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Historia interculturalis
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Takashi Naraha
Clermont-Ferrand
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Thema:
Die Alte und die Neue Welt
Weltliteratur(en) /
Lateinamerika
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Last
update:
30.1.2009
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Auf der Startseite:
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>>Weltliteratur01
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1.
Soutanenkaserne oder heiliges Experiment?
Die
Jesuiten-Reduktionen in Paraguay im europäischen Urteil
von
Thomas Lange
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Auf dieser Seite:
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2. Exotismus und
Kulturwandel –
Lateinamerikanische
Literatur im Deutschunterricht
von
Thomas Lange
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3.
Übungen in exotischer Phantasie –
Texte
von Gabriel García Márquez als Material für die Annäherung an eine
außereuropäische Literatur
von Thomas Lange
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Siehe dazu auch die Forschungsbilanz zum Thema „Interkulturelle Begegnung / Interkulturelle
Hermeneutik“
>>Forschung
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Die nachfolgenden
Aufsätze aus dem Jahre 1992 sind ein inzwischen selbst schon historisches Dokument
der Rezeption lateinamerikanischer Literatur im Rahmen des kulturellen
Paradigmenwechsels seit den 80er Jahren (nicht nur) in Deutschland.(*) Diese kulturelle „Entdeckung“
Lateinamerikas schlug sich auch in der didaktischen Diskussion über den Literaturunterricht
im Rahmen eines entsprechend universell verstandenen bzw. zu verstehenden
Faches „Deutsch“ in der Schule nieder. Angesichts dessen, dass
es heute einen massiven Rückzug zu deutschen und klassischen Themen in den
Lehrplänen gibt, erscheint das Plädoyer von damals wieder als notwendiger
Kontrapunkt zur aktuellen Tendenz. Globalisierung sollte auch im
Literaturunterricht stattfinden!
W.
Geiger
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Beide Texte wurden zuerst veröffentlicht in
Heft 123 (1992) der Zeitschrift „Diskussion Deutsch“. Thema war im Jahr der
500-Jahrfeiern der Entdeckung Amerikas „Lateinamerikanische Literatur im
Deutschunterricht“. „Exotismus und Kulturwandel“
war der Einleitungstext.
Das Heft enthielt folgende weitere
Beiträge:
Manfred Braunroth:
Angesichts der Gewalt – erzählende Prosa von Graciliano
Ramos und Juan Rulfo im Deutschunterricht.
Thomas Lange: Übungen in exotischer
Phantasie – Texte von Gabriel García Márquez als Material für Annäherung an
eine außereuropäische Literatur.
Karin Hopfe: Selbst-Bilder – Zu einem
Aspekt der Rezeption von Walt Whitmans „Leaves of
Grass“ in der Dichtung Ruben Daríos und Pablo Nerudas.
Jörn Stückrath:
Jakob Wassermann – ein Plagiator? Die Erzählung „Das Gold von Caxamalca“ und ihre Quelle: William H. Prescotts „History of the Conquest of Peru“.
Fünf Annäherungen an Haiti – ein Gespräch
mit dem Schriftsteller Hans Christoph Buch, geführt von Joachim Möller und
Jörn Stückrath.
Die Zeitschrift „Diskussion Deutsch“ ging
1995 in der Zeitschrift „Der Deutschunterricht“ auf. Nachdem die dort
gemachten Vorschläge zur Einbeziehung lateinamerikanischer Literatur in die
Lektürelisten des Deutschunterrichts nun über ein Jahrzehnt Erprobung und
Veränderung hinter sich haben, sollen sie und ihre Begründungen hier in zwei
Texten von Thomas Lange – leicht verändert – noch einmal vorgestellt werden:
Zur „Diskussion“, wie es Leitmotiv dieser Zeitschrift war, der damals
formulierten Thesen, d. h. auch zu ihrer
Überprüfung und vielleicht ergänzenden Erweiterung. Thomas Lange
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Sprung
zum Text über
>>García Márquez
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©
1992-2005
Thomas
Lange
Kontakt
T. Lange
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Exotismus und Kulturwandel –
Lateinamerikanische
Literatur im Deutschunterricht
von
Thomas Lange
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[6] So Rigoberta Menchu, Vertreterin
der Indianer Guatemalas, auf einer Kundgebung am 13.10. 1991 in Quetzaltenango; zit.in:
Frankfurter Rundschau vom 14.10.1991, S.1
[7] Wolfgang Leiner:
Das Deutschlandbild in der französischen
Literatur. Darmstadt 1989.- Vgl. auch: Hans Kügler
/ Hartmut Melenk (Hrsg.): Deutschlandbilder – Themenheft von "Praxis Deutsch",
Mai 1988. - Hans Kügler: Deutschlandbilder - Die Frage nach der nationalen Identität im
Spiegel der deutschen Nachkriegsliteratur. In: Diskussion Deutsch, H.
114, 1990, S. 392-411. - Hugo Dyserink / K. U. Syndram (Hrsg.): Europa
und das nationale Selbstverständnis. Imagologische Probleme in Literatur,
Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Bonn 1988 - Anstöße kommen
auch aus der Exilforschung: Christoph Eykman: Zwischen Zerrbild, Schreckbild und
Idealbild. Die Auseinandersetzung mit dem Asylland im Exilschrifttum.
In: Helmut F. Pfanner (Hrsg.): Kulturelle Wechselbeziehungen
im Exil. Bonn 1986, S. 35-48
[8] Vgl. etwa: Thomas Koebner /
Gerhardt Pickerodt (Hrsg.): Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Frankfurt/M 1987. –
Neuerdings auch auf außereuropäische Literaturen übertragen: Wechselseitige
Bilder. Das Eigene im Fremden. Chinesen über Deutsche, Deutsche über
Chinesen. (Zeitschrift für Kulturaustausch, 3/1986) - Zum Begriff:
Thomas Lange: Exotik, Exotismus. In: Enzyklopädie des Märchens.
Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 4,
Berlin 1983, Sp. 674 - 684. - Grundsätzlich auch: Wolfgang Geiger: Kulturdialog und Žsthetik
- Roger Garaudy, Victor Segalen,
Mircea Eliade.
Frankfurt/M 1986 (Diss.)
[9] Vgl. Dietrich Harth: Über die Bestimmung kultureller
Vorurteile, Stereotypen und images in fiktionalen
Texten. In: Wolfgang Kubin (Hrsg.): "Mein Bild in deinem Auge. Exotismus und Morderne: Deutschland
– China im 20. Jahrhundert. Darmstadt: wissenschaftliche Buchgesellschaft
1995, S. 17 – 42.
[10] Alois Wierlacher
(Hrsg.): Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik.
München 1985.
[11] Edith Ihekweazu: Erschwerte Verständigung. Deutscher Literaturunterricht
in der Dritten Welt. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, Bd. 10, 1984.
München 1985, S. 86-106. - U. Merkel: Erfahrungen
und Beobachtungen zur Rezeption deutscher Gegenwartsliteratur in Ländern der
Dritten Welt. In: Karl Stocker (Hrsg.):
Literatur der Moderne im Deutschunterricht. Königstein 1982, S. 81-98
[12] Rainer Epp: Interkulturelle Germanistik und Doppelkompetenz: einige kritische
Anmerkungen. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, März
1990, S. 24 - 31
[13] Vgl. "Bildung in zwei Sprachen", Diskussion Deutsch H. 106,
1989; die Problematik z.B. einer türkisch-deutschen "Mischform" von
Kultur beschreibt Helmut Scheuer in seinem Porträt des Adelbert-von-Chamisso-Preisträgers
Yüksel Pazarka, in: Der
Deutschunterricht 4/1989, S. 96-104
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Kulturwandel und
Literaturunterricht
Dieses Heft
möchte dem Deutschunterricht nicht noch einen weiteren Stoff - die
lateinamerikanische Literatur -
hinzufügen, um damit eine beliebig erweiterbare "Konkurrenz der
Texte" zu eröffnen. Vielmehr wird lateinamerikanische Literatur für den
Deutschunterricht vorgeschlagen und in Beispielen vorgestellt, weil sie
besonders geeignet erscheint, im Zeitalter eines überall spürbaren
Kulturwandels den Deutschunterricht
zum Ort bewußter Auseinandersetzung mit
"Kultur" zu machen. In den 20er Jahren schon wurde in einer Epoche
ähnlich tiefgreifender kultureller Krisen über Deutschunterricht als
"Kulturkunde" diskutiert. Damals lief die Absicht von Germanisten
und Lehrplanautoren aber in der Hauptsache hinaus auf eine Festigung des Bewußtseins nationaler "deutscher Kultur", auf
eine Abschließung des "deutschen Wesens" nach außen. [1] Die "Erziehung zum bewußten
Deutschtum" gipfelte in der Formulierung des preußischen
Ministerialrats im Kultusministerium, Hans Richert,
aus dem Jahr 1924: "Im deutschen Unterricht sollen die Schüler lernen,
deutsch zu reden und zu schreiben, deutsch zu fühlen, zu denken und zu
wollen." [2]
Die hier vorgelegten Überlegungen zielen gerade aufs
Gegenteil, auf eine Förderung flexiblen Umgangs mit Kulturen, eine Öffnung
des kulturellen Bewußtseins. Zu diesem Zweck wird
"Kultur" hier nicht als "'german culture with capital K'", das heißt, als etwas aus dem profanen
Alltag des Normalverhaltens Herausragendes" [3] verstanden, womit der
sehr deutsche Gegensatz von metaphysischer "Kultur" und
gewöhnlicher materieller "Zivilisation" konstruiert wird.
Vielmehr ist es die alltäglich gelebte Kultur, zu der in unserer Gegenwart
auch das Zusammentreffen von verschiedenen Kulturen gehört, auf deren bewußtes Erfahren und Gestalten der Deutschunterricht
vorbereiten sollte. Nicht durch Bildungsinhalte für Bildungsschichten soll
"Kultur" definiert werden, sondern kulturanthropologisch:
"Kultur ist die Fähigkeit des Menschen, ihr
gesellschaftliches Dasein in materialer, sozialer und ideationaler
Hinsicht sinnvoll, und das heißt lebenserhaltend, zu gestalten. [...] Kultur
ist die Teilhabe an der Gestaltung von sozialem Leben in Bedeutungsfülle.
Menschliche Natur, menschliches Wesen trägt kulturelle Kompetenz in
sich." [4]
Es ist augenfällig, daß unsere
Kultur sich wandelt. Noch nie war soviel "Welt" verfügbar und
gegenwärtig. Während die technischen Medien (Radio, Fernsehen, Kassetten,
Computer) unsern Horizont durch zahllose Informationen ungeheuer erweitern,
engen sie unsere Erfahrungsmöglichkeiten auf die künstlichen Sinne ein.
Während der Tourismus die entferntesten Weltecken
bequem zugänglich macht, löst die zu uns hereinströmende Welt zunehmend
Unbehagen aus. Gerade hat man sich an eine neue Ethnie
in unserer multikulturellen Bevölkerung gewöhnt, da kündigt sich die nächste
Zuwanderungswelle an: auf Italiener und Spanier folgen Türken, Kurden,
Perser, Vietnamesen, Afrikaner, Sinti, Roma ... Mit dem Zuzug von Tausenden
von Menschen aus der Dritten Welt, aber auch von "deutschstämmigen"
Aussiedlern aus Osteuropa werden wir mit Kulturformen konfrontiert, deren
Werte und Verhaltensnormen uns an die Vergangenheit, gewissermaßen an
"ältere" Kulturstufen erinnern.
Der hier sich vollziehende "Kulturwandel" kann in der
ethnographischen Terminologie beschrieben werden, die z.B. Urs Bitterli für die "europäisch-überseeische
Begegnung" zwischen "Wilden" und "Zivilisierten"
entwickelt hat. [5] Er unterscheidet
vorübergehende "Kulturberührungen" und ständige "Kulturkontakte",
aus denen im Idealfall eine friedliche "Akkulturation"
und schließlich eine "Mischkultur" entsteht.
Allerdings wird nun gerade in diesen Tagen der Vor-Jubiläen zur 550.
Wiederkehr des Jahres der Entdeckung Amerikas von den Vertretern der
"Entdeckten" das offizielle Motto einer "Begegnung zweier
Welten" lautstark bezweifelt: "Es gab keine Begegnung zweier
Welten. Es gab nur die Unterdrückung einer Kultur durch die andere."
[6] Auch die "Kulturbegegnung" in der Bundesrepublik Deutschland
vollzieht sich gegenwärtig zunehmend konfliktreich, als
"Kulturzusammenstoß". Allerdings sind im Europa des 20. Jahrhunderts
die Rollen merkwürdig umgekehrt im Vergleich zu den Jahrhunderten davor:
die "eindringenden" Zuwanderer handeln eher friedlich-passiv,
während die ansässigen "Eingeborenen" aggressiv reagieren.
Konflikte werden als kulturelle Konfrontationen erlebt, etwa mit "Fundamentalisten"
, die ihre Opposition zu unserem politischen und gesellschaftlichen System
kulturell oder religiös oder gar in
einer Verknüpfung von beidem auf eine
Weise begründen, die unser säkularisiertes, pragmatisches Denken irritiert.
Trotz allem gilt: Die Gesellschaft der Bundesrepublik
Deutschland ist multikulturell
geworden: eine starke Minderheit von fast 10% der Wohnbevölkerung rechnet sich
anderen Religionen und Kulturen zu als die Mehrheit der Deutschen.
Multikulturell ist auch das Angebot der Verlage geworden: kaum eine
Literatur, aus der es keine Übersetzungen ins Deutsche gibt. Die
Literaturwissenschaft stellt sich auf unterschiedliche Weise auf diese neuen
Anforderungen ein. Mit einer ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Tradition
widmen sich Komparatistik und Vergleichende Literaturwissenschaft den
Beziehungen zwischen Literaturen verschiedener Länder. Ihre klassischen
Themen sind die "Imagologie", also die
nationalen Stereotypenbildungen, z.B. das "Deutschlandbild in der
französischen Literatur" [7] wie
auch die Beschäftigung mit der Faszination durch das Fremde, der Motivkomplex
des "Exotismus". [8] Dabei bleibt aber meist sowohl die
Untersuchung des exotisch Fremden und vermeintlich "ganz Anderen"
wie auch die imagologische Begrifflichkeit von "Bild" (z.B. des
"Deutschen in französischer Literatur" o.ä.)
oft auf die Herausarbeitung von wechselseitigen Vorurteilen und Stereotypen
beschränkt. Noch wird zu wenig im literarischen "Bild" die
Mehrdeutigkeit der fiktionalen Sehweise, die eigengesetzliche Struktur
literarischer Texte gesehen. [9]
Auf andere Weise, nämlich aus praktischen Problemen und
Bedürfnissen des Literaturunterrichts für Ausländer entstand eine
"interkulturelle Germanistik",[10]
deren Ausgangspunkt oft die Erfahrung war, im Kontakt mit
fremdkulturellen Lernern auf den eigenen Ethnozentrismus
gestoßen zu werden. Vorurteilslosigkeit enthüllte sich als Autostereotyp, das
der fremdkulturellen Realität nicht standhielt. Die solcherart
"Erschwerte Verständigung", der Kontrast vom "Eigenen und
Fremden" [11] wurde unter den
praktischen Anforderungen der Kulturvermittlung in Sprache und Literatur zum
Konzept einer "kontrastiven Kulturwissenschaft" weiterentwickelt:
sie verlangt von den Lehrenden eine "Doppelkompetenz" in zwei
Kulturen, [12] die - wenn überhaupt -
wohl nur nach einer zweisprachigen Sozialisation erreichbar wäre. [13]
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[1] Vgl. Horst Joachim
Frank: Geschichte des
Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München 1973, S.
650 ff. - Auf unterschiedliche, aber gleich wichtige Art und Weise haben
Annette Lange und Klaus Fischer mir beim Zustandekommen dieses Textes
geholfen. Ihnen sei hier gedankt.
[2] Frank, Geschichte,
S. 672
[3] Ina-Maria Greverus: Kultur und Alltagswelt. München 1978,
S. 56.
[4] Ina-Maria Greverus: Neues Zeitalter oder Verkehrte Welt.
Anthropologie als Kritik. Darmstadt 1990, S. 69
[5] Die Terminologie folgt
der Beschreibung des "Kulturzusammenstoßes" bei Urs Bitterli: Die 'Wilden' und
die 'Zivilisierten'. Die europäisch-überseeische Begegnung. München 1976, S.
130 (u.ö.)
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[18] Vgl. Leo Kreutzer: Interkulturalität oder Ungleichzeitigkeit?
Anmerkungen zum Projekt einer "interkulturellen Germanistik".
In: ders.: Literatur und Entwicklung. Studien zu
einer Literatur der Ungleichzeitigkeit. Frankfurt/M: Fischer Taschenbuch
6899, 1989, S. 95-103. - Eine Kritik aus der Perspektive der Zweitspracherwerbsforschung
durch Rolf Henrici: Interkulturelle Germanistik … la Bayreuth. In: Mitteilungen
des Deutschen Germanistenverbandes, März 1990, S. 38-44
[19] Kreutzer, Literatur, S.100
[20] Dietrich Krusche: Die Kategorie der Fremde. Eine
Problemskizze. In: ders.: Literatur und Fremde.
Zur Hermeneutik kulturräumlicher Distanz. München 1985, S. 129-139; hier: S. 130 f.
[21] Vgl. Leo Kreutzers Überlegungen zu einer
"fremdkulturellen" Lektüre von Goethes "Wilhelm Meister"
oder Hölderlins "Hyperion": "Die Wanderjahre Wilhelm Meisters
in den Lehrjahren einer unterentwickelten Gesellschaft"; und:
"Hyperion oder: Rückkehr und Vollendung. Mit einer Abschweifung in die
Wahlheimatliteratur. In: Kreutzer, Literatur (Anm.18) S. 27-49; 50-63.
[22] Zu Raabe vgl. die Anregungen in Diskussion Deutsch H. 57,
1981. - Die von Wolfgang Geisler zusammengestellte Erzählungssammlung "Jugend in Deutschland - Ost und
West" (Frankfurt/M:Diesterweg 1991) bietet
reiches Anschauungsmaterial für eine mentalitätsorientierte Lektüre.
[23] Krusche, Kategorie der Fremde, a.a.O.;
[24] Dietrich Krusche: Lese-Unterschiede. Zum interkulturellen
Leser-Gespräch. In: ders., Literatur und
Fremde, S. 139-160; hier: S. 139. -
[25] Hartmut Eggert: Plädoyer
für ein wenig "Literatur fremder Kulturen" im Deutschunterricht..
In: Der Deutschunterricht, 4/1985, S. 71-79; hier: S. 74. - In Heft 17 (1990)
der geschichtsdidaktischen Zs. "Geschichte lernen" wird das Thema
Lateinamerika als eine "Geschichte von Kulturkonflikten" für den Geschichtsunterricht
eingeführt; vgl. den Basisartikel von Harm Mögenburg,
S. 15-25
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Weltliteratur und
fremde Literatur
Auf diesen Grundlagen - der Vervielfältigung der
Kulturkontakte, des Entstehens auf "Kulturvergleich" spezialisierter
Wissenschaften - könnten nun in unserer multikulturellen Zeit die Voraussetzungen
erfüllt sein, um Goethes 165 Jahre altes Programm einer
"Weltliteratur" endlich zu realisieren. Am 31. Januar 1827 sagte er
zu Eckermann:
"Wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise
unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen
pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gern bei fremden Nationen um und
rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Nationalliteratur will jetzt nicht
viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu
beschleunigen." [14]
Die "Welt" des weimarischen
Staatsministers und Geheimrats wies allerdings stark eurozentrische Züge
auf. Zwar betont er, daß "Poesie ein Gemeingut
der Menschheit ist"; doch an dem literarischen Beispiel, das ihn zu den
Überlegungen hinsichtlich der "Weltliteratur" geführt hat (einem
chinesischen Roman der Ming-Zeit: "Geschichte einer glücklichen
Gattenwahl") hebt er hervor: "Die Menschen denken, handeln und
empfinden fast ebenso wie wir", bei ihnen ist "alles verständig,
bürgerlich, ohne große Leidenschaft". [15] "Weltliteratur" ist für Goethe
einmal ein Qualitätsbegriff ohne nationale oder historische Grenzen.(Wie er etwas mürrisch formuliert: "niemand ... habe
sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht.")
Inhaltlich aber ist die moralische und
soziale Affinität zur eigenen Welt sehr stark. Es wundert nicht, daß der Begriff "Weltliteratur" auch in seiner
Ausfüllung durch Literaturgeschichten stark eurozentrisch akzentuiert worden
ist. [16] Zwar gehört auch die
deutsche Literatur als Teil der
europäischen zur "Literatur eines Kontinents von Kolonialherrren",
doch haben beide kaum angefangen, sich die "außereuropäische Fremderfahrung ... als identitätsbildendes
Moment" bewußtzumachen. [17]
Der goethesche Ethnozentrismus
wird selbst noch in die interkulturelle Germanistik getragen. Ihr
"interkulturelles Interpretieren"
von deutscher Literatur durch Ausländer, lautet die Kritik, sei nichts
weiter als eine Rettung des herkömmlichen germanistischen
"Betriebs": die alten Stoffe werden einfach in "kulturell
differenten Kontexten", also von Rezipienten aus anderen Kulturen
gelesen und mit neuen Bedeutungsvarianten weiterhin herkömmlich
interpretiert.[18] Gerade das Fremde,
worauf es bei "inter-kulturellem" Vorgehen doch ankommen sollte,
würde an den Rand gedrängt zugunsten "internalisierter
Fachrituale". [19] Eine Lektüre
unter dem Gesichtspunkt des "Kulturwandels" müßte
aber die Ungleichzeitigkeit der Gesellschaften zum methodischen Leitbegriff erheben. Das wäre
ein mentalitätsorientierter Literaturunterricht, bei dem die Kategorien der
Fremdheit und Ungleichzeitigkeit sowohl für die Literatur fremder Kulturen
wie für die Literatur europäischer Vergangenheit gelten würden. [20] So kann man spannende Entdeckungen über den
Bewußtseinswandel im Deutschland des 19. Jahrhunderts machen, wenn man
Goethes "Wilhelm Meister" als "Roman von der Entwicklung einer
Gesellschaft" liest, geschrieben in einem damaligen
"Schwellenland" zum Zeitpunkt eines "Modernisierungsschubs".
[21] Autoren wie Wilhelm Raabe gewinnen in dieser Perspektive als Kritiker
der "Modernisierung" neue Gegenwärtigkeit. Aber auch ganz aktuell
kann dieser mentalitätsorientierte
Ansatz fruchtbar gemacht werden: etwa im Kontrastieren von Texten aus dem
40jährigen Kulturkontrast von Deutschland-Ost und Deutschland-West. [22]
Im Unterricht kommt es darauf an, kulturelle
Unterschiede nicht in voreiliger Berufung auf "allgemein
Menschliches" zu verwischen.
"Fremdheit" muß als das Gemeinsame
von zeitlicher und räumlicher Ferne herausgearbeitet werden. "Lektüre von über kulturelle Grenzen
hergeholter Fremdliteratur bietet die Möglichkeit einer exemplarischen Leseerfahrung", in der nämlich kulturelle und
gesellschaftliche "Textfremde", aber auch die Bildungsgeschichte
des Lesers bewußt reflektiert werden müssen. [23]
Am fremdkulturellen Text wird Irritierendes eher akzeptiert als bei einem
"'befremdlichen' Text eigener Kultur-Tradition".
"Gerade dadurch, daß die
Möglichkeit des Mißverstehens hochgradig bewußt ist, sind - ganz unabhängig davon, wie erfolgreich
der individuelle Lese-Vorgang verläuft - besonders günstige Bedingungen
dafür gegeben, daß das Lesen eines
fiktional-literarischen Textes zu einem Akt exemplarischer Erfahrungsbildung
wird. [...] Der 'fremde' Text hat – möglicherweise -, gerade dadurch, daß wir uns seiner kulturhistorischen Fremde bewußt sind, eine größere Chance, uns zu 'bewegen'."
[24]
Gerade Literatur der Dritten Welt reflektiert aber den
Kulturwandel, den Konflikt zwischen eigenen, tradierten Werten und der
"Modernisierung" besonders scharf. "Sie zu lesen, kann deshalb
auch bedeuten, im 'fremden Blick' die eigene Gegenwart und Kultur zu überdenken."[25]
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[14] Goethe zit.
n.: Willy Richard Berger: China-Bild
und China-Mode im Europa der Aufklärung. Köln / Wien 1990, S. 286
[15] Berger,
China-Bild, S. 285
[16] Vgl. Wolfgang
Bader: Europäische Weltliteratur und Kolonialismus
- Die außereuropäische Welt im Spiegel der europäischen Literaturgeschichtsschreibung.
In: Literatur für Leser, 1982, S: 250-266
[17] Bader, Europäische
Weltliteratur, S. 264, 256
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[31] Alexander von
Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen
Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart und Tübingen 1845, S. 4, 8.
[32] Humboldt, Kosmos, S. 9
[33] Dazu: Ralph-Rainer Wuthenow: Alexander von Humboldt: Weltreisender,
Autor und Republikaner. In: neue sammlung,
2/1970, S. 218-224. - Die Kritik von Peter J. Brenner ("Gefühl und Sachlichkeit. Humboldts Reisewerk zwischen
Naturwissenschaft und Naturphilosophie." In: Archiv für Kulturgeschichte,
Bd. 73, 1/1991, S. 134-168; hier: S. 159 ff.) sieht "Dilemma" und
"Ambivalenz" da, wo Humboldt eine Einheit von empirischer Naturwissenschaft
und philosophischer Ganzheitsauffassung wohl weniger "konstruiert"(Brenner,
S. 164) als bewußt gestaltet. Daß
diese Rettung einer "Ganzheit" ein "gewagtes Unternehmen"
ist, hat er selbst gewußt (Humboldt, Kosmos, S. 9);
daß er damit gegenwärtige Tendenzen von
ganzheitlichem Denken vorwegnimmt, gibt ihm neue Aktualität.-
Auch Schiller hält an der Dichotomie von Natur und Idee fest; sein merkwürdiger
Vorwurf gegen Humboldt, er sei "schamlos", weil er die Natur
"ausgemessen haben will" (Brief an Körner, s.o.
Anm. 30), zeugt von einem noch sehr aufklärerischen
Denken in Beziehung auf die äußere
Natur: Schiller kann sie nur als herrschende "Macht" oder
als beherrschtes "Objekt" sehen (25. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen; Ausg.
Stuttgart 1970, S. 107). Einen "ästhetischen Zustand", in dem sich
der Mensch der Macht der Natur "entledigt" (24. Brief, a.a.O.,S.
99) kann sich Humboldt dagegen kaum vorstellen; er zielt eher darauf ab,
"den Genuß der Natur durch tiefere Einsicht in
ihr inneres Wesen zu vermehren." Er setzt
"Erfahrungs-Wissenschaft" gegen "Halbcultur"
(Humboldt, Kosmos, S. 18,24,32).
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Das exotische
Lateinamerika
Allerdings scheint die lateinamerikanische Fremde
insofern nicht "fremd", weil wir schon lange ein Bild von ihr
haben: als Inbegriff des Tropischen, der exotischen Natur. Dieses Bild geht
zurück auf die Epoche der deutschen Klassik, genauer: auf Alexander von Humboldts
"Ansichten der Natur", die zuerst 1808erschienen, im ganzen 19.
Jahrhundert ein buchhändlerischer Erfolg waren und auch in billigen Ausgaben
(z.B. bei Reclam, durch Wilhelm Bölsche) Humboldts
Interpretation von Lateinamerika popularisierten. Seine Beschreibungen
einiger südamerikanischer Landschaften ("Über Steppen und Wüsten";
"Die Wasserfälle des Orinoco"; "Das
nächtliche Tierleben im Urwald"; "Das Hochland von Caxamarca") waren philosophische Quintessenz seiner
5jährigen Entdeckungs- und Forschungsreise und wurden stilbildend:
"Nirgend durchdringt [die
Natur] uns mehr mit dem Gefühl ihrer Größe, nirgends spricht sie uns
mächtiger an als in der Tropenwelt [...] Die Erinnerung an ein fernes, reich
begabtes Land, der Anblick eines freien, kraftvollen Pflanzenwuchses
erfrischt und stärkt das Gemüt: wie von der Gegenwart bedrängt, der emporstrebende
Geist sich gern des Jugendalters der Menschheit und ihrer einfachen Größe
erfreut." [26]
Wird hier die Vorstellung von der "Üppigkeit der
Tropenvegetation" ausgemalt, so an anderer Stelle die eines urtümlichen
Daseinskampfes:
"[Am Flußufer]
erscheinen, um zu trinken, sich zu baden oder zu fischen, gruppenweise
Geschöpfe der verschiedensten Tierklassen. [...] 'Hier geht es zu wie im
Paradiese, es como en el Paraiso':
sagte mit frommer Miene unser Steuermann, ein alter Indianer, der in dem
Hause eines Geistlichen erzogen war. Aber der süße Friede der goldenen Urzeit
herrscht nicht in dem Paradies der amerikanischen Tierwelt. Die Geschöpfe
sondern, beobachten und meiden sich. Die Capybara,
das drei bis vier Fuß lange Wasserschwein [...] wird im Flusse vom Krokodil,
auf der Trockne vom Tiger gefressen." [27]
Humboldt wurde in allen Zweigen der Naturwissenschaft
durch sein 35bändige Reisebeschreibung des "Neuen Kontinents" zum
"zweiten", ja dem eigentlichen "Entdecker Amerikas, dessen
Studien der Welt Besseres gegeben haben als alle Conquistadoren",
wie kein Geringerer als Simon Bólivar ihn rühmte.
[28] Humboldt hat in seinen "Ansichten" ganz bewußt
eine "ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände" geben
wollen. "Bedrängten Gemütern" widmet er in seiner
"Vorrede" sein Buch: auf den "ewigen Einfluß
[...], welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der
Menschheit" ausübt, will er mit seinen Schilderungen des
"Jugendalters der Menschheit" hinweisen. [29] Er schließt seine
"Vorrede" mit einem Zitat aus Schillers "Braut von
Messina" (IV,7): "Auf den Bergen ist
Freiheit". Dies kann man auch als politische Meinungsäußerung verstehen,
ist das Werk doch betont seinem Bruder Wilhelm gewidmet "Berlin, im Mai
1807", also in dem Jahr, als Preußen sich durch die Niederlage gegen
Napoleon und die französische Besetzung "bedrängt" fühlte. In der
Tat sah Humboldt - ganz im Gegensatz zur deutschen idealistischen Philosophie
(oder auch zu dem Fehlurteil Schillers über ihn: "beschränkter Verstandesmensch")
[30] - in der Natur ein "Reich der Freiheit"; aber er wußte (und war darin ein besserer Kantianer
als Schiller), daß "wir von der Außenwelt
empfangen, was wir selbst in diese gelegt haben". [31] Er
charakterisierte und beschrieb also die Rolle der subjektiven Phantasie bei
der "Erhöhung" und "Veredelung" "jener exotischen
Form" [32] schon als eine Art Projektion, war sich also seiner exotistischen Haltung bewußt.
Dabei blieb er rationaler Wissenschaftler und politischer Republikaner genug,
um die soziale Wirklichkeit der Indianer oder der Negersklaven in keiner
Weise zu beschönigen. [33]
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[26] Alexander von
Humboldt: Ansichten der Natur (1807). Hrsg. von
Adolf Meyer-Abich. Stuttgart: Reclam 1969, S. 34
("Über die Wasserfälle des Orinoco").
[27] Humboldt,
Ansichten, S. 61 f. ("Das nächtliche Tierleben im Urwalde")
[28] Adolf Meyer-Abich: Alexander
von Humboldt in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: rowohlts monographien 1967, S.
109. - Das Wort vom "zweiten Entdecker" hat die Universität La
Habana auf dem Humboldt-Denkmal vor der Berliner Universität festgehalten;
vgl. Meyer-Abich, Nachwort zu: Humboldt, Ansichten, S. 154.
[29] Humboldt, Ansichten, S. 6
[30] Schiller, Brief an Christian Gottfried Körner, 6.8.1797;
zit. bei Meyer-Abich, Humboldt, S. 172
|
[34] vgl. Lange, Exotik (Anm. 8). - Thomas Lange: Idyllische und exotische Sehnsucht. Formen
bürgerlicher Nostal- gie
in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts. Kronberg/Ts.
1976
[35] Vgl. Kathrin Dennhardt: Erzählte
Exotik und Europakritik. Zur Entwicklung des Motivs lateinamerikanischer
Fremde in der deutschen erzählenden Literatur des 20. Jahrhunderts.
Magisterarbeit, München 1983
[36] Mark Münzel: Identifikationsflucht ins nicht ganz Fremde. Das Museum als
Medium: zu unserem Dritte-Welt- Schema und unserer Lateinamerika-Begeisterung.
In: medium 6/1980, S. 17-19. - Zu den
Verzerrungen einer dichotomischen europakritischen
Sicht auf die Dritte Welt vgl. Pascal Bruckner: Das Schluchzen des Weißen Mannes. Berlin 1984. - Sehr
differenziert untersucht Tzvetan Todorov jenes
"todbringende Verstehen", das zwischen Indianern und Conquistadoren stattfand: Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen. Frankfurt/M
1985 (ed. suhrkamp 1213)
[37] Heberto Padilla. Außerhalb des Spiels. Gedichte.
Übers.: Günter Maschke. Frankfurt/M: ed. suhrkamp 1971, S. 113-115
[38] "Schwanzlurch aus der Unterordnung der Salamandrinen, 14 cm. lang". Meyers Großes Konversations-Lexikon,
6. Aufl., Leipzig und Wien 1904
[39] Julio Cortázar: Axolotl. In: ders.:
Ende des Spiels. Erzählungen. Übers.: Wolfgang Promies.
Frankfurt/M 1977, S.139-145
[40] Gabriel García Márquez: Die
Einsamkeit Lateinamerikas. Rede zur Verleihung des Nobelpreises, 1982.
In: Curt Meyer-Clason (Hrsg.): Lateinamerikaner
über Europa. Frankfurt/M: ed. suhrkamp 1987, S.
159-164; hier: S. 162 f.
[41] Gabriel García Márquez:
Der General in seinem Labyrinth. Köln 1989, S. 129. - Daß
es sich hier um eine Legende handelt, die Humboldt selbst schon nicht gelten
lassen wollte, dazu s.: Günter Kahle: Simon
Bolivar und die Deutschen. Berlin 1980, S. 45
ff.
[42] Márquez, General, S. 165
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Das Bild des lateinamerikanischen Kontinents wurde in
der deutschen Literatur durch exotistische
Projektion gezeichnet: Der Exotismus sieht
sehnsüchtig in die Fremde, sieht dort
eine positive oder negative "Wunschwelt" realisiert. [34]
Lateinamerika erscheint in der deutschen Literatur in der Nachfolge Humboldts
überwiegend als "Naturraum", als Kontrast zur europäischen Zivilisation.
Dabei kann die Bewertung wechseln: bedrohlich wirken die "Grimmigen
Menschenfresser" im Bericht des Ulrich Schmidel
von 1567, als sinnliche Verlockung die tropische Natur bei dem Expressionisten
Robert Müller. Sehnsucht nach archaischer Harmonie spiegelt sich in den
Romanen B. Travens, die nur vordergründig
"Abenteuerliteratur" sind oder in der großen "Amazonas"-
Trilogie Döblins (1937-38). [35] Beide Autoren - Traven,
der seit den 20er Jahren in Mexiko lebte und Land und Leute sehr gut kannte,
wie Döblin, der Südamerika so wenig wie China (den Schauplatz seines ersten
Romans "Die drei Sprünge des Wang-lun",1915) besucht hatte - beide
übertrugen ihre an-archistischen, anti-autoritären
Einstellungen auf die detailliert beschriebenen Eingeborenen-Kulturen. - Die
allgemeine Kenntnis der gräßlichen Untaten bei der
Eroberung Lateinamerikas bildet, neben den Nachrichten über die fortdauernden
Massaker und Revolutionen, den Hintergrund jener Sicht, die in starker
Vereinfachung das Verhältnis von Recht und Unrecht auf das Bild vom edlen
Indio und dem bösen fremden Unterdrücker reduziert. Solche Texte eines
moralischen oder politischen Exotismus, von Jakob
Wassermann über B. Traven bis Reinhold Schneider
oder Fritz Hochwälder ("Das heilige Experiment") spiegeln eine
"Identifikationsflucht" wider, die mehr den Hoffnungen und
Enttäuschungen der Intellektuellen in Europa entspricht als der Realität
Lateinamerikas. [36] Die Intellektuellen in Lateinamerika spüren jene
heimliche Ichbezogenheit der Europäer oder Nordamerikaner genau, wie der
kubanische Lyriker Heberto Padilla in seinem
Gedicht "Die Reisenden" (1968) beschreibt:
"Sie kommen her in den
Kleidern der Überflußgesellschaft,
deren Stachel sie sind, deren
'unzuverlässiges Element',
versehen mit akademischen Titeln
und
Bücher schreibend für die
Soziologie-Departments
der besten Universitäten [...]
Daheim betrachten sie tagelang
die Diapositive,
auf denen der Held der Familie
erscheint,
umgeben von Einheimischen, die
ihn brüderlich umarmen.
Viele Fotos dieser Art kursieren
von mir auf der Welt,
wo ich aufscheine wie ein
Hanswurst. Das eine Auge blickt
ungehalten zur Kamera, das
andere wer weiß wohin.
Gefangen bin ich auf diesen
Fotos wie der Löwe im Käfig,
mich aufbäumend gegen die
Geschichte, gegen die Nachwelt,
doch unfähig, mich zu erklären,
unfähig,
die Archive zu verändern. Ich bin verurteilt." [37]
Die Dichotomie, die Heberto
Padilla so polemisch zuspitzt, hat Julio Cortázar
auf brillante Weise in seiner Erzählung "Axolotl"
dargestellt. Dort wird aus dem Gegensatz
zwischen (europäischer) Vernunft und jener Raum und Zeit aufhebenden
"gleichgültigen Unbeweglichkeit" der Natur, eine körperliche,
"magische" Verwandlung eines "Reisenden" in einen Axolotl. [38] Der
in diesem Tier nun "lebendig begrabene" Mensch kann in seiner
"endgültigen Einsamkeit" nicht mehr handeln, aber sich noch eine
Geschichte ausdenken. Sie würde vom ewigen Warten auf die Geschichte
handeln, die sich in diesen "Aztekengesichtern, ausdruckslos und doch
von einer unversöhnlichen Grausamkeit" spiegelt. Es ist die Sehnsucht
nach einer "Zeit der Freiheit, in der die Welt den Axolotl
gehört hatte. [39]
Dies faszinierende "exotische" Bild gehört zu
dem literarischen "Spiel", in dem die lateinamerikanischen Autoren
versuchen, sich von der "Deutung unserer Wirklichkeit mit Hilfe fremder
Schemata [...] (die) uns immer unbekannter, immer unfreier, immer
einsamer" macht, zu lösen. In seiner hier zitierten Nobelpreisrede hat
Gabriel García Márquez geklagt, daß "man uns
die Originalität, die man uns in der Literatur rückhaltlos zubilligt, mit
allen möglichen Verdächtigungen bei unseren so schwierigen Versuchen
sozialen Wandels" versagt. [40] In seinem Roman über Bólivar
trägt Márquez zwar die Legende weiter, daß es
Humboldt gewesen sei, der in Bólivar den
"richtigen Mann" für die Befreiung Lateinamerikas gesehen habe,
[41] daß also der Impuls zur Eigenständigkeit aus
Europa gekommen sei. Aber Márquez wehrt auch den Vorbildanspruch Europas ab,
indem er seinen Bol¡var sagen läßt:
"Versucht uns nicht beizubringen wie wir sein sollen, geht nicht davon
aus, daß wir euch gleichen müssen [...] Laßt uns bitteschön, verflucht noch mal, in Ruhe unser
Mittelalter durchmachen!" [42]
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[43] Octavio Paz: Land und Sprache in der lateinamerikanischen Literatur. In:
Curt Meyer-Clason (Hrsg.): Lateinamerikaner über Europa. Frankfurt/M 1987
(ed. suhrk. 1428), S. 194
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Die lateinamerikanische Literatur kann als eine
"Literatur des Kulturwandels" gelesen werden. Gegen Exotismus immunisieren, für Kulturen und ihre
Verschiedenheit sensibiliseren, Kultur und
Kulturwandel zum Thema machen, sich an Fremdheit erproben: das wären
Lernziele eines Deutschunterrichts mit Proben aus dieser Literatur. Natürlich
gilt aber auch, was der andere lateinamerikanische Nobelpreisträger dieses
Jahrzehnts, Octavio Paz, über die Literatur seines Kontinents sagt und sie
damit als eine Art "Weltliteratur" empfiehlt:
"Die Geschichte unserer Literatur könnte uns ein
wenig über die Mutlosigkeit hinwegtrösten, die unsere reale Geschichte in
uns erzeugt. Doch kaum habe ich diesen Satz ausgesprochen, frage ich mich, ob
das Charakteristikum, das unsere Literatur definiert, nicht darin besteht, daß sie die Antwort - ich hätte fast gesagt: die Rache -
der Imagination auf unsere Wirklichkeit ist. Aber kann man das nicht von
allen Literaturen sagen?" [43]
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Übungen in exotischer Phantasie –
Texte
von Gabriel García Márquez als Material für die Annäherung an eine
außereuropäische Literatur
von Thomas Lange
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© 1992-2005
Thomas Lange
Kontakt T.
Lange
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"Ich habe
großen Respekt und vor allem eine große Zuneigung
zum Beruf des Lehrers, und darum schmerzt es
mich,
wenn auch sie Opfer eines Schulsystems
werden,
das sie dazu
bringt, Unsinn zu reden."
Gabriel García Márquez [1]
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[1] In: Die
Poesie in Reichweite der Kinder. (1982) In: Tom Koenigs (Hg. ): Mythos
und Wirklichkeit. Materialien zum Werk von Gabriel García Márquez. Köln 1985,
S. 293-296; hier: S. 296
[2] Asturias zit.
bei: Hans Joachim Müller: Die lateinamerikanische Literatur. In: Klaus von
See (Hrsg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 21, Wiesbaden
1979, S. 443-486; hier: S. 447
[3] ebd.
[4] Darcy Ribeiro: Unterentwicklung,
Kultur und Zivilisation: Ungewöhnliche Versuche. Frankfurt/M: ed. suhrk. 1018, S. 55 f.
[5] Alejo Carpentier: "Über die wunderbare Wirklichkeit
Amerikas." Vorwort zu seinem Roman "Das Reich von dieser
Welt" (1949). Zit.n.: Mechthild Strausfeld
(Hrsg.): Materialien zur
lateinamerikanischen Literatur. Frankfurt/M: Suhrkamp st 341, 1976, S.
326-330
[6] Alejo Carpentier: Die
verlorenen Spuren (1953). Frankfurt/M: Suhrkamp 1979, S. 225; ein
ähnliches Thema beschreibt Mario Vargas Llosa: Der Geschichtenerzähler (1987). Frankfurt/M: Suhrkamp 1990
[7] Informationen zur politischen Bildung
Nr. 226: Lateinamerika. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1990, S.
21 ff., 41 f.
[8] Dieter Janik: Magische
Wirklichkeitsauffassung im hispanoamerikanischen Roman
des 20. Jahrhunderts. Geschichtliches Erbe und kulturelle Tendenz.
Tübingen 1976, S. 19, 26 - Vgl. zu den Motiven auch: Leo Pollmann: Geschichte des lateinamerikanischen
Romans. Bd. I: Die literarische Selbstentdeckung
(1810-1929). Berlin 1982, S. 140
[9] Vgl. z. B. den
Bericht angesichts des Papstbesuches in Brasilien: "Kirche und Gesellschaft in Brasilien haben sich
verändert." In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.1991
[10] S.5. Müller, Literatur S. 454 ff.; vgl. Octavio
Paz: Land und Sprache in der
lateinamerikanischen Literatur. In: Curt Meyer-Clason (Hrsg.):
Lateinamerikaner über Europa. Frankfurt/M 1987 (ed. suhrk.
1428), S. 181-194
[11] Interview
mit G.G. Márquez in: DIE WELT, Nr.
8, 11.1.1988, S. 7
[12] Oscar Collazos:
Gabriel García Márquez. Sein Leben und
sein Werk (span.:
1983). Köln 1987, S. 27
[13] Hans Felten: "El ahogado
m s hermoso del mundo".
Pluralidad de lecturas
eines García Márquez Textes. In: Die Neueren Sprachen, Bd. 86, 1/1987, S.
2-13; hier: S. 11
[14]
Vgl. Paula Meckling: Kraftsuche - Selbstheilung mit Literatur. In: Diskussion Deutsch,
H. 118, 1991, S.192-208
[15] Schon 1930 gab Miguel Angel Asturias "Leyendas de
Guatemala" heraus (dt.: Frankfurt/M 1982). Vgl. Birgit Scharlau / Mark Münzel: Qellqay. Mündliche Kultur und Schrifttradition
bei den Indianern Lateinamerikas. Frankfurt/M - New York 1986.
[16] Münzel, Qellqay, S. 163 ff.; zur Vertiefung dieser hier nur
angedeuteten Zusammenhänge s. a.: Mark Münzel
(Hg.): Mythen sehen. Bilder und Zeichen
vom Amazonas. Frankfurt/M: Museum für Völkerkunde (Ausstellungskatalog),
2. Bde. 1988
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1. Literatur einer "wunderbaren Wirklichkeit"
Nichts scheint besser geeignet, um sich den
Eurozentrismus, den kolonialen Blick abzugewöhnen, als die Beschäftigung mit
lateinamerikanischer Literatur. Denn diese Literatur will anders sein, sie
definiert sich widersprüchlich und provokativ als eine fremde,
nicht-europäische Literatur. Die selbstgewählten
Markenzeichen heißen: "realísmo mágico" und "real maravilloso".
Mit einem "magischen Realismus" wird eine andere, eine
"wunderbare Wirklichkeit" beschrieben. In den Worten von Miguel
Angel Asturias:
"Zwischen der Realität, die man eigentlich die
'reale Realität' nennen müßte, und der magischen
Realität, wie die Menschen sie erleben, gibt es eine dritte Realität und
diese andere Realität [...] ist Ergebnis der Verschmelzung dieser beiden
Elemente. Es ist ein wenig so, wie die Surrealisten um Breton
es wollten, und es ist das, was wir den magischen Realismus nennen
können." [2]
Den Surrealismus, der in Europa am Ende einer langen
Tradition realistischer Literatur
stand und dort als eine Endphase empfunden wurde, sehen lateinamerikanische
Autoren als geradezu ur-amerikanisch an:
"Der magische Realismus hat natürlich eine direkte
Beziehung zur ursprünglichen Menalität der Indios.
Der Indio denkt in Bildern, er sieht die Dinge nicht in den Vorgängen selbst,
sondern überträgt sie in immer andere Dimensionen, in denen wir das Reale
verschwinden und den Traum aufscheinen sehen, in denen Träume sich in
greifbare und sichtbare Wirklichkeiten verwandeln." [3]
Diese selbstbewußte "Andersheit" entsteht parallel zum Streben nach
politischer Autonomie:
"Jahrhundertelang kannten
wir keine eigene Kultur und keine Menschlichkeit. Wir waren Gesellschaften
nach dem Muster von Wirtschaftsunternehmen, in denen Menschen verschlissen
werden, um Zucker, Gold oder Kaffee zu produzieren." [4]
Die Kolonialkultur der mestizischen Mischbevölkerung war
nur ein Abklatsch der europäischen Herrenkultur. Erst mit der Einsicht des
20. Jahrhunderts, daß "unsere Rückständigkeit
[...] von außen in Gang gesetzt" ist, begann ein Kampf um Identität und selbstbewußte
"Lateinamerikanität". Als Literaturpogramm bedeutet das eine bewußte
Herausarbeitung jener Züge, die dem europäisch-rationalen Begreifen widerstreben, also ein Rückgang auf die vorkolonialen
Wurzeln. Klassisch formuliert hat diese Wirklichkeitssicht der kubanische
Schriftsteller Alejo Carpentier
nach einem Aufenthalt in Haiti:
"Das wunderbar Wirkliche findet sich auf Schritt
und Tritt im Leben der Menschen, die die Geschichte des Kontinents
machten [...] Was ist denn Amerikas
Geschichte anderes als eine Chronik des wunderbar Wirklichen?" [5]
Scheinbar unverändert haben sich in den sozialen
Unterschichten die offiziell unterdrücken, zumindest ausgegrenzten
afrikanischen und indianischen Traditionen als Subkulturen erhalten. Sie
repräsentieren in der Gegenwart lebendige kulturelle Ungleichzeitigkeit. Alejo Carpentier hat in seinem
Roman "Die verlorenen Spuren" (1953) eindrucksvoll beschrieben, wie
Reisen in Lateinamerika zu Zeitreisen in vergangene Kulturen werden:
"Plötzlich wurde mir klar, daß
zwischen der Messe, die hier abgehalten wurde, und der Messe, die die
Eroberer Eldorados vor vierhundert Jahren in ähnlich abgelegenen Gegenden
gehört hatten, kein Unterschied bestand. Die Zeit ist um vierhundert Jahre
zurückgedreht. Dies ist die Messe der eben erst an namenlosem Ufer gelandeten
Entdecker, die vor den erstaunten Maismenschen das Zeichen ihrer Sonnenwanderung
nach Westen aufpflanzen. [...] Die Jahre nehmen ab, zerfließen, lösen sich im
schwindelerregenden Rücklauf der Zeit in Rauch auf. Wir sind im
Mittelalter." [6]
Eine
"magische Wirklichkeitsauffassung" prägt das Bewußtsein vor allem der sozialen Unterschichten. Bis
zu 60% der jeweiligen Landesbevölkerung werden dazugerechnet und sie bilden
die Mehrheit jener zwei Drittel der
Bevölkerung, die in manchen Staaten Lateinamerikas in Städten leben (in
Argentinien, Chile, Uruguay: 85%); z.T. lebt sogar
ein Drittel der Gesamtbevölkerung in einem städtischen Ballungszentrum.
[7] Bei diesen Menschen findet sich
noch ein animistisches, zyklisches Denken, das auf
die vorkolonialen Kulturen zurückgeht. Aus einem "Grundgefühl
existentieller Schutzlosigkeit" nehmen sie zu vor-industriellen,
"atavistischen Formen seelischer Daseinsbewältigung" [8] Zuflucht. Am ausgeprägstesten
ist das in den spiritistischen, afrobrasilianischen
Kulten (Candomblé, Macumba)
der Fall, die jährlich Millionen Brasilianer sogar von der katholischen
Kirche abziehen. [9]
Diese kulturellen "pattern"
lassen sich nahtlos mit der spanischen Literaturtradition verbinden, in der
die hispanoamerikanischen Autoren sprachlich
stehen. Denn jene geht direkt auf den
ersten europäischen Einfluß zur Zeit der Conquista zurück. Bis heute ist die spanische Literatursprache entscheidend vom spanischen Barock mit den
dunklen, gesuchten Metaphern des "conceptismo" beeinflußt,
trotzdem das Kastilische mittlerweile
"amerikanisiert" worden ist. [10]
Das Spanien des 16.
Jahrhunderts bedeutete die tiefe Gläubigkeit der Gegenreformation, geprägt
von antiker Mythologie und christlich-jüdischer Mystik: mit vielen Zügen war
es noch mehr dem Mittelalter und
dessen späten Ritterromanen verbunden als der Neuzeit mit Rationalität und
Naturwissenschaft. Diese - notwendig verkürzte - Darstellung sollte darauf
hinweisen, daß die lateinamerikanischen Autoren
eine entschieden "fremde" Literatur schreiben. Allerdings muß
betont werden: diese fremde Literatur ist nicht naturwüchsiger Ausdruck einer
antipodischen Weltsicht, sondern ein Produkt höchst
differenzierter Kunst. Auch ein Autor wie Gabriel García Márquez, der sich so
betont als Nicht-Intellektuellen bezeichnet, [11] ist natürlich höchst belesen, und seine
frühe Begegnung mit Kafkas "Verwandlung" (und anderen Autoren der
Weltliteratur) hat sein Werk entscheidend beeinflußt.
[12] Manche Interpreten gehen daher so weit, in seinen Büchern eine
"manieristisch angelegte Literatur" zu sehen, die sich nicht mit
der "sogenannten 'Wunderbaren Wirklichkeit' Lateinamerikas",
sondern nur mit "Literaturen" auseinandersetzt: ein Kunstprodukt,
von Literatur gezeugt, an Literatur (oder Literaten) gerichtet. [13]
Die "exotische Phantasie" der
lateinamerikanischen Literatur kann also kaum genutzt werden für eine
unmittelbare Literatur-Erfahrung, wie sie
neuerdings wieder unter Berufung auf "Exoten" propagiert wird,
wo Schamanen oder Mantras
helfen sollen, wieder zu einer "unmittelbaren" Wahrnehmung innerer
Bilder zu gelangen. [14] Wenn man sich
auf diese Ebene (vermeintlicher) Unmittelbarkeit begeben will, dann müßte man die höchst kunstvollen Produkte
lateinamerikanischer Nobelpreisträger meiden und zur
"eigentlichen", authentischen Literatur in Lateinamerika greifen,
nämlich der mündlich überlieferten "Oralliteratur" der Indianer.
[15] Doch auch hier wäre
distanzloses Aufnehmen wieder nur
eurozentrisch. Denn die hier tradierte mythische Weltsicht ist nur eine
schriftlose Form einer
Intellektualität, die sehr bewußt mit verschiedenen
Genres auf einer recht hohen Abstraktionsstufe spielt. [16]
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[17] Lateinamerikanische Nobelpreisträger
für Literatur waren: Gabriela Mistral (Chile, 1945); Miguel Angel Asturias (Guatemala, 1967); Pablo Neruda (Chile, 1971); Gabriel García
Márquez (Kolumbien, 1982), Octavio Paz (Mexiko, 1990)
[18] D. E. Zimmer: Der Held in der Hängematte (Rez. von G. G. Márquez "Der
General in seinem Labyrinth", in: DIE ZEIT, Nr. 23, 2.6.1989); Fritz J.
Raddatz: Auf der Suche nach Gabriel
García Márquez, in: ZEITmagazin Nr. 41,
2.10.1987, S. 52
[19] "Mein Leben ist dazu bestimmt, alles
zu erzählen." Gabriel García Márquez im Gespräch mit Peter B.
Schumann. In: Frankfurter Rundschau, 24.1.1987, S. ZB 2.
[20] Raddatz, Suche,ebd.,
S. 42
[21] Jens Glüsing:
Aracataca und der Mythos Macondo.
In: FAZ, Nr. 276, 26.11.1988
[22] Raddatz, Suche, Teil 2: ZEITmagazin Nr. 42, 9.10.1987, S. 60
[23] Márquez, Poesie (wie Anm. 1), S. 294
[24] Interview in DIE WELT, ebd.
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2. Einführung in die
exotische Phantasie: Schreiben wie Márquez
Das Werk von Gabriel García Márquez, des vierten unter
den fünf lateinamerikanischen Nobelpreisträgern, [17] und des gegenwärtig weltweit
erfolgreichsten lateinamerikanischen Autors scheint mit seiner "tropischen
Phantasie", seinem "eigenen Schwerkraftgesetz" [18] ein besonders gutes Beispiel der ganz
elementaren exotischen Phantasie zu sein. Trotz aller Bekundungen des Autors
-
"Ich betrachte mich als einen reinen Realisten, der
alltägliche Ereignisse katalogisiert, die später phantastisch
erscheinen" [19] -
gelingt es ihm ja
offensichtlich, jene "zweite Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit" so zu beschreiben, daß
deutsche Journalisten auf teuren Reisen "die Märchenwelt des großen
Zauberers" [20] , den "Mythos Macondo" [21]
aufsuchen wollen, also jenes Dorf Aracataca,
das, wie jetzt alle Welt weiß, Vorbild für "Macondo"
gewesen ist. Am Ort, beim Anblick von ein "paar Hütten, die in Schlamm
und Schmutz und Armut versinken", empfinden sie dann eine
"merkwürdige Trostlosigkeit" [22] , sind enttäuscht, daß die schäbige Wirklichkeit des armen Tropendorfs Aracataca so gar nicht der farbig aufgeladenen mythischen
Bedeutsamkeit jenes "Macondo" entspricht,
zu dem Márquez sein Heimatdorf in seinem epochemachenden Roman "Hundert
Jahre Einsamkeit" (1967) erhoben hat.
Márquez selbst warnt vor einer krampfhaften Suche nach
zuviel Bedeutung. Er teilt die Aversion vieler Autoren vor
"schulmäßiger" Interpretation, - sie führe nur zu "Stilblüten,
mit denen schlechte Literaturlehrer die Kinder verderben": [23]
"Einer meiner Söhne hat eine englische Schule
besucht. Und die Fragebögen für die jeweiligen Examina kamen in einem
versiegelten Umschlag aus London. Eine der Fragen lautete: Was stellt der
Hahn in dem Roman 'Der Oberst hat niemanden, der ihm schreibt" dar? Mein
Sohn, der natürlich wußte, daß
ich mich immer über die deutungswütigen Kritiker amüsiere, die versuchen,
alles in Symbole umzusetzen, hat dann geantwortet: Durch ausführliche
Gespräche mit dem Autor kann ich versichern, daß
der Hahn überhaupt kein Symbol ist, sondern ausschließlich ein Hahn sein
soll. Mein Sohn ist durchgefallen. Aber er hatte natürlich recht. Der Hahn
ist einfach ein Hahn! Wenn ich einem Buch von einer Kuh spreche, dann meine
ich eine Kuh." [24]
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[25] Interview mit
Schumann (Anm. 22)
[26] Es gibt (1992)
noch wenig schulisch verwendbares Material zu Márquez; neben dem zitierten
Aufsatz von Felten (Anm. 16), der die Analyse der
Erzählung "Der schönste Ertrunkene von der Welt" bis auf eine Ebene
antiker Mythologie führt, ist noch der Aufsatz von Ewald Gruber zu nennen: Lateinamerikanische Literatur im Unterricht.
In: Lehren und Lernen 3/1986, S. 19-35. Für einen ersten Zugriff empfiehlt
sich: Dieter Janik: Gabriel García Márquez, in: Wolfgang Eitel (Hg.):
Lateinamerikanische Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen.
Stuttgart: Kröner 1978, S. 330-360 sowie: Mechtild Strausfeld: "Hundert
Jahre Einsamkeit": ein Modell des neuen lateinamerikanischen Ro- mans. In: dies. (Hg.):
Materialien zur lateinamerikanischen Literatur. Frankfurt/M: suhrkamp texte 341, 1976, S. 233-260. – Jetzt auch_
Hans-Otto Dill: Geschichte der
lateinamerikanischen Literatur im Überblick. Stuttgart: Philipp Reclam
jun. 1999 (RUB 9738). - Anregende
Interpretationen auch bei Koenigs, Mythos (Anm. 1). - Zur Geschichte
Kolumbiens: Klaus Meschkat / Petra Rohde / Barbara Töpper: Kolumbien.
Geschichte und Gegenwart eines Lan- des im
Ausnahmezustand. Berlin: Klaus Wagenbach 1980.
[27] Vgl. Janik,
Márquez, S.339, 351
[28] Márquez, Interview DIE WELT
[29] Harald Frommer: Verzögertes Lesen. Über Möglichkeiten, in die Erstrezeption von
Schullektüre einzugreifen. In. Der Deutschunterricht, Jg. 33, 2/1981, S.
10-27
[30] Die Unterrichtsbeispiele, über die hier
berichtet wird, gehen auf Erfahrungen an der Bertolt-Brecht-Schule,
gymnasiale Oberstufenschule, Darmstadt, in den Jahren 1988-90 zurück.
[31] Winfried Freund: Zum Begriff des Phantastischen. In: ders.(Hg.):
Phantastische Geschichten. Stuttgart 1979 (Reclam Arbeitstexte für den
Unterricht Nr. 9555), S.75 - 89
[32] Helmut Fend: Sozialisation durch Literatur.
Weinheim u. Basel 1979, S. 146 ff., 176 ff.
[33] Vgl. die idealistisch gefärbte
Wiederaufnahme dieses anthropologischen Begriffs bei Bernd Thum, in seiner
Einleitung zu dem von ihm hrsg. Sammelband: Gegenwart als kulturelles Erbe. Ein Beitrag zur Kulturwissenschaft
deutschsprachiger Länder. München 1985, S. XV - LXVII; hier: S. XXXIII
f.; s. dazu auch: Roland Girtler: Kulturanthropologie. München: dtv (Nr. 4311) 1979, S. 243 f.
[34] Gabriel García Márquez: Un senor muy viejo con unas alas enormes (1968);
deutsch in mehreren Erzählungssammlungen, meist bei dtv
erhältlich.
[35] Die in spiritistischen Bewegungen und
New-Age-Zirkeln verbreiteten "neuen" (synkretistischen)
Engel-Vorstellungen tauchten in den von mir unterrichteten Kursen nicht auf;
vgl. zu diesen, auf ihre Art auch "exotischen" Vorstellungen: Ina-Maria Greverus: Neues Zeitalter oder Verkehrte Welt.
Anthropologie als Kritik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
1990, S. 139 ff.
[36] Kaspar H. Spinner: Fremd- verstehen und historisches Verstehen als Ergebnis kognitiver
Entwicklung. In: Der Deutschunterricht, 4/1989, S. 19-23
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Vielleicht ist zur Annäherung an diesen Autor, der über
sich sagt, sein Leben sei dazu bestimmt "alles zu erzählen" [25] ,
der Nachvollzug des Erzählprozesses am besten geeignet. [26]
Márquez findet den Anfang zu einem Roman, einer
Erzählung immer in einem "einfachen Bild", einer Gestalt, einer
Szene. Er führt sogar seinen komplexesten Roman, "Hundert Jahre
Einsamkeit", auf die Sprechweise seiner Großmutter zurück: [27]
"Erzählen ist ein Problem der Glaubwürdigkeit.
[...] Meine Großmutter [hatte] irgendeine Methode, die Geschichte glaubwürdig
zu machen. Ich habe sehr viele Jahre darüber nachgedacht: Welcher besonderen
Erzählweise war meine Großmutter fähig? Ein bestimmter Ton, ein bestimmter
Stil! Und als ich diesen Stil gefunden hatte, diese Weise, Unglaubliches
glaubhaft zu machen, da hatte ich alles gelöst." [28]
Es käme also darauf an,
Zugang ins Innere der "exotischen Phantasie" von Márquez zu
finden, z. B. mit der Methode des literarischen Rollenspiels (Fragen an
Figuren stellen) oder aber "verzögert" zu lesen. [29]
In einem Kurs [30]
der Jahrgangsstufe 11 mit dem Thema "Phantastische
Literatur" wurden Schülererfahrungen mit
Horror- und Science Fiction-Stoffen in Filmen und
Büchern zum Ausgangspunkt genommen, um
die Entfaltung von phantastischen Motiven als "Reaktion auf den
Zusammenbruch tradierter Ordnungsmuster" zu interpretieren. [31] Beispiele waren Bürgers "Lenore"
und Goethes "Braut von Korinth" mit ihren der Volkssage entnommenen
Wiedergänger- und Vampirmotiven sowie Heines "Seegespenst", das
die biedermeierliche Mittelalter-Romantik
ironisiert. Die symbolische Dimension
phantastischer Literatur wurde
erarbeitet an E.T.A. Hoffmanns "Sandmann" und Günter Kunerts
"Lieferung frei Haus": im Phantastischen enthüllt sich
spiegelbildlich das Grauen des biedermeierlichen
oder biedermännischen Alltags. Phantastik als
Gesellschaftskritik: Hoffmann gestaltet Entfremdung in Motiven des Wahnsinns,
der Ich-Spaltung, des Doppelgängers oder des Automaten. Bei Kunert wird die totale Verflochtenheit der
Gesellschaft, die Anonymität der Handelnden als das Schuldigwerden von allen
in das Bild des "frei Haus" gelieferten Sarges gefaßt.
Natürlich wird Literatur mit derartigen
Entschlüsselungsoperationen auf "Interpretationsmuster"
festgelegt, bei denen unter den Lernzielen von "Reflexion" und
"Distanz" die "ästhetische Sensibilisierung"
("Vergnügen und Genuß") in den
Hintergrund gedrängt wird. [32] Die
Begegnung mit Márquez' exotischer Phantasie kann dazu beitragen, die eigenen
Interpretationsmuster bewußt zu machen und die
Schüler zugleich für die "Themen" oder "pattern"
fremder Kulturen [33] zu
sensibilisieren. Um die Wirkungsweise von Interpretationsmustern und
Phantasie-Symbolen an sich selbst zu erfahren, kann man Schüler phantasievoll
handeln, d.h. Literatur schreiben lassen. Geeignet dazu ist etwa die Aufgabe,
Márquez' Erzählung "Ein alter Herr mit riesengroßen Flügeln" nach
der Lektüre der ersten Seite zu Ende
zu erzählen. [34]
Es überrascht nicht, daß die
aus Märchen und volkstümlichen religiösen Vorstellungen gängigen
Assoziationen zu "Engel" aufgegriffen und fortgeführt werden.
[35] Überwiegend ist es ein
jugendlich-positiv gezeichneter Schutzengel, der helfend eingreift. Die dazu
so seltsam kontrastierende Gestalt eines "Kahlkopfs" und
"Lumpensammlers" bei Márquez wird sehr moralisch erklärt:
"Der Engel hatte eine sehr lange Reise hinter sich.
Er wurde von seinem Herren gesandt, um auf der Erde
Freude einzubringen, den Menschen in ihrer Not zu helfen. Wenn ihm diese
Aufgabe gelingt, so wird ihm sein jugendhaftes
Gesicht wieder zurückzugegeben und er kann wieder
in den Himmel emporsteigen."(M.J.) - "Engel altern auf der Erde. Je
weniger an sie geglaubt wird, desto mehr." (A.B.)
In dieser Wunschwelt ist das arme Ehepaar hilfsbereit und dankbar und
der Engel hat auch nur gute Absichten:
"Da sie aber sahen, daß
der alte Mann noch hilfebedürftig war und sie ein gutes Herz hatten, nahmen
sie ihn mit in ihr Haus und pflegten ihn. [...] Aber er war ja geschickt
worden, um diesen Menschen zu helfen." (C.D.)
Bei der Szenerie
der engelhaften Hilfeleistung für das kranke Kind wird die Schülerphantasie
deutlich von filmischen Science-Fiction-Vorbildern beeinflußt:
"Das ganze Zimmer war verdunkelt durch die
Gewitterwolken, die sich draußen rund um das Haus gebildet hatten, nur das
kleine Bettchen stand in einem Schein aus schimmerndem Blau und schien alles
magisch anzuziehen." (B.S.)
Diese Anklänge an Märchentraditionen werden verstärkt
durch Erzählschlüsse, in denen dem Kind eine Art Engel-Zukunft vorhergesagt
wird: "Doch anstatt irgendeinen Zauber anzuwenden, spannte er seine
Flügel und flog mit dem Kind auf und davon." (S.Z.)
Negative Versionen sind seltener: da entpuppt sich der
Engel als Teufel, der sich mit Hilfe des Neugeborenen erlösen will, oder aber
es wird ein Engel geschildert, der durch den Anblick menschlichen Elends -
Menschen in Slums, verdreckte Flüsse - so altert, daß
auch er dem Kind nicht mehr helfen kann:
"Langsam humpelte er in Richtung des Kinderzimmers.
Doch er erreichte das Zimmer niemals, denn sobald er die Türklinke der
Zimmertür nach unten drücken wollte, zerfiel er zu Staub. 'Gott hat die Welt
nun endgültig verlassen', rief die alte Nachbarin." (F.L.)
Die zu Ende geführte Lektüre des Márquez-Textes konfrontierte
die Schüler dann mit Unerwartetem: der gänzlichen Bedeutungslosigkeit des
Engels für das Kind; der Lieblosigkeit, mit der er wie alles Geflügel in den
Hühnerstall gesperrt wird; der Sensationslust, mit der er kommerziell
vermarktet wird. Diese Momente fordern eine "Übernahme fremder
Perspektiven" zumindest probeweise und fördern damit die "Fähigkeit
des Fremdverstehens" [36] . Nicht der Engel,
der zwar Wunder tut (allerdings grotesk falsche) ist das
"wunderbar" Andere. Er scheint
den Menschen selbstverständlich zu sein, die ihn mit der landläufigen
Rücksichtslosigkeit behandeln (ihm etwa "Federn ausreißen, um ihre
Gebresten damit zu bestreichen"). "Anders" und
"wunderbar" ist vielmehr die Tarantelfrau. Diese - "eine
ungeheure Tarantel von der Größe eines Hammels und mit dem Kopf einer
traurigen Jungfer" - ist Attraktion eines karibischen Wanderjahrmarkts
und gewinnt schließlich in der "Konkurrenz des Wunderbaren":
niemand steht mehr Schlange, um den Engel zu sehen.
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Die Analyse diese "einfachen Bildes" fördert zutage, daß
"Wunder" sehr diesseitig erklärbar sind. Die
"Tarantelfrau" wurde zwar mit Donnerschlag und Schwefelblitz in
eine Spinne verwandelt, doch geschah dies aus einer sehr irdischen, fast
banalen Ursache: sie war ungehorsam gegen ihre Eltern, hatte sich "aus
ihrem Elternhaus auf einen Ball gestohlen und [...] die ganze Nacht ohne
Erlaubnis getanzt".
"Eine solche Erscheinung, beladen mit so viel
menschlicher Wahrheit und derart abschreckender Beispielhaftigkeit, mußte ungewollt die eines hochmütigen Engels
übertrumpfen, der sich kaum dazu herabließ, die Sterblichen
anzublicken."
Im Gegensatz zum Engel ist die "Spinnenfrau"
ja sehr menschlich: sie beantwortet Fragen der Besucher und gehorcht wie
diese offensichtlich dem menschlichen Moralkodex. Damit können die
"Wunder-Touristen" mehr anfangen als mit dem Engel, der
unverständlich ("Altnorwegisch"?) spricht und in seiner
Unnahbarkeit arrogant wirkt. In der abschreckenden Beispielhaftigkeit der
"Spinnenfrau" liegt reale Irrealität, ebenso aber auch in der
Gläubigkeit der Menschenmassen, für die ein Wunder immer auch etwas
Praktisches haben muß: es soll sie zumindest in
ihrer Moral bestätigen.
"Wunderbares" in diesem Sinn einer
"Realität des Irrealen" läßt sich auch
bei uns, im Europa des 20. Jahrhunderts finden. In der Diskussion im Kurs
wurden sowohl die Massenversammlungen vor wundertätigen Heiligenbildern (etwa
S. Gennaro in Neapel) genannt, wie auch die Autoschlangen auf den Autobahnen
dort, wo sich auf der Gegenfahrbahn schwere Unfälle ereignet haben.
Vielleicht wäre die Methode der Elisenda - die
Straße zu sperren und Eintritt zu verlangen - auch hier erfolgreich.
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[37] Márquez, zit. bei Janik,
Márquez, S. 351
[38] Janik, ebd. S. 340
[39] Gabriel García Márquez: Zwischen
Karibik und Moskau. Journalistische Arbeiten 1955-1959. Köln 1986. Zitiert
werden Reportagen über den Grenzübergang und einen Besuch in Leipzig aus dem
Jahr 1959; S. 95, 103.
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Die "Exotik" der exotischen Phantasie stellt
sich als eine Methode der Wirklicheitsdarstellung
heraus. Die Exotisierung findet durch die Erzählweise statt; Márquez erinnert sich:
"daß meine Großmutter mir
die grauenhaftesten Dinge erzählte, ohne jede Rührung, wie wenn es etwas war,
was sie gerade gesehen hatte. Damals entdeckte ich, daß
es diese unerschütterliche Ruhe und dieser Reichtum an Bildern, mit denen
meine Großmutter erzählte, waren, die ihren Geschichten Glaubhaftigkeit
verliehen." [37]
Das Entscheidende
ist ein episches Element in der Erzähltechnik, "das Zurücktreten des
Ereignishaften hinter die Situation, des Handelns hinter die Handlung".
[38] Dieser Stil geht vielleicht
weniger auf die "Großmutter" von Márquez zurück - sie ist wohl nur
eines der "einfachen Bilder", mit denen er uns Kompliziertes
mitteilen will - sondern man kann die jahrzentelange
journalistische Übung von Márquez als Quelle entdecken. Dabei lernte er,
Alltagshandlungen einen monumentalen, zugleich symbolischen und aufregenden
Charakter zu geben. Daß mit dieser Methode auch
Europa "exotisiert" werden kann, kann man in Márquez' Reportagen aus Osteuropa nachlesen.
In der Beschreibung der Zöllner am "Eisernen
Vorhang" zur (damaligen) DDR wird deutlich, daß
hier eine Macht so unsicher ist, daß sie sich mit
Grobheit - der Zolldirektor dachte
"in einem gepanzerten Deutsch" - schützen muß
und selbst einen schäbigen Speisesaal mit Maschinenpistolen bewacht.
("Ich erinnerte mich an die Dörfer in Kolumbien, an die Amtsgerichte,
die nachts für die im Kino verabredeten Stelldicheins dienen.") Das Volk
dagegen macht in einer Mitropa-Autobahnraststätte in der DDR aus dem schlichten
Essen eine Art Protesthandlung: "Ich hatte noch nie so viel
konzentriertes Pathos bei einer so einfachen Handlung des täglichen Lebens
wie dem Frühstück gesehen". Auf diese Weise gelingt es Márquez, die
Mentalität der DDR atmosphärisch dicht einzufangen. [39]
Schüler können mit eigenen
Texten in exotischer Phantasie "ungerührte" Beschreibungen von
Alltagshandlungen verfassen; also mit der Methode "… à la Márquez'
Großmutter" die "Exotik der Nähe" entdecken.
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[40] Carlos Rincón:
Gabriel García Márquez - Mythologe und Wundertäter. In: Koenigs, Mythos (Anm.
1), S. 249-292; hier: S. 272
[41] Volker Sellin: Mentalität und Mentalitätsgeschichte. In: Historische Zeitschrift
Bd. 241, 1985, S. 555-598; hier: S. 588 f.
[42] Ursula Peters: Literaturgeschichte als Mentalitätsgeschichte? Überlegung- en zur
Problematik einer neueren Forschungsrichtung. In: Georg Stötzel (Hrsg.): Germanistik - Forschungsstand und
Perspektiven. 1. Teil, Berlin / New York 1985, S. 179 ff.
[43] Kursstrukturpläne Deutsch für die
Gymnasiale Oberstufe. Der Hessische Kultusminister, 1984, S. 2.
[44] Weitere Vergleichsmöglichkeiten bieten
sich etwa mit Büchners "Woyzeck" oder mit Kleists "Michael
Kohlhaas".
[45] Hessische Kursstrukturpläne Deutsch, S.
28 ff.
[46] Ich danke dem Kollegen H. Ohlig von der Carl-Ulrich-Schule, Darmstadt, der mir
seinen Bericht über seine Erfahrungen mit einer Unterichtseinheit
zu Márquez überlassen hat, aus dem ich methodische Anregungen gewinnen
konnte. In seiner 10. Klasse waren unter 18 Schülerinnen und Schülern 6
Nationalitäten vertreten.
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3. Literatur als
Mittel zum Kulturvergleich: die Hinrichtung eines Macho
Die exotische Faszination der lateinamerikanischen
Literatur rührt für den europäischen Leser auch von der Berufung auf
scheinbar Ursprüngliches her: da werden Mythen zitiert, die noch unverbraucht
sind, die weder bis in den letzten Winkel analysiert, noch in allen möglichen
Varianten schon durch künstlerische Adaptionen erschöpft sind. Göttermythen indianischen oder
afrikanischen Ursprungs tragen wesentlich die Handlung in Romanen wie Mario
de Andrades "Macunaima"
(1928), in Carpentiers "Reich von dieser
Welt" (1949) oder Asturias'
"Maismenschen" (1949). Auch gegenwärtig neu sich bildende
"Volksmythen", die eine eigene "kollektive Wirklichkeit"
repräsentieren, werden literaturfähig. [40]
Márquez nutzt solche Mythen in Erzählungen wie "Das Leichenbegängnis
der großen Mama" oder, kombiniert mit dem Archetypus der
"mythischen Reise", im "Bericht eines Schiffbrüchigen".
In diesen Mythen begegnet uns ein anderer kultureller
Hintergrund, den man als "Mentalität" beschreiben kann.
Mentalitäten, sind "Sinnstrukturen kollektiver
Wirklichkeitsdeutung"; sie sind nicht Eigenschaften von Menschen, auch
nicht "Ursachen ihres Verhaltens, sie bezeichnen lediglich Tendenzen und
Dispositionen, bestimmte Situationen, die ein Verhalten auslösen". [41] Die Geschichtswissenschaft hat fiktionale
literarische Texte schon lange als Quellen der Mentalitätsgeschichte entdeckt
und genutzt. Die Literaturwissenschaft müßte erst
einen Paradigmenwechsel vollziehen, um diesen Ansatz für sich fruchtbar zu
machen. [42] Für die Schule gälte es,
Weltliteratur nicht nur unter dem Aspekt der "Grundfragen menschlichen
Daseins" [43] zu lesen, sondern
kulturkontrastiv zu arbeiten, andere Mentalitäten im Vergleich der
literarischen Motive und Formen bewußt zu machen.
So läßt sich der Kurzroman "Chronik eines
angekündigten Todes" von Márquez als Variation weltliterarischer Motive von Liebe und
Eifersucht begreifen, wie sie auch Themen der Unterrichtslektüren
"Leiden des jungen Werther" und "Effi Briest" sind.
[44] Als Grundmuster des Konflikts von
Individuum und gesellschaftlicher Rollenerwartung werden an diesen Texten
Kursthemen wie "Selbsterfahrung und Identität" behandelt. Die dabei
angestrebte "Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Gesellschaft"
[45] ist natürlich an einem
europäisch-neuzeitlichen Kontext orientiert.
Gerade in großstädtischen Schulklassen mit ethnisch heterogenen
Lerngruppen kann dieser Roman dazu dienen,
kulturell differente moralische Vorstellungen unter dem Gesichtspunkt
des Lernziels "Toleranz" zum Thema zu machen. [46]
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[47] Den Text des Gedichts s. im Anhang des
Aufsatzes von Karin Hopfe
[48] Gabriel García Márquez: Chronik eines angekündigten Todes (1981). München: dtv Nr. 10564 1986, S. 64, 51
[49] So Bernal
Diaz del Castillo: "Geschichte der Eroberung von Mexiko" (1642), oder die
"Schiffbrüche" des Cabeza de Vaca (1536). Dazu: Rincón,
S. 291; Ausführlich: German Arciniegas: Kulturgeschichte Lateinamerikas (span. 1965). München 1966, S. 95 ff
[50] Alfred Döblin: "Ulysses" von Joyce. In: Das deutsche Buch, H. 3/4,
1928, S. 84-86
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Zur Einführung in kulturkontrastives Arbeiten können
deutsche Amerika-Stereotypen dienen. Die typischen Motive von
"natürlicher Freiheit" oder "fortschrittlicher Neuheit"
variieren auf klassische Weise J.G. Seume und J.W. Goethe. Seume polemisierte in seinem Gedicht "Der Wilde" (1793) ganz rousseauistisch gegen "Europens
übertünchte Höflichkeit": "Wir Wilden sind doch bessre
Menschen". Goethe prognostizierte
den Vereinigten Staaten eine hellere Zukunft als dem alten Europa:
"Amerika, du hast es besser" (1831) , denn
ohne Traditionsballast ("unnützes
Erinnern"), kann es der Aufforderung nachkommen: "Benutzt die
Gegenwart mit Glück". - Von Lateinamerika aus sah man das schon um
1900 anders. Rubén
Darío ordnet in seinem Gedicht "An Roosevelt" (1905) zwar den USA
Reichtum, Freiheit, Fortschritt, zugleich aber auch den "Kult des
Mammon" und eine "barbarische Seele" zu. Das
"wohlriechende Amerika" aber ist das "spanische" und
"katholische" Lateinamerika, zu dem Licht, Feuer, Liebe, Pan und
Bacchus gehören. [47] Der kulturelle
Gegensatz von Vernunft vs. Gefühl, Fortschritt vs. Kultur, Zukunft vs.
Geschichte besteht also nicht nur zwischen Europa und (einem undifferenziert
gesehenen) Amerika, sondern auch zwischen dem angelsächsischen und dem
romanischen Amerika.
Die "Chronik
eines angekündigten Todes" scheint
in einer typisch "südlichen" Welt von Leidenschaft und Männerehre angesiedelt zu
sein. Diese "Chronik" berichtet vom Mord an Santiago Nasar, der von den Brüdern der Angela Vicario vor den
Augen fast des ganzen Dorfes nicht nur getötet, sondern bestialisch
abgeschlachtet wird. Denn Angela war am Morgen nach ihrer Hochzeitsnacht von
ihrem Gatten Bayardo San Roman zur Familie
zurückgebracht worden, weil sie nicht mehr unschuldig war; ohne weiteren
Beweis nannte sie Santiago als "Täter", was genügte, um bei
ihren Brüdern die "Mannespflicht"
in dieser "Ehrensache" in Gang zu setzen. [48] Erzählt wird das alles von einem Freund
Santiagos, der selbst die Tat nicht gesehen hat und sie aus Akten und
Aussagen rekonstruiert. Obwohl der Erzählfluß durch
Vor- und Rückverweise ständig unterbrochen und eigentlich auch keine gerade
Linie in der erzählten Zeit eingehalten wird, bleibt doch die Chronologie des
Ablaufs vom ersten Satz - "An dem Tag, an dem sie Santiago Nasar töten wollten, stand er um fünf Uhr dreißig morgens
auf" - bis zum letzten - "und fiel in der Küche [tot] aufs
Gesicht" - erhalten. Der "Chronist" tritt trotz seinen
Kommentaren und Gedanken hinter das
Ereignis zurück; eigentlicher Gegenstand der Erzählung ist allerdings weniger
der Mord, als die Frage, warum er passieren mußte;
denn fast jeder Dorfbewohner behauptet, daß er
(oder sie) "es" eigentlich hätte verhindern wollen.
Die von Stil und Konstruktion her sehr raffinierte
"Chronik" bereitet bei der Hauslektüre den Schülern wenig Schwierigkeiten. Trotzdem die dauernden
Perspektivwechsel die Leseridentifikation
mit einer Person erschweren, wird der Text überwiegend mit
"spannend" und: "man kann sich hineindenken" und:
"man hofft, daß doch kein Mord passiert"
beurteilt. Die von Márquez gewählte Gattungsbezeichnung "Chronik"
knüpft an die früheste lateinamerikanische Literaturtradition an, jene
Erobererberichte, die "Chroniken"
sein wollen, aber in den staunenerregenden
Abenteuern, die sie zu berichten hatten, eher
den Ritterromanen gleichen, durch die ihre Autoren - biedere Soldaten
und Priester - literarisch sozialisiert worden sind. [49] Die stilistische Raffinesse von Márquez
besteht vor allem in der Erzählstruktur, die im unruhigen
Perspektivwechsel mit Schnitt und
Gegenschnitt geradezu filmisch arbeitet. Der Vergleich mit filmischen
Sehgewohnheiten wurde von den Schülern zwanglos assoziiert und bestätigt Márquez' Modernität: er löst ein, was Alfred
Döblin schon 1928 als das Eindringen des Kinos in die Literatur konstatierte.
[50]
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[51] Márquez, Chronik, S. 23
[52] Márquez , Chronik, S. 52
[53] Márquez , Chronik, S. 51
[54] Márquez , Das Thema ist das Schicksal..., in: Koenigs, Mythos, S. 232
[55] Márquez, Das Thema..., S. 232
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Methodisch nähert man sich dem Roman am besten durch
eine Leitfrage, die aus den Leseerfahrungen und
ersten Deutungshypothesen der Schüler gewonnen werden kann. Das kann etwa die
Klärung der moralischen Vorstellungen sein, denen die einzelnen Personen
folgen oder die ganz handlungsorientierte Frage, wer denn nun (und aus
welchen Gründen) Santiago Nasar gewarnt - oder
nicht gewarnt - habe. In jedem Fall kann mit solchen Fragen, die als Einzel-
oder Gruppenarbeiten am Text geklärt werden müssen, Übersicht in die Fülle
der ca. 40 Personen des Romans gebracht werden. - Wenn man sich auf die
Handlung konzentriert, nachvollzieht, was der Erzähler über das Verhalten der
Dorfbewohner quasi detektivisch recherchiert, dann ist das Ergebnis der
Überprüfung, daß die meisten Bewohner nichts getan, dafür aber
eine breite Variation von Ausreden haben:
"Niemand stellte überhaupt die Frage, ob Santiago Nasar gewarnt worden war, weil es allen unmöglich
erschien, daß es nicht der Fall sein könnte."
[51]
Genau besehen läuft alles auf eine Entschuldigung der
eigenen Nicht-Aktivität hinaus. Dies ist um so
grotesker, als die beiden Mörder, die durch die in ihrer Mutter
personifizierte Familienehre getrieben werden, "alles Erdenkliche"
taten, "damit jemand sie von ihrer Tat abhielt". [52] Je genauer man den Text untersucht, desto
mehr stellt sich heraus, daß es zwar Opfer und
Täter gibt, aber eigentlich keinen Schuldigen: "Wir haben ihn mit
Absicht getötet, aber wir sind unschuldig", [53] sagt einer der Mörder. Mit dieser paradoxen
Selbstdeutung treibt Márquez natürlich
auf die Spitze, was für ihn die wichtigste Aussage des Textes ist:
"Alles war vermeidbar, und der soziale Verhaltenskodex, nicht das
Schicksal, war der Grund dafür, daß es nicht
verhindert werden konnte." [54]
Márquez wollte ein "Drama ... der kollektiven Verantwortung"
schreiben:
"Die 'Chronik eines angekündigten Todes' geht auf
eine wirkliche Begebenheit zurück, die sich in Kolumbien 1950 genau so
zugetragen hat, wie es in dem Buch erzählt ist [...] Meine Arbeit bestand
darin, die fast unendliche Reihe winziger und miteinander verketteter
Berührungspunkte zu entdecken und ans Licht zu bringen, die in einer
Gesellschaft wie der unsrigen dieses absurde Verbrechen ermöglicht
haben." [55]
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[56] Márquez , Das Thema..., S. 232. - Vgl. Rossana Rossanda "Das Thema ist die Verantwortung" und
Márquez' Antwort darauf in: Koenigs, Mythos, S. 227 ff.; außerdem: D.E.
Zimmer: Autopsie an Frau Ananke. In: DIE ZEIT, Nr.43, 16.10.1981
|
Márquez stellt das Verhalten der Dorfbewohner als
gesteuert von gesellschaftlichen Mechanismen dar; es sind moralische Vorstellungen
von männlicher und weiblicher Ehre, die sich zu einer Mentalität
zusammenfügen, in der die gesellschaftliche Rolle mehr das Verhalten bestimmt
als der eigene Wille. Indem Márquez
dies herausarbeitet, distanziert er sich auch von Deutungen, die in dem
scheinbar zwanghaften Ablauf so etwas wie die Verpflanzung der antiken
Schicksalstragödie nach Lateinamerika sehen:
"dies ist kein Drama des Schicksals, sondern der
Verantwortung. Ich glaube sogar, das Buch endet damit, daß
der Mythos des Schicksals unglaubwürdig wird, weil es nämlich Stück für Stück
dessen grundsätzliche Bestandteile auseinandernimmt und zeigt, daß wir selbst die alleinigen Herren unseres Geschickes
sind." [56]
Die Schüler haben meist keine Schwierigkeiten, die
gesellschaftskritische Intention des Romans relativ klar und handfest zu
beschreiben:
"Márquez verkleidet seine gesellschaftskritischen
Meinungen mit Hilfe eines recht spannenden Kriminalfalles, um somit alle
Teile der Bevölkerung zu erreichen und sie zum Nachdenken zu animieren."
(Dirk M.) - "Vielleicht wollte der Schriftsteller die Gesellschaft so
darstellen, daß sich jeder nur um seine eigenen
Interessen kümmert und keinerlei für den Mitmenschen unternimmt. Was ja auch
oft in unserer Gesellschaft zu sehen ist." (Helga E.)
Das Handeln der Personen wird an unseren
geschlechtsrollenspezifischen Normen gemessen
und damit - was nicht verwundern kann - eurozentrisch bewertet. gerade dies kann
aber der Ausgangspunkt sein, an einer anderen Mentalität sich über die eigene
klar zu werden oder zumindest das Vorhandensein unterschiedlicher
Mentalitäten zu akzeptieren. Zunächst fällt den Schülern die andersartige
Rolle der Frau auf, die Passivität, zu der sie verurteilt scheinen:
"In der heutigen Zeit ist die Frau dem Mann in den
westlichen Ländern weitgehend gleichberechtigt (ob zum Vorteil, sei
dahingestellt) und Frauen können gewissermaßen all das tun, was der Mann
schon immer durfte. Diese Veränderungen gesellschaftlicher Ordnung sind in
dörflichen Gegenden wohl noch nicht ganz durchgekommen. Viele halten an
Tradition und religiösen Vorstellungen fest, was dem Prozeß
der Gesellschaftsentwicklung hemmend entgegenwirkt. Márquez versucht also,
auf diese Mißstände aufmerksam zu machen und die
anderen Leute aufzurütteln." (Marc T.)
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[57] Márquez ,Das Thema, S. 234 f.
[58] Márquez, Chronik, S. 33 f.
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Gegenüber diesem äußerlich anderen Verhalten wird bei
genauerem Lesen allerdings klar, daß es ja eine
Frau ist, nämlich Pura Vicario, die Mutter Angelas,
die ihre Söhne zum Mord antreibt.
Márquez hat außerdem eigens eine Frauenfigur erfunden, Clotilde Armenta, die als
Gegenspielerin des "sozialen Verhaltenskodex" wirken soll:
"Die Figur Clotilde Armenta, die es in
Wirklichkeit nicht gab, habe ich erfunden, weil sie mir als Erwiderung auf
die Mutter Angela Vicarios notwendig schien. Ich entwickelte sie Schritt für
Schritt beim Schreiben, und bei jedem Schritt machte ich mir klar, daß das einzige, was sie tun konnte, um das Verbrechen zu
verhindern, darin bestand, andere um Hilfe zu bitten, und zwar fast immer
Männer. Das galt nicht nur für die Erzählung, sondern auch für die wirklichen
sozialen Bedingungen des Dorfes. Auf dem Höhepunkt des Dramas mußte ich selbst wie durch Erleuchtung entdecken, worin Clotilde Armentas Ohnmacht, das
Verbrechen zu verhindern, ihre Wurzeln hat, und ich ließ sie ausrufen:
"Mein Gott, wie einsam sind wir Frauen in der Welt!" Erst damals
wurde ich mir dessen bewußt, aber dabei wurde mir
klar, daß ich es eigentlich seit langen Jahren wußte, ohne es mir selbst erklären zu können." [57]
In dem Ausruf der Clotilde - "wie einsam sind wir Frauen in der
Welt" - wird nicht nur die
Unterdrückung des weiblichen
Geschlechts, seine Abhängigkeit und Hilflosigkeit formuliert, sondern auch
mit dem Motiv der "soledad", der
"Einsamkeit" eines der ganz zentralen Motive lateinamerikanischer
Literatur aufgegriffen.
An der Figur der Clotilde Armenta wird die Interpretation der deutschen Schüler
insofern irritiert, als hier die gerade Linie der Gesellschaftskritik
durchbrochen scheint.
"Man hat den Eindruck, daß
Clotilde Armenta jede
Schuld von sich weist, da sie versuchte, das Verbrechen zu verhindern. Sie
selbst ist nur eine Frau und kann dieses nicht verhindern. Ich denke, daß dies sehr wohl gesellschaftskritisch ist, weil eine
Frau genau die gleiche Möglichkeit und Macht hat, so ein Verbrechen zu
verhindern." (Tanja S.)
Das eigene Deutungsmuster wird zwar aufrechterhalten -
Frauen haben die gleichen Möglichkeiten - , doch
spricht dagegen im Roman die Erfahrung der Clotilde
Armenta, daß diese
Möglichkeiten an einer Realität scheitern, die durch den "machismo" bestimmt wird.
Dieser "machismo",
der Männlichkeitswahn, gibt als einzige Richtschnur männlichen Verhaltens
sexuellen Erfolg vor. Basis ist eine Gesellschaft, in der die
Geschlechtsrollen verfestigt und betont gelebt werden:
"Die Brüder wurden erzogen, um Männer zu werden.
Die Mädchen waren ausgebildet worden, um zu heiraten." [58]
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[59] Márquez , Das Thema ..., S. 234
[60] Márquez , Chronik, S. 64
[61] Márquez, Chronik, S. 101, 84
[62] Darcy Ribeiro: Gilberto
Freyre. Eine Einführung zu 'Casa Grande e Senzala'.
- In: Darcy Ribeiro:
Unterentwicklung (Anm.4), S. 141-145. Freyres Buch
erschien 1933.
[63] Márquez, Chronik, S. 41
[64] Werner Schiffauer: Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem
türkisch-deutschen Sexualkonflikt. Frankfurt/M 1983 (suhrkamp
taschenbuch 894), S. 65-89; vgl. auch: Ute Frevert: Ehrenmänner.
Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft,. München 1990
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Allerdings ist
Márquez der "Überzeugung, daß dieser 'machismo' ein
Produkt matriarchalischer Gesellschaften ist." [59] Aktiv befördern das "männliche"
Verhalten im Roman denn ja auch vor allem die Frauen: die Mutter der
verstoßenen Braut wie auch die Verlobte des einen Mörders, die bekräftigt, daß sie diesen "nie geheiratet" hätte, wenn er
nicht seine "Mannespflicht" erfüllt hätte. [60] Die Mörder selbst wirken demgegenüber sehr
passiv (bis auf jene letzten,
schrecklichen Minuten). Dem entspricht, daß auch
die beiden Männer, der "Verführer" und der Ehemann, die sonst als ausgesprochene "machos" auftreten, letztlich durch Passivität
gekennzeichnet sind. Santiago Nasar, der (angebliche)
Verführer, behält bis zum Schluß "die
Ratlosigkeit der Unschuld" und Bayardo San
Roman, der gekränkte Ehemann, gilt auch im Dorf allgemein als
"Opfer".[61] Das Bild von der Passivität des "macho" läßt sich
bestätigen durch jenes Porträt, das Gilberto Freyre von dem typischen
Vertreter der brasilianischen
Landaristokratie zeichnet: auch er ist vor allem "lau, schlaff, langsam,
geruhsam [...] bis auf die Sexualfunktion". [62]
Nun ist die Dominanz des sexuellen Erfolgsstrebens aber
kein Selbstwert innerhalb dieser Gesellschaft. Wenn Santiago Nasar der Tochter seiner Köchin nachstellt, so ist das
weniger sinnliche Begierde als selbstverständliche Inbesitznahme eines
(sozusagen) lebenden Inventars (wie ja denn schon sein Vater dies Herrenrecht
an der Mutter des Mädchens ausübte). Auch Bayardo
San Roman wirbt ja nicht eigentlich um die zwar schöne, aber "geistig
arme" Angela: er will ihre Familie und das übrige Dorf beeindrucken,
"sein Glück mit dem ungewöhnlichen Gewicht seiner Macht und seines Vermögens"
erkaufen. [63] Mit einer rein
psychologischen Herangehensweise kann diese Dimension des Romans nicht
erkannt werden.
Während deutsche Schülerinnen und Schüler sich einfach
nur wundern oder es mit der "Zurückgebliebenenheit"
der Verhältnisse entschuldigen, daß so etwas wie die "Ehre" der Jungfernschaft
solch eine Tragik auslöst, können Schülerinnen aus einem anderen Kulturkreis
- in diesem Fall aus der Türkei - sich sehr viel genauer auf diesen
Konflikt einlassen. So etwas wie die
"Wiederherstellung einer Ehre" - bis zum Totschlag - gehört
durchaus zu der Wertewelt, in die sie hineinwachsen. Die Lösung eines
Ehekonflikts durch eine, womöglich beidseitig einverständige Scheidung, wie
sie zum Erfahrungsfeld deutscher Schülerinnen und Schüler gehört, ist im
Rahmen traditionaler Gesellschaftsstrukturen unmöglich. Denn hier kommt es
nicht auf die subjektiven Absichten und Gefühle an, sondern auf die
Handlungen als solche. Handlungen drücken das aus, was sie sind. Es gibt kein
Handeln als Symbol für etwas, wie einen Wert oder einen psychischen Komplex,
sondern die Handlung ist dieser Wert. Wenn die Ehre zerstört wurde, ist ihre
Wiederherstellung und die Tötung des Verursachers ein- und dasselbe. Eine
türkische Schülerin arbeitete sehr
klar heraus, daß die Werbung des Bayardo San Roman um Angela Vicario vor allem ein
Machtkampf vor der Dorföffentlichkeit ist:
"Er feiert ein Fest, an dem das ganze Dorf
teilnimmt. Das verschwenderische Fest soll seine Macht beweisen. Seine Frau,
die soll nur ihm gehören und unberührt sein. Enttäuscht schickt er seine
Braut zurück, weil seine Macht in Verruf kommen könnte." (Gülnaz P.)
In der Diskussion bestätigten türkische Schülerinnen das
Weiterwirken solch traditionaler Gesellschaftsstrukturen, in denen Heirat
ein Gabentausch zwischen Familien zwecks engerer Verbindung ist. Die
"Ungültigkeit" solch einer Gabe würde mehr erschüttern als nur das
Vertrauensverhältnis zwischen zwei Einzelpersonen. An einem Text, der einen
realen Fall von (nach unseren
Begriffen) Gewaltkriminalität zwischen Türken und Deutschen aus
Frankfurt/M analysiert, konnte der "Fall" aus der Karibik insofern
erläutert werden, daß Ähnlichkeiten des Verhaltens
nach Normen traditionaler Gesellschaften herausgearbeitet wurden. [64] Die Unterrichtsdiskussion führte hier auf
den Unterschied der Wertsystem und damit auf die Andersartigkeit von
Gesellschaften: während "Ehre" in unserer modernen, tendenziell
egalitären Industriegsellschaft nur noch in wenigen
Fällen des "Persönichkeitsrechts"
einklagbares Rechtsgut ist, verbindet sie in traditionalen Gesellschaften
untrennbar Person und Öffentlichkeit.
Es liegt nahe, aus der Konfrontation gegensätzlicher
Wertewelten auf das Lernziel der Toleranz, der gegenseitigen Anerkennung von
Verschiedenartigkeit zuzusteuern. Das wird nicht ohne heftige moralische
Wertungen abgehen wie auch nicht ohne Aussagen zu evolutionstheoretischen
Überzeugungen. Europäisches Nützlichkeitsdenken einerseits wie aufklärerisches Bewußtsein von
einem linearen Fortschritt dürften dabei ausgesprochen und vielleicht auch
ein wenig in Zweifel gezogen werden. Ebenso bietet sich aber auch der
Vergleich solcher "ungleichzeitigen" Kulturen der Gegenwart mit den
in literarischen Zeugnissen überlieferten Kulturen der europäischen
Vergangenheit an. Da gibt es die subtilen Reflexionen des Barons Instetten in Fontanes "Effi Briest" über die
nicht mehr fraglos hingenommene "Ehre"; die sehr geradlinige
Gewinnung von "ere" durch
ritterlich-männlichen Kampf bei Hartmann von Aues
"Erec", aber auch im "Nibelungenlied"
der Triumph der Kriemhild über ihre Standesrivalin Brunhild vermittels der
stärkeren "Männlichkeit" ihres Gatten: alles Gelegenheiten,
Mentalität und ihren Wandel zum Thema zu machen.
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