selbige nicht so häufig, so könnten
sie ganz damit bedecket seyn. Auch theilet man unter sie bald an diesen,
bald an jenen weiße Medaillen, Scheeren u. s. w. aus, so wie man Vorrath davon
hat; und an die Weiber insonderheit Mbois oder gläserne Corallen von
mancherley Farbe, welche ihnen statt Perlen und Diamanten dienen, womit sie
sich und ihre Töchter schmücken. Die wollenen Zeuge, welche die Procuratores
mit zu schicken pflegen und die von verschiedener farbe sind, werden an Indier,
welche sich durch Verdienste hervorgethan haben, ausgetheilet, als an die
Magistratspersonen, Caziken und andere Aufseher und brave Leute u. s. w. Die
Musikanten bekommen auch davon, und hieraus wird die Kleidung der Tänzer
gemacht. An gewissen feyerlichen Tagen erscheinet der ganze Magistrat oder
doch die Vornehmsten desselben in aus diesem Zeuge nett gemachter spanischen
Tracht, welches eben so viel als wenn man in Spanien den Kragen anlegt. Nach
geendigter Festlichkeit aber werden diese Magistratskleider wieder ins
Magazin zur Verwahrung abgeliefert, bis zu einer andern Gelegenheit, so wie
die Tänzerkleider.«[6] |
|
|
So wirksam und
zweckmäßig diese Organisation auch war: erfolgreich und für die Indianer
attraktiv wurde sie vor allem deshalb, weil die Jesuiten ihre Reduktionen
durch königliches Privileg unabhängig vom Kommendensystem halten konnten, d.
h. ihre Indianer waren vor der Zwangsarbeit für die weißen Siedler geschützt.
Die Jesuiten machten die Indianer aber nicht nur seßhaft, sondern zivilisierten
sie auch. Was das praktisch bedeutete, schildert naiv und plastisch einer
der (recht zahlreichen) österreichischen Patres, Anton Sepp: |
|
[7] Antonii Sepp und Antonii Bähm, der
Societät Jesu Priestern Teutscher Nation Reiszbeschreibung,
wie dieselbe am Hispanien in Paraguariam kommen ... Nürnberg 1697, pag.
320-33z; zit. nach Otruba, a. a. 0., S.40-43 |
»Zu Morgens, eine Stund vor Anbrechung des
Tags, wecket mich mein Indianer Büblein mit Namen Franciscus Xaverius, sein
Gesell heißet Ignatius, auf. Er aber wird von dem Sacristan und dieser vom
krähenden Kucker-Hahn aufgeweckt: zündet mir in meinem Zimmerlein die
Inschlicht-Kertzen an .... Nach Besuchung der Kranken visitire ich unsere
Officinas: Erstlich gehe ich in die Schul der kleinen Indianer-Büblein, so
lesen und schreiben lernen. Die Mägdlein anstatt dessen lernen spinnen,
stricken, nähen. Gibe ihnen die Lection, examinire selbige. Darauff gehe ich
zu denen Musicanten, höre ihr Gesang, jetzt die Discantisten, deren ich 8,
Altisten deren ich sechs, Tenoristen ohne Zahl, Bassisten 6 habe Nachdem
blasen die 4 Trompetter, 8 Schallmeier, 4 Cornetisten auch ihre Lection. [
... ] Einen anderen Tag nimme ich die Tantzer zu Handen, lehre sie einige
Täntz, wie wir in denen Comedien zu haben pflegen und in Hispania an alle
hohhe Feste in der Kirchen gehalten werden .. [
...] Nachdem ich diese, wie gesagt, sambt denen
Musicanten instruiret, visitir ich die andern Werckstätt, als die Brenn- und
Ziegel-Oeffen, die Mühl und Brod-Banck, die Schmitten, Schreinerey und
Zimmerleuth. Siehe, was die Bildhauer schnitzeln, Mahler mahlen, Weber
wircken, Drechsler drehen, die Stricker strikken. Die Metzger schlachten
täglichen, nachdem das Volck oder Dorff groß, 15 bis 20 Kühe. Die Indier
essen keinen Kopff, Fuß, Ingeweyd, Schweiß oder Blut, Leber, Lungen, Fatzen,
sondern das pure Fleisch. Wann mir Zeit übrig, gehe ich in Garten, siehe, ob
die Gärtner ansäen, Pflantzen wässern, jäten, grasen. Der beste aus den
Discantisten leset mir über Tisch ein Capitel aus der
Heil. Schrifft latei- nisch; alsdann aus der Legent der Heiligen
spannisch. Ein anderes Büblein zu End das Martirologium oder Calender der
Heiligen, so aff jeden Tag fallen. 6 andere Büblein, so stets bey mir im Haus
wohnen, dienen zum Tisch. Einer träget auff, der andere ab, einer holet das
Wasser aus dem Fluß, andere butzen das Liecht. Dieser träget das Brod auff,
jener bringet Früchte aus den Garten. Alle seyn barfuß,
stehen mit entdeckten Haupt da gantz züchtig, gleich denen Novizen, auf alle
Augen-Wink bereit, expedit und hurtig. Nach meinem Tisch-Essen gemelte
Kinderlein giebe ihnen allezeit ein gutes weißes
Stuck Brod, so ihnen über alles offtermahlen ein wenig Honig zum Schlecken,
Fleisch genug. [ ... ] Um halbweg 1 Uhr beten wir in der
Kirchen aller Heilgen Litaney mit obgemeldten Kindern. Alsdann bis auf 2
Uhr hab ich Zeit für mich, etwas zu arbeiten. [ ... ] Umb 2 Uhr giebet man ein Zeichen mit der
großen Glocken zur Arbeit. Gehet dann wiederum das Visitiren der Werkstätt an.
Gehe abermals zu denen Kranken, tröste sie und
siehe, was ihnen mangelt. Alsdann um 4 Uhr halte ich Kinderlehr, bete mit dem
Volck den Rosen-Crantz, darauf die Litaney und mache mit ihnen überlaut Actum
Contritionis, Reu und Leid über unsere Sünd. Nach diesem begrabe ich die
Todten, so fast täglich geschicht. Alsdann bete meine priesterlichen
Tag-Zeiten, des andern Tages Matutinum et Laudes. Umb 7 Uhr esse ich zu Nacht.«[7] |
|
[8] Otruba,
a. a. 0., S. '33, 143 f.; Arciniegas, a. a. 0.,
5.295 f. |
Die Kulturleistungen der musizierenden, schreibenden, webenden
und Kirchen bauenden und auschmückenden Indianer waren beachtlich, vor allem
wenn man sie gegen das elende Dasein unter der Peitsche der »encomenderos«
hält. Noch beachtlicher aber waren die wirtschaftlichen und sogar
militärischen Erfolge, die die Reduktionen erzielten. Bis zur Mitte des 18.
Jahrhunderts waren, weit über das engere Gebiet um den Parana - und
Uruguay-Fluß hinaus, über dreißig Reduktionen errichtet worden, in denen
150000 bis 200000 Indianer lebten. Sie waren von den weißen Siedlern, nicht
aber untereinander isoliert: neben der Selbstversorgung der Missionen
wickelte der Orden einen gewaltigen Handel mit den Landesprodukten (yerba-Tee
und Tierhäuten vor allem) ab, von dem die weißen Siedler ausgeschlossen
blieben. Die Reduktionen blieben als Wirtschaftsgebiet abgeriegelt;
Arbeitskräfte, yerba-Plantagen, Äcker, Weiden und Vieh existierten in
Gerüchteweite von den spanischen Ansiedlungen, die aber vom so nutzbar
gemachten Wirtschaftspotential nichts hatten. Der Waren- und Geldstrom floß
an ihnen vorbei, nur der König erhielt einen mäßigen Kopfzins. Die Siedler
begannen, an verborgene Goldminen und Schätze zu glauben und daran, daß die
Jesuiten ihnen das dringend zum Aufbau eigener Kapazitäten gebrauchte Kapital
vorenthielten. Zur weiteren
Feindschaft der Siedler gegen die Jesuiten trug bei, daß sie die Indianer
zwar pazifiziert, aber nicht entwaffnet hatten. Gegen die plündernden
Sklavenjäger aus Sao Paulo (die Paulistaner »bandeirantes«) hatten die
Indianer unter der Leitung der Jesuiten sich zuerst durch Flucht (1632 zogen
12000 Indianer über 1000 Kilometer weiter in Sicherheit), schließlich aber
auch durch bewaffneten Widerstand geschützt. Das königliche Verbot zum Waffenkauf
umgehend, hatten die Jesuiten in den Reduktionen selbst Waffen hergestellt,
und 1641 schlugen 4000 von Jesuiten geführte Guaraniindianer 400
Paulistaner, die von 2700 Tupi-Indianern unterstützt wurden. Mehrmals
besiegten Reduktionstruppen aber auch nicht-pazifizierte Indianer und
retteten spanische Siedlungen. Auch im Konflikt der spanischen Krone mit den
portugiesischen Truppen waren die Reduktionstruppen siegentscheidend (z. B.
1660 und 1704 bei der Eroberung der - Buenos Aires bedrohenden - Festung
Sacramento). Die Indianertruppen den Jesuiten wurden ein militärisch relevanter
Faktor; politisch entscheidend war, daß sie sich stets für die Interessen der
Zentralgewalt, der Gouverneure schlugen. Damit vertieften sie den Gegensatz
zu den weißen Siedlern, die Freiheit und Unabhängigkeit für Handel und
Gewerbe - und die Verteilung der Reduktionsindianer an
"encomenderos" forderten. 1649 und 1735 halfen die Reduktionstruppen
den königlichen Gouverneuren, die Siedler der Zentralgewalt im fernen Spanien
zu unterwerfen. Die Revolte der städtischen »comuneros« 1730-35 in Asunci6n
unter den Anführern Antequera und Mompox war aber schon ein Vorklang auf
die Unabhängigkeitsbestrebungen des liberalen Bürgertums im 19. Jahrhundert.
Die »comuneros« billigten sich ein Widerstandsrecht gegen König und
Gouverneur zu [8] die Jesuiten aber standen treu zur absolutistischen
Gewalt. Sobald sie diese Treue brachen, verloren sie ihre entscheidende
Unterstützung. Dieser Ausbruch aus der dienenden Selbstgenügsamkeit fand in
den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts statt. |
|
|
Spanien wollte
seine Grenzen mit Portugal in Lateinamerika regulieren. Die Grenzen wurden
so gezogen, daß 7 Jesuitenreduktionen ihr wohlbestelltes Land aufzugeben, 30.000
Indianer eine neue Ansiedlung zu suchen hatten. Sie opponierten auch mit
Waffengewalt (1751- 56). Zwar waren die Jesuiten erfolgreich, denn der
Grenzvertrag wurde 1762 annulliert. Doch dieser Versuch, einen eigenen
politischen Willen zu behaupten, leitete das politische Ende der Reduktionen
ein. Seit langem auch in Europa verdächtigt, die Aufklärung und den
Fortschritt zu behindern, wurde den Jesuiten in einer großen
Propagandakampagne nun die Bildung eines eigenen Staates, ja eines
Königreiches in Paraguay, mithin: Hochverrat vorgeworfen. 1767 wurde der
Orden aus der spanischen Besitzung verbannt, die Missionare in Amerika
wurden verhaftet. Die in den Reduktionen vermuteten Schätze blieben Gerücht.
Die vorhandenen Vorratshäuser und Magazine wurden geplündert, die Arbeit der
Indianer nicht mehr straff organisiert, die Gütergemeinschaft zwar erhalten,
doch die Verwaltung jetzt unter einen (nur fürs Geistliche zuständigen) Pater
(meist ein Franziskaner) und einen königlichen Beamten geteilt. Die Folge
war, daß die Reduktionen bis zum Ende des Jahrhunderts auf die Hälfte der Bewohner
zusammenschmolzen und sich schließlich gänzlich auflösten oder aber aus den
Missionsdörfern ganz normale Dörfer wurden. Der Streit um sie aber war lange
noch nicht zu Ende. |
|
[9] Geschichte der Abiponer, einer berittenen und kriegerischen
Nation in Paraguay. Bereichert mit einer Menge Beobachtungen über die wilden
Völkerschaften, Städte, Flüsse, vierfüßigen Thiere, Amphibien, Insekten,
merkwürdigsten Schlangen, Fische, Vögel, Bäume, Pflanzen und andere Eigenschaften
dieser Provinz. Verfaßt von Herrn Abbe Martin Dobrizhoffer,
achtzehn Jahre lang gewesenen Missionär in Paraguay. Aus dem Lateinischen
übersetzt von A. Kreil. Wien 1783/4., vgl. u. Anm. 24, Lacombe, a. a. 0.,
S. 109; Otruba, a. a. 0., S. '76; Krauss/Täubl, a. a. 0., 5.13; Caraman, a.
a. 0 .. 5.290 [10] Vgl. Silvio A. Zavala, "La Utopia
de Tomas Moro en la Nueva Espana«, in: Biblioteca
Historica Mexicana de obras ineditas, Bd·4,
Mexico 1937, S. 4-15.; Marcos Martinez Mendieta, "El imperio jesuitico y
la ciudad del sol«. in: Foro
Intenacional, Mexico, Bd.3, 1962,
S. 277-305.; Baudin, a. a. 0.; Hin und
Her, Hin süße und vergnügt, Her bitter und betrübt. Das ist treu gegebene Nachricht durch einen im Jahre 1748 aus
Europa in West-America, nahmentlich in die Provinz Paraguay abreisenden und
im Jahre 1769 nach Europa zurukkehrenden Missionarium P. Florian Paucke S.
J. - Zwettler-Codex 420, hg. von Etta Becker-Donner unter Mitarbeit von
Gustav Otruba. Wien 1959, S.57ff.; s. auch Richard Konetzke, »Zur Geschichte
der Jesuitenreduktionen in Paraguay«, in: Vierteljahresschrift
für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd.
47,1960, S. 232-244 |
Die Jesuitenreduktionen: realisierte Utopie oder
idealisierter Zwangsstaat? Die ideologische Auseinandersetzung um die Jesuitenreduktionen -
oder den »Jesuitenstaat« (schon die Wortwahl zeigt Position) - begann im 18.
Jahrhundert als Propagandakrieg, und sie ist im 20. Jahrhundert noch nicht
beendet. Der Streit begann als politische Auseinandersetzung zwischen
aufgeklärten Staatsmännern und Philosophen einerseits und den Jesuiten
selbst andererseits. Die bis ins 20. Jahrhundert fortgeschriebene apologetische
Jesuitenliteratur mußte sich dabei nicht nur gegen aufklärerische Anklagen,
sondern auch gegen manchmal unvermutete Freunde wehren: gab es doch Autoren,
die in dem Gemeineigentum und der gemeinsamen Produktion der Indianer den
Kommunismus verwirklicht fanden. Die außerordentlich zahlreiche jesuitische
Verteidigungsliteratur bewies in der Wahl und dem Geschick ihrer
Argumentation, wie lebendig die Tradition der »Akkomodation« im Orden war und
ist: es läßt sich verfolgen, wie die jesuitischen Argumente den jeweiligen
Zeitströmungen sich anschmiegten. Der Pater Dobrizhoffer näherte im 18. die
Indianer dem Mode-Ideal des »edlen Wilden« an; im 20. Jahrhundert waren
dann die Reduktionen einmal Modell für eine Art wirtschaftlicher »Hilfe zur
Selbsthilfe«, oder sie wurden in den sozialkritisch gesonnenen 60er Jahren
in der Nähe kommunistischer Sozialordnungen angesiedelt; gegenwärtig dienen
sie mal als Vorbild einer »Demokratie für ein farbiges Volk« oder als Hilfe
bei der Identitätsgewinnung für die Indianer heute.[9] - Jedenfalls wurde im Lauf der Zeit aus dem
politischen Streit zunehmend ein akademischer (mit politischer Relevanz):
war in den Ebenen Paraguays abseits aller Revolutionen der Versuch
geglückt, einen idealen Staat, eine Utopie zu errichten? Die Auseinandersetzung darüber, ob die Jesuiten sich eine der
zeitgenössischen Utopien (die Utopia des Morus, 1516, oder den Sonnenstaat des Campanella, 1602) zum Vorbild genommen hätten,[10] kann wohl
als entschieden gelten: die Jesuiten folgten keinem bestimmten Vorbild; sie
griffen Ideen auf, die gleichsam in der Luft lagen, wie auch vorhandene
indianische Traditionen aus der Sozialordnung des Inkareiches. Letzteres
aber wurde damals so verstanden, daß es gleichberechtigt in den politischen
Rahmen des europäischen Absolutismus paßte, ja, geradezu als dessen Utopie
aufgefaßt werden konnte. Dies gilt auch für die, ebenfalls als Vorbild für
die Jesuiten reklamierte Darstellung des Inkareiches durch Garcilaso de la
Vega, dessen Comentarios reales
(1609) ganz sicher stark von den Ideen des Absolutismus geprägt waren.[11]
Die Jesuiten paßten sich, wie immer in ihrer »Akkomodationspraxis«, örtlichen
Gegebenheiten an und folgten praktischen Organisationsnotwendigkeiten. Mit
Ernst Bloch kann man ihre Missionsorganisation »campanellahaft«[12] nennen
und damit den akademischen Prioritätenstreit überflüssig machen. Die Ausgangspositionen des Streits um die Reduktionen lassen
sich in zwei Quellenauszügen darstellen. Da wäre einmal die weit verbreitete Schrift
des angesehenen italienischen Historikers Ludovico Muratori, die (1743/49
erschienen) alle Argumente für die stark angegriffenen Jesuitenmissionen
sammelte: die Einführung von Religion und Zucht bei den Indianern, die
Selbstlosigkeit der Missionare, das geradezu urchristliche Zusammenleben bei
der in den Missionen: |
[11] Vgl. Thomas Lange, Idyllische
und exotische Sehnsucht. Formen bürgerlicher Nostalgie in der deutschen
Literatur des 18. Jahrhunderts, Kronberg/Ts. 1976, S. 204. [12] Bloch, a. a. 0., 5.608. |
[13] Das glückliche
Christenthum in Paraguay, unter den Missionarien der Gesellschaft Jesu.... beschrieben
von Luduvico Antonio Muratorio seiner Lesenswürdigkeit wegen in das Deutsche
übersetzt. Erster Theil. Wien, Prag und Triest ... 1758; vgl. Francisco
Esteve Barba, Historiografia Indiana, Madrid 1964, S. 587 |
»Allein was war wohl für ein Mittel
ausfündig zu machen, ihnen die wahre Religion beyzubringen; und wenn sie dieselbe
auch erlerneten, wie würden solche Leute darinn verbleiben, welche nach Art
der wilden Thiere ohne einige beständige Vereinigung, ohne einiges Gesetz
ohne einige stete Wohnungen hin und her zerstreuet, in Wäldern und Höhlen versteckt
leben, sich heute da und kurz darnach sehr weit davon entfernet befinden;
welche beständig miteinander in Krieg verwickelt, so viehisch. so begierig
nach dem Menschenfleische und so rachbegierig sind? Es fiel diesen weisen
Geistlichen ein, sie hätten diese Unternehmung auf eben die Art und Weise
auszuführen. deren sich in den alten Jahrhunderten diejenigen bediente, die
mehr Verstand, als die anderen, hatten.« »Wenn ihnen [TL: den Indianern] gesaget
wird. unser Glaube lasse nicht zu. mehr als ein Weib zu nehmen; und daß
derselbe die Liebe, die Demuth. die Verachtung der zeitlichen Güter und
andere dergleichen Wahrheiten lehre: so fangen sie an das Gegentheil des
ruchlosen von ihnen in den christlichen Städten beobachteten Lebens den
Missionarien ins Gesicht zu sagen und bezahlen sie mit einem höhnischen
Gelächter. Mit einem Worte die Erfahrung hat die Patres aus der Ges. Jesu nur gar zu sehr gelehret.
daß von den Indianern keine Frucht zu hoffen ist. welche mit den Spaniern zu
thun haben können. und daß sie die Bemühungen der Missionen nur zu denjenigen
Völkern allein wenden müssen. welche weit von den Städten und dem Umgange der
Europäer leben.« »Man ist nicht willens zu bergen. daß bey den Nationen
von Paraguay das Predigen des Evangelii vielleicht nicht hinlänglich gewesen
wäre, selbige Völker zu bewegen, sich zu vereinigen, und das süsse Joch Jesu
Christi anzu nehmen, wenn man sie nicht mit menschlichen und material ischen
Mitteln dazu gebracht hätte, dasselbe anzuhören, unter weIchen das
kräftigste erkennet worden, daß man sie anfänglich im Überflusse mit
Lebensmitteln versehen hat.« » ... und der meiste Theil von ihnen ist von
solcher Eingezogenheit, von solcher brüderlichen Liebe, von solcher Unschuld
der Sitten und Andacht, daß sie eine Abschilderung der ersten Kirche scheinen
[ ... ]. Die Erfahrung hat zu erkennen gegeben, daß diese Indianer
meistentheils von einem sanftmüthigen und freundschaftlichen Geiste sind, und
heutzutage findet man bey den mehresten unter ihnen jene schöne Einfalt,
welche in dem Evangelio, als den Kindern eigen, angepriesen wird. Nicht
wenig trägt auch zur Erhaltung der Ehrbarkeit und Abstellung aller
Ausschweifungen dieses bey, daß die Missionarien auch bey der Nachtzeit
einige geheime Aufseher haben, welche ihnen alles, so ihrer Vermittlung
bedürftig seyn möchte, unverzüglich berichten: Diese theilen unter sich die
Nacht in drey gleiche Theile, und lösen einander zur bestimmten Zeit
ordentlich ab. Die zeitliche Glückseligkeit, so die christglaubige Indianer
in den Provinzen von Südamerika genüssen, ist nicht geringer als die
Geistliche. Eine Glückseligekeit, welche sich zwar viele an Pracht,
Verschwendung, und Wohllüsten gewohnte Europäer bey diesen armen Völkern
unmöglich werden einbilden können; die aber, wenn man sie nach den
Grundsätzen der Wahrheit betrachtet, dennoch bey ihnen wirklich, und
vielleicht in einem weit vollkommenern Grad, als bey vielen europäischen Völkern
anzutreffen ist. Meines Erachtens sind eine wohlgeordnete Freyheit, ein
genugsamer Vorrath zur Speise, Trank, Kleidung und Wohnung, der geheime
Friede, die Gemüthsruhe und Zufriedenheit, die wahre und ächte Gründe, auf
welche die zeitliche Glückseligkeit eines ganzen Volkes beruhet. Der größte
Theil deren von Paraguay führt kein anders Leben, und treibt kein andres Handwerk
als unsre Bauern in Europa, deren die meisten ungeschlacht, dumm, und von keinem
Verstand sind; doch aber insgemein von guten Sitten, eben darum weil sie ohne
Bosheit, und mit den Boshaften keinen Umgang haben, sondern sich mit ihrer
Arbeit einzig und allein beschäftigen. Doch findet man nicht nur in den
Städten, sondern auch auf dem Lande fähige Leute; besonders wo die Luft rein
ist; welche sofern sie zu den Künsten, Wissenschaften, und zur Handlung angehalten
werden, darinne unvergleichlichen Fortgang machen. - Eben dieses würde mit
den Indianern geschehen, wenn ihre Kinder gleichwie unsre in Europa in den
Schulen könnten abgerichtet werden. Es ist nicht zu zweiflen, daß nicht
einige derselben sich in den Wissenschaften und freyen Künsten hervor thun
würden. Man kann dieses, aus der großen Leichtigkeit schließen, mit welcher
sie die Musik und andre Künste, in welchen sie von den Missionarien
unterrichtet worden, begriffen haben, dergestalt, daß sie den Spaniern nicht
nur gleichgekommen, sondern selbe übertroffen haben."[13] |
|
|
Die Gegenargumente
versammelte der portugiesische Premierminister Marques de Pombal in seiner
Anklageschrift: Kurze Nachricht von der Republik der Jesuiten (1757). Sie
diente vor allem der Untermauerung der Position Portugals im Kampf um die von
den Missionaren zu räumenden Grenzprovinzen (s.o.). Darüber hinaus
wurde hier aber auch im Zuge der antijesuitischen Tendenzen Pombals die
Kritik für die Kritikrichtung der folgenden 200 Jahre angegeben: Die Jesuiten
führten nach Pombal ein drakonisch strenges Regiment über die Indianer, die
sich für das Wohlleben der Patres abschufteten und nur durch jesuitische
Greuelmärchen über die Weißen zusammengehalten würden. |
|
[14] Pombal in der
deutschen Übersetzung bei Otruba, a. a. 0 .. S. ,7 ff. |
»Es ist in den
Einöden Sertoens, unweit den Flüssen Uruguay und
Paraguai eine sehr mächtige Republique, welche von dem einen Fluß zu dem
anderen 31 große Völkerschaften und gegen 100.000 Mann zählet. Gleich wie
diese zum Vortheile der Jesuiten an Geld sehr vermögend, und den Überfluß an
Früchten hatte, desto bedürfftiger und unglückseeliger befanden sich die
trostlosen Indianer, welche unter einer betrübten Leibeigenschaft gedrukket
seufzen mußten. [ ... ] Ja sogar haben sie listiglich in selbiger Republique
und ihren Gegenden die Spanische Sprache einem jeden verbotten, nur allein
den Gebrauch der sogenannten Guaranaischen zulassend, um auf diese Weise
alle Gelegenheit einer Communikation zwischen den Indianern und Spaniern
abzuschneiden, auch alles in Geheim und entfernt zu halten, auf daß keine
Parthei von dem was wisste, was sich in den bedrängten Sertoenschen Einöden
zutrüge. Endlichen, da sie nach ihrer Art denen Indianern die Christenlehr
hielten und ihnen in ihrer Unschuld als einen unumstößlichen Grundsatz des
Christentums den blinden Gehorsam einflößten. Sonderlich aber sollten sie
sich an den von ihren Missionariis vorgeschriebenen Gebothen halten, welche
ohnedem sehr hart und unerträglich waren, wie ich folgendes erzehlen werde.
Jedoch gelunge es ihnen durch so viele Jahre, diese unglücklich vernünftige
Seelen in der härtesten und unterträglichsten Dienstbarkeit zu erhalten, wie
man bißhero gesehen, maßen diese armseelige Indianer der Meinung waren, als
wäre in der Welt kein mächtigerer Souverain als die Heiligen Patres Jesuiten.
Sie vermeinten auch, daß sie gäntzlich Vollmacht über ihr Leib und Leben
hätten, nicht wissend, daß sie einen König hätten, dem sie nicht als
Unterthanen, sondern als wirkliche Leibeigene gehorchen müßten. Es hielten nemlich
die Indianer vor eine gewisse Wahrheit, daß alles, was ihnen von den
Patribus geboten würde, müßte ohne Anstand und einzigen Zweifel vollzogen
werden. Vermög dieser Beherrschung über Leib und Leben führten sie unter den
Indianern eine General-Regul ein, welche der allgemeinen Art und der
christlichen Liebe zuwider lauffet, dergestalten, daß sie erstlichen zu
ihnen sagten, die weltliche Europäer oder Weiße wären solche Menschen, die
ohne Gesätze und Religion lebten, das Gold als Ihren Gott anbeteten, auch
sogar den Teufel in ihrem Leib hätten, folglich notwendiger Weise Feinde,
nicht nur der Indianer, sondern auch der Heiligen Bilder wären, so die
Indianer verehrten, solchergestalten, daß wann sie einmal den Fuß in ihr
Land setzen würden, sie selbes mit Feuer und Schwerd verheeren und nach
zerstörten Altären auch ihre Weiber und Kinder ihrer Wuth aufopfern würden.
l ... ] Zu gleicher Zeit ließen sie ihre Indianer in den Waffen üben und versahen
selbe mit Stuck, Pulver und Bley, auch mit dem Jesuiten-Habit verkleideten
Ingenieurs, welchen Campementer und andere derlei Fortifikationsübungen, in
denen die Indianer gleich unsren Truppen exerzieret werden mußten,
anzustellen, anbefohlen worden.«[14] |
|
[15] Alexander von Humboldt, Reise in die Aequinoctialgegenden des
neuen Continents, in
der deutschen Bearbeitung von Hermann Hauff. 6 Bde., Stuttgart 1861 -62; Bd.
S. 5.4 [16] Vgl. Baudin, a. a. 0., S.25 [17] Zit. nach der Übersetzung Herders, in:
ders., Adrastea, 4. Bde., Leipzig
1802. Aus: Herders Sämmtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, 24. Bd., Berlin
1886, S.26 [18] Buffon wird zitiert bei Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten
Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Berlin 1981, S. 151 f.; vgl. auch Michele Duchet, Anthropologie et Histoire au siècle des lumières, Paris 1971, S. 210 ff. |
Manche Punkte dieses Streites lassen sich einfach entscheiden.
Die Reichtümer der Jesuiten existierten vor allem in der Phantasie ihrer
Neider und Konkurrenten, der weißen Siedler, die den ökonomischen Erfolg
der Reduktionen sich nach ihren Wünschen - nur in Mengen von Geld, Gold und
Edelsteinen ausgemünzt vorstellen konnten. Davon wurde bei der Verhaftung
der Patres (außer Kirchenschmuck) nichts gefunden; aber noch fünfzig Jahre
später glaubte man im Urwald am Orinoko, wie Alexander von Humboldt berichtet,
an diese Reichtümer: »Man zog daraus [daß sie nicht gefunden worden waren -
TL] den falschen Schluß, die Schätze seyen allerdings vorhanden gewesen,
aber treuen Indianern überantwortet und in den Katarakten des Orinoco bis
zur einstigen Wiederherstellung des Ordens versteckt worden.«[15] Andere Fragen waren sehr zeitgebunden, so die nach dem möglichen
Hochverrat der Jesuiten gegenüber der spanischen Krone und ob sie sogar, wie
Pombal ausstreute, einen eigenen König »Nicolas I von Paraguay« gehabt
hätten. Das wurde im 18. Jahrhundert in einer umfangreichen Traktat- und
Propagandaschriften -Literatur erbittert umstritten, doch waren dies nicht
die überdauernden Gesichtspunkte. Nicht, ob die Jesuiten reich und autonom,
sondern ob die von ihnen regierten Indianer glücklich waren, ob die
kollektive Organisation von Arbeit und Eigentum als Modell taugte, ob hier
eine vorbildliche Form der Kolonisierung oder sogar eine Utopie realisiert
worden war, das bildete den Kern der Auseinandersetzung der nächsten 200
Jahre. Der glückliche Staat war nach den Maßstäben der aufgeklärten
Philosophen des 18. Jahrhunderts einer, in dem viel, fleißig und
diszipliniert gearbeitet wurde. Unter diesem Gesichtswinkel waren die Jesuitenreduktionen
vorbildlich. Hatte der erste Instruktor für die Reduktionen, Diego de Torres,
1609 gefordert, die Indianer daran zu gewöhnen, die Zeit nach den strengen
Abläufen eines Klosters einzuteilen,[16] um so die zur Lebenserhaltung
erforderliche Arbeit bewältigen zu können, so hob Montesquieu 1748 in seinem
Esprit des lois (IV. Buch, 6. Kap.) hervor, daß die
Indianer durch diese strenge Regierung glücklicher geworden, daß hier
Fortschritte für die Menschheit erzielt worden seien: |
|
»Zerstreute Völker
hat sie [die Gesellschaft Jesu - TL] aus den Wäldern hervorgezogen, sie
bekleidet, ihnen einen sicheren Aufenthalt verschafft, und hätte sie nichts
gethan, als daß sie die Arbeitsamkeit unter den Menschen vermehrte, so that
sie viel.« [17] In diesem Hauptwerk der bürgerlichen Rechtstheorie des 18.
Jahrhunderts werden die gesellschaftsgründerischen Leistungen der Jesuiten
den großen Gesetzgebern Plato und Lykurg an die Seite gestellt, denn sie
alle hätten mit der Abschaffung von Geld und der Einführung von
Gemeineigentum auch die individuellen Egoismen zugunsten des Gemeinwohls
beschnitten. Auch der große Naturforscher Buffon lehrte in seiner Histoire
naturelle (1749 ff.), daß die Jesuiten ein Beispiel für den friedlichen
Fortschritt der bürgerlichen Ordnung gegeben hätten.[18] |
|
|
[19] Voltaire, Candide oder Die Beste der Welten,
Stuttgart
1980, S.38 [20] Voltaire, Essai sur les moeurs et l'esprit des
nations, Bd. 2, Paris 1963, S.
387 ff.; vgl. Kohl, a. a. 0., S. 160ff. [21] Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autor du monde (1771), zit. nach der Ausgabe Paris 1966,
S. 106 (Übersetzung: T. Lange) [22] Bougainville, a.
a. 0., 5. 108 f. |
Die jüngere, mehr auf individuelle Freiheiten bedachte Richtung
der Aufklärung beurteilte das Jesuitenreich kritischer. Voltaire ließ seinen
Candide (1759) ein Paraguay erleben, das mit der Feder Pombals gezeichnet
war: »Los Padres besitzen alles; das Volk nichts; das ist das Meisterstück
der Vernunft und Gerechtigkeit«, erfährt Candide bei seinem Besuch.[19] In
seinem großen Geschichtswerk Essai sur
les moeurs et l'esprit des nations (zuerst
1756; 1761 erweitert mit Kapiteln über die unzivilisierten Völker) folgt Voltaire
zunächst dem gängigen Lob der Jesuiten: sie hätten die Indianer arbeitsam
gemacht. Doch haben sie diese, auch in seinen Augen positive
Zivilisierungsleistung dadurch entwertet, daß sie die Indianer wie Sklaven
hielten, sowohl die weltliche wie die geistliche Herrschaft über sie ausübten
und sie dadurch, so muß man im Rahmen seiner Argumentation ergänzen, an der
allen Menschen möglichen Vervollkommnung ihrer Fähigkeiten hinderten.[20] Ein im Sinne der
»philosophes« gebildeter Augenzeuge verstärkte diese Kritik. Gerade zur Zeit
der Verhaftung der Jesuitenmissionare (1767) befand sich der französische
Kapitän und Naturwissenschaftler Louis-Antoine de Bougainville, der im
Auftrag seiner Regierung mit einer wissenschaftlichen Expedition die Welt
umsegelte, im Hafen von Buenos zu Aires. Er hielt die Auseinandersetzung mit
den Jesuiten und ihrem Werk für so wichtig, daß er ihr ein ganzes Kapitel seiner
1771 erschienenen, viel gelesenen Reisebeschreibung widmete. Seine Darstellung
thematisiert den europäischen Einstellungswandel gegenüber den Jesuitenmissionen
und dessen Motive. Bougainville beschreibt zunächst die Mühen und Erfolge
der Jesuiten, die ein nur auf geistige Gewalt gegründetes Reich errichtet
hätten, in dem alle Bewohner gleich seien, jeder arbeite und der Überschuß
der Arbeit gemeinsam verwaltet werde. Doch als Beobachter an Ort und Stelle
konstatiert er eine »ungeheure Kluft zwischen Theorie und [tatsächlicher -TL]
Verwaltung«.[21] Nun fällt dem an Voltaire, Rousseau und der ökonomischen
Theorie der Physiokraten geschulten Reisenden auf, wie wenig dieses riesige
Gebiet mit einer Bevölkerung von 300.000 Seelen tatsächlich für Handel und
Gewerbe genützt würde. Die Indianer erhalten Kleidung und Nahrung, aber die
Jesuiten den Überschuß. Die letzteren führen ein bequemes Leben, die ersteren
schuften sich von morgens bis abends ab, ohne freie Entfaltung des Gewerbes
oder auch nur ihrer Persönlichkeit. Die Indianer hätten keinerlei Eigentum
und »waren einer grausamen und öden Uniformität in der Arbeit und im
Ausruhen unterworfen.« Die Jesuiten glaubten, daß
die Indianer nicht intelligenter als Kinder seien, aber: »das Leben, das sie
führten, hinderte diese großen Kinder, die Freuden der kleinen zu genießen.«[22] Bougainvilles Urteil läuft auf ein Verdikt hinaus:
die Jesuiten hindern den Fortschritt der menschlichen und ökonomischen Entwicklung.
|
|
[23] Guillaume Thomas Raynal, Histoire philosophique et politique
des établissemens et du commerce des européens dans les deux Indes, 10 Bde., Genf 1780 (Übersetzung: T.
Lange); Bd. 4, 8. Buch, S.304-323. [24] Dobrizhoffer, a. a. 0., Bd. 1, S.18 [25] Dobrizhoffer, a. a. 0., Bd. 2, S. 179 [26] Herder, Adrastea, a. a. 0., S. 23 - 25 |
Dieses Urteil wurde von dem einflußreichsten zeitgenössischen Werk
über die europäischen Kolonien, von der zehnbändigen Histoire des deux Indes (1770, erweitert 1780) des Abbe
Guillaume Thomas Raynal dann festgeschrieben. Zwischen Lob und Kritik der
Jesuiten dominierte dann schließlich individuelle Freiheit und
individuelles Eigentum als Maßstab von Fortschritt und Humanität:
»Vielleicht wurde niemals Menschen soviel Gutes mit so wenig Bösem getan.« Paraguay war die einzige Gesellschaft auf Erden, wo die
Menschen das zweithöchste Gut: die Gleichheit, nicht aber das höchste: die
Freiheit, genossen haben. Fehlendes Eigentum verhinderte eine Vermehrung von
Menschen und Gütern; denn die Guarani wurden wie Mönche gehalten: In der
allgemeinen Gleichheit und Eigentumslosigkeit können sich weder individuelle
Tugenden noch Leidenschaften entwickeln.[23] - Mit
dem Gegensatz von Gleichheit und Freiheit, von Kollektivismus und
Individualismus hat Raynal die Positionen der weiteren Auseinandersetzung
genannt. Sie werden im 20. Jahrhundert im Streit um den sozialistischen
Charakter der Reduktionen wieder aufgenommen. Im 18. Jahrhundert versuchten die jesuitischen Verteidiger ihr
Modell durch Rückgriff auf anerkannte bürgerliche Theoretiker zu retten.
Einer der zwangsweise nach Europa zurückgeschickten und dort über seine
Arbeit berichtenden Missionare war der Österreicher Martin Dobrizhoffer. In
seiner drei bändigen Geschichte der
Abiponier (1783/84) nimmt er
heftig für Muratori und gegen Bougainville Stellung [24] und orientiert sich
in seiner Beschreibung der Indianer an den zum Ende des Jahrhunderts
üblichen rousseauistischen Vorstellungen vom "edlen Wilden": die
Abiponier lebten wie die Germanen des Tacitus wild, frei und sittenrein in
den Wäldern, als positiver Kontrast zu Spaniern und Europäern überhaupt: »Ich
wenigstens weiß es gewiß, daß die Abiponier von der frechen Ausgelassenheit
der Sitten, welche fast bey allen verfeinerten Nationen in Europa im
Schwange geht, noch weit entfernt sind.«[25] Allein mit jesuitischer Strenge waren sie zum Christentum zu bekehren und für eine höhere
Gesittungsstufe vorzubereiten. Von diesen
Rechtfertigungsschriften blieben diejenigen wichtig, die als Vorläufer der
modernen Ethnologie angesehen werden können. Beruhten die Schilderungen
doch auf jahrzehntelangen Beobachtungen der Missionare, die die Sprache der
Indianer verstanden und an ihrem Leben teilnahmen. Noch 1802 meint J. G.
Herder in einer der wenigen deutschen Äußerungen der Zeit dazu, daß nur die
Feinde den Erfolg der Bemühungen des Ordens verhindert hätten: »Man glaubt
einen Traum zu lesen, wenn man die Einrichtung dieser Republik an Fest- und
Werktagen, bei Hochzeiten, bei Arbeit, Ernten und Lustbarkeiten nach den
verschiedenen Jahreszeiten lieset. [ ... ] die Mühe, die der Orden an diese
Völker gewandt, sie zur Ordnung und Arbeitsamkeit, zu Künsten, Handwerk und
Manufaktur zu gewöhnen, [ist] auch nicht verlohren.«[26]
Freilich meint Herder auch, daß der Sprung vom »Stand der Einfalt« zur
»Jesuitenschule« zu groß war. |
|
[27] Krauss/Täubl, a. a. 0., S. 120 [28] Bougainville a. a.
0., S. 114 (schwer übersetzbares Wortspiel:
"il joua une sonate et je crus entendre les sons obliges d'une
serinette") [29] Ebd. [30] Zit. bei Lacombe, a. a. 0., S. 119
(Übersetzung aus dem Französischen: T. Lange) [31] Hegel, ebd. [32] Humboldt, a. a. 0., Bd. 6, S. 55 f. |
Es ist sehr schwierig, den »Bildungserfolg« einzuschätzen, den
die Jesuiten bei den Indianern erzielten. Ergebnisse ihrer handwerklichen und
künstlerischen Fähigkeiten sind überliefert (Schnitzereien, Skulpturen etc.)
und sollen heute mit Hilfe der UNESCO restauriert werden;[27] die
Musikalität der Indianer wird immer wieder gerühmt, aber einem
gesellschaftlich gebildeten (wenn auch nicht gerade unparteiischen) Zuhörer
wie Bougainville schien das Geigenspiel eines Kaziken »wie eine gequetschte
Vogelorgel«[28] zu klingen. Die von den Jesuiten gerühmte Lernfähigkeit der
Indianer konnten nichtjesuitische Beobachter in der Regel nicht beurteilen,
denn, um wiederum den höflich-skeptischen Bougainville zu zitieren, da die
Indianer »nur Guarani sprachen, sah ich mich nicht in der Lage, den Grad
ihrer Kenntnisse würdigen zu können«.[29] Mehr als hundert Jahre später
wurden Briefe bekannt, die Indianer zur Zeit der Jesuitenvertreibung in
Guarani an die spanischen Behörden gerichtet hatten. Sie könnten als Zeugnis
ihres Selbstbewußtseins gelesen werden - obwohl natürlich der Anteil der
Patres bei ihrer Abfassung unbekannt ist. In allen Briefen bitten die
Indianer darum, die Jesuiten in den Reduktionen zu belassen. In einem vom 28.
Februar 1768 heißt es: »Außerdem müssen wir dir [dem Gouverneur Bucareli -
TL] sagen, daß wir auf gar keine Art Sklaven sind, ebensowenig wie unsere
Vorfahren. Wir mögen auch die Art nicht, in der die Spanier leben, ohne sich
zu helfen und ohne daß einer den andern unterstützt.«[30]
Dieses (wie immer
zustandegekommene) Bekenntnis zur kollektivistischen Lebensweise bezeichnet
den Zentralpunkt der ideologischen Debatte: ist es Gleichheit in
freiwilliger Solidarität oder erzwungene Knechtschaft, handelt es sich - mit
Ernst Bloch zu sprechen - um eine Utopie der Freiheit oder der Ordnung? Da
es sich bei dieser »amerikanischen Utopie« in jedem Fall aber um etwas
handelt, was durch eine Organisation von außen an die Indianer herangetragen
worden war, kann man die Frage auch so formulieren: können Menschen zum eigenen
Lebensglück erzogen werden? Hegel verneint dies in seiner Philosophie der Geschichte: zwar seien in der »Sanftmut und
Trieblosigkeit« der Indianer durch die Vorschriften der Jesuiten Bedürfnisse
erweckt worden, aber letztlich sei dies an der »Inferiorität dieser
Individuen« gescheitert, »und es wird wohl noch lange dauern, bis die
Europäer dazu kommen, einiges Selbstgefühl in sie zu bringen«.[31] Der Reisende
Alexander von Humboldt ist nicht so pessimistisch; er sieht das Mittel aber
nicht in mehr Zwang, sondern in mehr Freiheit und Eigentum: ),Gäbe man das
unvernünftige System auf, die Klosterzucht in den Wäldern und Savannen
Amerikas einführen zu wollen, ließe man die Indianer der Früchte ihrer Arbeit
froh werden, regierte man sie nicht so viel, das heißt, legte man nicht ihrer
natürlichen Freiheit bei jedem Schritt Fesseln an, so würden die Missionäre
rasch den Kreis ihrer Thätigkeit sich erweitern sehen, deren Ziel ja kein
anderes ist, als menschliche Gesittung.«[32] |
|
[33] Karl KautskylPaul Lafargue, Vorläufer des neueren Sozialismus, Bd. 3, 5tuttgart/Berlin 1922, S. 159 und 172. |
Verdiente die jesuitische Utopie den
Untergang? Die Kollektivwirtschaft der Reduktionen stellt auch im 20.
Jahrhundert noch eine, nun freilich eher theoretische Herausforderung dar:
ist sie zu den »Vorläufern des Sozialismus« zu zählen oder nicht? Paul Lafargue
und Karl Kautsky geben im 3. Barnd der von Kautsky herausgegebenen Buchreihe
dieses Titels (1922) Antworten, die in ihrer Gespaltenheit symptomatisch
sind dafür, wie die aktuelle politische Perspektive die Sicht auf die
Geschichte färbt. Lafargue unternahm es, die Jesuiten mit dem
christlich-katholischen Sozialismus seiner Tage zu identifizieren. Daher
steht das negative Urteil fest: er folgt weitgehend der von Pombal und der
späteren Aufklärung vorgezeichneten Argumentation. Immer wieder setzt er
Jesuiten mit Ausbeutern und Kapitalisten gleich: mit Zwang und Strafe wurden
die Indianer (wie die Proletarier) zur Ausbeutung getrieben. Die Religion
diente als zusätzliche geistige Fessel. »Die ganze Zeit,
die nicht der Arbeit und der nötigen Erholung gewidmet war. mußten sie in
Gebeten verbringen, damit ihnen nicht eine Minute frei blieb, in der sie über
ihre Lage hätten nachdenken können. [ ... ] Die christliche Republik [der
Jesuiten-TL] war keineswegs eine kommunistische Gesellschaft. in welcher alle
Glieder an der Erzeugung landwirtschaftlicher und industrieller Produkte
teilnahmen und gleicherweise Anspruch hatten auf die
erzeugten Güter. Sie war vielmehr ein kapitalistischer Staat, in dem
Männer, Frauen und Kinder, zur Zwangsarbeit und zur Peitsche verurteilt und
aller Rechte beraubt. in dem gleichen Elend und der gleichen Verkommenheit
dahinvegetierten, wie kräftig auch Ackerbau und Industrie emporblühten, wie
groß auch der Überfluß der Güter war, die sie erzeugten.«[33] |
|
34] So Baudin, a. a. 0.,
S. 3, 60; Maria Faßbinder: Der
"Jesuitenstaat" in Paraguay, Halle 1926, S. 127;
Dieter Nohlen (Hg.), Lexkon Dritte
Welt, Baden-Baden 1980, S. 283; Meyers Neues Lexikon, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig
1974, Artikel "Paraguay«, 1. 459 [35] Meyers Neues Lexikon, Leipzig, ebd.;
vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mannheim 1976, Artikel »Paraguay«, S.
198; Encyklopaedia Britannica, London 1974, Artikel »Gaspar de Francia«;
vgl. zur Kontinuität auch E. Galeano Die
offenen Adern Lateinamerikas, Wuppertal
1981, S. 218 ff. [36]
Münzel, a. a. 0., S.46 [37] »Un extranjero en su tierra«. So das Titelbild des
in Darmstadt herausgegebenen "Paraguay-Rundbriefs« vom Dezember 1981, Nr.
33, Jg.6, mit dem die Paraguay-Arbeitsgemeinschaft über die Lage der Menschen
und ihre Rechte in diesem Land informiert. |
Kautsky distanziert sich im Vorwort von diesen Ansichten: er sah
vor allem die »ökonomische Meisterleistung« der Jesuiten, deren straff
geführten Orden er bewundernd mit der bolschewistischen Partei verglich.
Beide hätten versucht, eine rückständige Bevölkerung unter diktatorischer
Leitung zu kommunistischer Produktion zu organisieren. - Es läßt sich
zusammenfassen, daß die nicht-sozialistischen Historiker eher den sozialistischen
Charakter der Reduktionen betonen, unter kräftiger Herausarbeitung von
Uniformität und Abhängigkeit der beherrschten Indianer-Mehrheit, aber mit
Betonung des "vorbildlichen Sozialwesens". Die sozialistische
Geschichtsschreibung folgte Lafargue und spricht von einer
"theokratisch verbrämte(n) Halbsklaverei".[34] Die Beurteilung wird heute erschwert durch die Tatsache, daß der
auf dem Gebiet der ehemaligen Reduktionen 1811 entstandene Staat Paraguay
seine nationalen Traditionen in besonderer Weise pflegt. Dazu gehört nicht
nur das Weiterleben des auch von den Jesuiten verbreiteten Guarani als
Verkehrssprache bei 90 % der
Bevölkerung, sondern auch die bewußte Erinnerung an die patriarchale
Herrschaft der Missionare, die einer nationalen Geschichte vorausging, die
ihrerseits ganz wesentlich von zwei weiteren (und heute zwischen den
weltpolitischen Lagern unterschiedlich interpretierten) Diktaturen geprägt
wurde: der des Dr. Jose Gaspar de Francia (1814-40) und der des Generals
Alfredo Stroessner (seit 1954). Dr. Francia unterdrückte blutig liberales
Bürgertum und Kirche und führte, anknüpfend an die Kollektivwirtschaft der zu
»pueblos« (Dörfern) gewordenen Reduktionen, eine Art Staatssozialismus ein.
Heutige sozialistische Lexika werten dies als »fortschrittlich«, während im
Westen eher die gewaltsamen Methoden des Diktators herausgehoben werden.[35] Die Geschichte der
indianischen Utopie - ob christlich oder sozialistisch inspiriert - endet jedenfalls
im 19. Jahrhundert. In den sechziger Jahren wurden mit dem Aufbrechen der
isolationistischen Autarkiebestrebungen auch die Überbleibsel indianischer
Kollektivwirtschaft beseitigt, ohne daß das Andenken daran freilich verloren
wäre.[36] Als Einwanderungsland blieb Paraguay der Ort für Rest-Utopien,
freilich allein für Nicht-Indianer. Deutsche haben daran ihren Anteil, wie
der rassistische NietzscheSchwager Förster im 19. Jahrhundert oder wie die
einigen Tausend Mennoniten, die seit dem 2. Weltkrieg in Paraguay siedeln.
Für die Indianer gilt, daß sie - wie anderen Orts in Amerika - »Fremde im
eigenen Land« geworden sind.[37] |
|
[38] Hochwälder, a. a. 0., S. 49 (III,2);
Alfred Döblin, Amazonas, Roman (]93718), Freiburg/Br. 1963, S. 576
f. [39] Roa
Bastos, a. a. 0., S.37 u. 40. |
Die Utopie überlebt in der Literatur. In Alfred Döblins
Exilroman Amazonas (1937'38) wird die indianische Staatengründung und ihr Untergang
zur Parabel für den Anlauf zu einer jüdischen Staatsgründung in den
Verfolgungszeiten der dreißiger Jahre. Indianisches »Kanaan« und »Arche Noah«
sah Döblin in der Konfrontation mit Machtpolitik scheitern. Die Folgerung
für ein zionistisches Palästina liegt nahe. Die Idee vom christlichen
Zusammenleben läßt sich zwar irdisch-tüchtig organisieren, aber weder dringt
das Glaubensdogma christlicher Sündhaftigkeit ins Bewußtsein der Indianer,
noch kann eine christliche Republik sich gegen die irdischen Staaten behaupten.
- Eine andere Parabel auf den notwendigen Untergang des Ideals in der
Realität schrieb der österreich ische Dramatiker Fritz Hochwälder in seinem
heiligen Experiment (1943). Die Verwirklichung von Frieden und Gerechtigkeit
kann nicht geduldet werden in einer Welt, die durch gegenläufige Mächte
regiert wird. Ob nun bei Hochwälder der jesuitische Realpolitiker verkündet:
»Diese Welt aber ist ungeeignet zur Verwirklichung von Gottes Reich« oder
bei Döblin ein Indianer in der Reduktion »diese(r) unerbittliche(n) Ordnung,
der Natur aufgeprägt« - seufzt: »Wir wären noch fröhlicher, wenn wir ganz
frei wären«.[38] Worin auch immer die Ursache für den Untergang gesehen wird:
daß Utopien untergehen mußten, bleibt die unumstößliche literarische Moral. Der paraguayische, im Exil lebende Autor Augusto Roa Bastos
rückt vom bloß moralischen Urteil ab. In seinem Roman Ich, der Allmächtige
(1974) läßt er den Diktator Francia auch über die Jesuiten als seine
Vorgänger in der Herrschaft, nachdenken. Der grausame »Ewige Diktator«, der
die Ausbeutung der Eingeborenen durch die Abschaffung des Privatbesitzes
beendete, sieht in der Niederlassung der Jesuiten »eine riesige
Soutanenkaserne«, ein verspätetes Mittelalter.[39] Aber es ist der größenwahnsinnige,
einsame und menschenfeindliche Francia, der dies schreibt, im Bewußtsein, daß
auch sein Staat zu den gescheiterten Utopien Amerikas gehört. |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|